Kapitel 12

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Wir kamen erst so spät zurück zum Campus, dass ich sofort todmüde in mein Bett fiel und einschlief. Dementsprechend spät wachte ich am Sonntag auf und verbrachte praktisch den Rest des Tages in unserem Zimmer, wo ich mich auf den morgigen Unterricht vorbereitete. An der Präsentation hatte ich nichts geändert, Harry hatte saubere Arbeit geleistet. Hoffentlich würde unser Vortrag morgen genauso gut ablaufen. Wann genau Harry wieder kommen würde, wusste auch Beth nicht. So langsam begann ich mich zu fragen, über was die beiden überhaupt redeten.

Am nächsten Morgen verzichtete ich auf meinen Besuch im Coffeeshop. Stattdessen ging ich meinen Text noch ein paar Mal durch und machte mich dann extra früh auf den Weg zum Hörsaal. Mit einem frühen Auftauchen von Harry konnte ich wohl kaum rechnen, doch als er zwei Minuten vor Beginn noch immer nicht im Raum war, begann ich mir Sorgen zu machen. Nach der vielen Arbeit die er offensichtlich in diese Aufgabe gesteckt hatte, würde er ja wohl kaum die Präsentation sausen lassen. Beziehungsweise mich alleine darauf sitzen lassen. Aber auch nach der Ankunft von Mr. Parker konnte ich Harry nirgendwo entdecken. Seine Abwesenheit schien auch Niall aufzufallen. "Ist Harry gar nicht da?", fragte er im Flüsterton und sah sich suchend um. "Anscheinend nicht." Ich wurde immer nervöser. Ich konnte diese Präsentation unmöglich alleine halten. Natürlich hatte ich Harrys Text gelesen, aber es war unmöglich, dass alles jetzt spontan wiederzugeben.

Zum Glück waren wir als eine der letzten Gruppen dran, weshalb ihm noch etwas Zeit blieb um doch noch zu erscheinen. Doch das tat er nicht. Und als Mr. Parker schließlich unsere Namen aufrief, blieb mir nichts anderes übrig, als alleine nach vorne zu gehen. "Wo ist denn Mr. Styles?", fragte Mr. Parker auch sofort. Ratlos zuckte ich mit den Schultern. "Ich weiß es nicht." Er runzelte die Stirn. "Sie wissen es nicht? Sie wissen aber schon, dass Sie eine gemeinsame Note bekommen?" Langsam nickte ich. Natürlich wusste ich das. Und Harry auch. Am Samstagmorgen hatte ich noch gedacht, ich hätte mich in ihm getäuscht. Anscheinend war das nicht der Fall. "Ich kann ja erst einmal meinen Teil vortragen, vielleicht kommt er in der Zwischenzeit noch.", schlug ich vor, doch Mr. Parker zuckte nur gelangweilt mit den Schultern. "Tun Sie das."

Meinen Text konnte ich zum Glück. Natürlich war ich extrem nervös, besonders weil ich komplett alleine vor dem Rest des Kurses stand. Doch in Momenten in denen die Nervosität unerträglich wurde, sah ich einfach nur zu Niall, der mir ermutigend zu lächelte und den Daumen nach oben streckte. Jedes Mal musste auch ich lächeln und fuhr mit mehr Selbstbewusstsein fort. Als ich mit meinem Teil fertig war, verstummte ich unsicher. Ich konnte zwar Harrys Teil auf der Präsentation vorführen, doch ich bezweifelte, dass das viel Sinn hatte. Also beendete ich den Vortrag und ging mit gesenktem Kopf zurück zu meinem Platz. Niall sah mir lächelnd entgegen. "Also mir hat es gefallen." Ich verdrehte die Augen und ließ mich auf meinen Sitz fallen. "Tja, nur leider fehlte die Hälfte." Niall seufzte und sein Lächeln verschwand. "Aber das ist ja nicht deine Schuld." - "Trotzdem hat es Auswirkungen auf meine Note.", murmelte ich und kämpfte gegen die Tränen an, die sich jetzt in meinen Augen bildeten. Nicht weil meine erste Note an der Uni vermutlich alles andere als gut ausfallen würde, nein. Es waren Tränen der Wut. Wut auf Harry. Was fiel ihm ein, mich einfach so sitzen zu lassen? Selbst wenn er mich aus irgendeinem Grund abgrundtief hasste, gab ihm das noch lange nicht das Recht sich so zu verhalten. "Hey, das wird schon wieder.", flüsterte Niall und drückte meine Hand. Mit einem schwachen Lächeln sah ich zu ihm hinüber. "Danke."

