Kapitel 16

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Schweigend gingen wir zum Auto. Innerhalb von nur einer halben Stunde hatte ich mehr über ihn erfahren, als ich jemals erwartet hätte. Vermutlich wusste ich mittlerweile tatsächlich mehr über ihn als Beth. Was wiederum dafür sorgte, dass zahlreiche neue Fragen in meinen Kopf strömten. Doch erst als wie im Auto saßen, stellte ich die erste. "An meinem ersten Tag an der Uni... da hab ich mit Beth über dich gesprochen. Zwar nicht wirklich viel und ich wusste auch noch nicht, dass es um dich geht, aber sie meinte, dass du ein Einzelzimmer hättest, weil deine Eltern ziemlich reich sind." Ich verstummte, um seine Reaktion abzuwarten. "Meine Eltern... hatten viel Geld. Das gehört jetzt mir. Und Lucy." - "Aber... so hat sie es ja nicht formuliert. Harry... weiß Beth, dass deine Eltern nicht mehr am Leben sind?" Er antwortete nicht, doch nach einer Weile schüttelte er den Kopf. "Oh", war alles, was ich erwidern konnte. "Wer von deinen Freundin weiß davon?" Ich wusste nicht, ob er noch andere Freunde außerhalb der Uni hatte, aber ausschließen konnte man es nicht. "Zayn.", antwortete Harry. Das machte Sinn. Immerhin hatten die beiden für einige Zeit zusammen gewohnt. "Aber wie kann es sein, dass deine Freundin nichts darüber weiß?" Er zuckte nur mit den Schultern. "Wie lange seid ihr überhaupt schon zusammen? Und wo habt ihr euch kennengelernt?" Harry seufzte und sah dabei stur auf die Fahrbahn. "Ein halbes Jahr schätze ich.", murmelte er irgendwann. Meine andere Frage ignorierte er. "Und wieso hast du es ihr nicht erzählt?", fragte ich stattdessen. Erneut zuckte Harry mit den Achseln. "Hat sich nie so ergeben." Entgeistert starrte ich ihn an. "Es hat sich nie so ergeben? Du kannst mir nicht erzählen, dass du innerhalb eines halben Jahres kein einziges Mal die Gelegenheit hattest ihr zu erzählen, dass deine Eltern tot sind! Das ist absoluter Schwachsinn." Ich sah, wie sich seine Hände am Lenkrad verkrampften. "Es ist nicht gerade einfach, über so etwas zu sprechen, glaub mir." Die Kälte und Unfreundlichkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. "Tut mir leid. So war das nicht gemeint.", flüsterte ich und sah aus dem Fenster. Dabei fiel mir auf, dass wir schon fast wieder bei ihm Zuhause waren. Harry sagte kein Wort und wenig später kam der Wagen vor dem Haus zum stehen. Schweigend stieg ich aus und ging auf die Haustür zu. Es sah ganz so aus, als sei der verschlossene, unfreundliche Harry wieder zurück gekehrt.  Doch schon nachdem ich die Hälfte des Weges zurück gelegt hatte, war er an meiner Seite. "Ich... ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast.", murmelte er und stellte sich vor mich, sodass ich nicht weitergehen konnte. "Bitte sei nicht sauer." Überrascht hob ich die Augenbrauen. "Weshalb sollte ich sauer auf dich sein?" - "Weil ich so... unfreundlich war.", entgegnete er und sah zu Boden. "Harry... du warst bis vor ein paar Tagen immer unfreundlich zu mir. Ich bin es also gewöhnt." Er runzelte die Stirn. "Ich schätze ich bin einfach kein freundlicher Mensch." Seufzend schüttelte ich den Kopf. "Lächel einfach ein bisschen öfter, dann sieht das schon gar anders aus." Er verdrehte die Augen, doch zu meiner Überraschung hoben seine Mundwinkel sich tatsächlich. "Genau das meinte ich!" 

 Kaum hatten wir das Haus betreten, kam Lucy schon auf uns zugelaufen. Doch anstatt wie erwartet wieder zuerst Harry zu begrüßen, ignorierte sie ihn komplett und griff stattdessen nach meiner Hand. "Komm Lizzy, ich hab für dich gekocht!" Ich warf einen hilflosen Blick in Harrys Richtung, während Lucy mich von ihm weg zog. Er folgte uns, weiterhin mit einem Lächeln auf den Lippen. 

Die Küche war wie zu erwarten noch größer als die Eingangshalle. Doch trotz der hohen Decken wirkte sie gemütlich, sodass ich mich direkt wohlfühlte. Joana stand am Herd, vor ihr mehrere Töpfe und Pfannen. Es roch verführerisch gut. "Du kannst dich schon hinsetzen, dein Essen kommt gleich.", sagte Lucy und schob mich zu dem bereits gedeckten Tisch. Gerade als Harry sich ebenfalls setzten wollte, schüttelte seine Schwester den Kopf. "Nein Harry, frag Lizzy was sie trinken möchte! Sie ist unser Gast." Er verdrehte die Augen, sah mich jedoch amüsiert an. "Was möchtest du trinken?" - "Einfach nur Wasser reicht.", erwiderte ich grinsend. Harry nickte und stellte kurz darauf ein volles Wasserglas vor mir auf den Tisch