Natürlich erschien Harry auch den Rest der Stunde nicht mehr, was meine Wut auf ihn nicht gerade verringerte. Die Zeit bis zur Mittagspause verbrachte ich größtenteils schweigend. Niall und Louis versuchten zwar permanent mich aufzuheitern, was beiden aber nicht wirklich gelang. Gegenüber Beth versuchte ich mich einigermaßen normal zu verhalten. Sie wusste noch immer nicht, dass wir überhaupt zusammen hatten arbeiten müssen. Als die anderen in der Mittagspause zur Mensa gingen, entschuldigte ich mich mit der Ausrede, ich müsste noch etwas aus meinem Zimmer holen. In Wahrheit machte ich mich mit schnellen Schritten auf den Weg zu Harrys Zimmer. Ich wusste nicht ob er überhaupt schon wieder an der Uni war. Aber vermutlich hatte er heute Morgen einfach nur verschlafen und war deshalb nicht erschienen. Mit entsprechender Lautstärke hämmerte ich kurz darauf an seine Tür. Erhielt jedoch keine Antwort. Ohne lange zu Zögern drückte ich die Klinke herunter. Auch dieses Mal war die Tür nicht verschlossen. Und auch dieses Mal war das Zimmer leer. Rastlos lief ich zwischen Bett und Sofa hin und her.  Wo konnte Harry sonst sein? Seine Tasche stand auf dem Bett, weshalb er offensichtlich irgendwo auf dem Campus war. Nur eben nicht in seinem Zimmer. Mitten in meinen Überlegungen, öffnete sich auf einmal die Tür. Erschrocken zuckte ich zusammen, beruhigte mich jedoch relativ schnell wieder. Harry wirkte nicht sonderlich überrascht, als er mich sah. "Hey", murmelte er und ging an mir vorbei zu seinem Schreibtisch. Für einen kurzen Moment blieb ich regungslos stehen. 'Hey'? Langsam drehte ich mich zu ihm um. "Hey? Das ist alles was du zu sagen hast?" Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Harry mich an. "Ja, ich denke schon." - "Wo verdammt nochmal warst du?" Kopfschüttelnd griff er nach einem Buch und steckte es in seine Tasche. "Das geht dich wohl kaum etwas an." Entgeistert schnaubte ich. "Oh doch, das tut es! Anscheinend sind dir deine Noten wirklich egal, aber mir meine nicht. Und das weißt du auch! Und trotzdem hast du mich heute morgen in Literatur alleine gelassen. Also: wo warst du?" Harry ließ sich seufzend auf sein Sofa fallen. "Ich glaube kaum, dass es für deine Note relevant ist, wo ich gewesen bin." Kopfschüttelnd sah ich ihn an. "Weißt du, am Freitagabend war ich echt überrascht von dir. Für einen kurzen Moment dachte ich, du hättest tatsächlich etwas menschliches an dir. Aber ganz offensichtlich hab ich mich da getäuscht." Zu meiner Überraschung nickte er. "Sieht ganz so aus." Ohne ein weiteres Wort verließ ich sein Zimmer. Nur eine Sekunde länger in diesem Raum und ich wäre vermutlich auf Harry losgegangen. Was bildete der Kerl sich ein? Es war mir völlig egal, ob er gleich im ersten Semester durchfiel. Aber ich hatte ein klares Ziel vor Augen. Und Harry war die letzte Person, die mich von diesem Ziel abbringen konnte.

Das einzig positive an meinem Gespräch mit Harry war, dass ich mich einigermaßen abgeregt hatte. An meiner Note konnte ich jetzt sowieso nicht mehr ändern, dafür wusste er jetzt wenigstens, dass ich so etwas nicht einfach mit mir machen ließ. Dementsprechend gelang es mir relativ gut, mich den Rest des Tages auf den Unterricht zu konzentrieren. Harry lief ich kein weiteres Mal über den Weg, allerdings verbrachte Beth den Abend bei ihm. So hatte ich das Zimmer für mich alleine, konnte meine Ruhe jedoch kaum ausnutzen, da ich mir ununterbrochen ausmalte, was Harry Beth erzählen könnte. Doch gleichzeitig war ich mir ziemlich sicher, dass er weder Freitagabend, noch die darauffolgende Nacht erwähnen würde. Sonderlich lange blieb Beth sowieso nicht weg. Ich lag zwar bereits in meinem Bett als sie zurück kam, war jedoch noch hellwach. "Und, wie war sein Wochenende?", fragte ich mit gespieltem Desinteresse. Beth zuckte mit den Schultern und setzte sich auf ihr Bett. "Keine Ahnung, er war auf jeden Fall ziemlich mies gelaunt." Und wieder einmal fragte ich mich, was das für eine Beziehung war. Anscheinend redeten die beiden überhaupt nicht miteinander. "Hm, komisch.", murmelte ich und sah an die Decke. Wir redeten noch kurz über dies und das, bevor die Müdigkeit mich langsam aber stetig übermannte.

Auch am nächsten Morgen ging ich ohne Umwege direkt zum Hörsaal. Ich hatte fest vor noch einmal mit Mr. Parker zu sprechen und ihm die ganze Situation zu schildern. Wieder einmal war ich die erste im Raum, doch es dauerte nicht lange bis einige weitere Studenten mir Gesellschaft leisteten und auch Mr. Parker ließ nicht lange auf sich warten. "Ahh, Miss Steward", murmelte er, als ich auf ihn zu ging. "Guten Morgen, Mr. Parker. Ich weiß, Sie haben bereits gesagt, dass wir alle jeweils eine gemeinsame Note für die Arbeit bekommen, aber- " Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. "Machen Sie sich mal keine Sorgen, Miss Steward. Mr. Styles war gestern bei mir und hat mir alles erklärt." Entgeistert sah ich ihn an. "Er hat was getan?" - "Er hat mir erklärt, dass es alles sein Fehler war, und hat darauf bestanden, dass Ihre Note nicht von seiner Abwesenheit während der Präsentation beeinträchtigt wird. Außerdem hat er mir seinen Teil der Aufgabe in schriftlicher Form abgegeben und ich muss sagen, Sie beide haben exzellente Arbeit geleistet!" - "D-Dankeschön", stammelte ich und drehte mich um. Doch dann kam mir ein weiterer Gedanke. "Mr. Parker? Wann genau hat er mit Ihnen gesprochen?"; fragte ich neugierig. Er antwortete ohne zu Zögern: "Etwa fünf Minuten nachdem die Stunde vorbei war." Langsam ging ich zurück zu meinem Platz. Harry war also bereits vor unserem gestrigen Gespräch bei Mr. Parker gewesen. Und trotzdem hatte er sich nicht gegen meine Vorwürfe gewehrt. Wie in Trance ließ ich mich auf meinen Sitz fallen. Vermutlich würde ich Harrys Verhalten niemals verstehen.

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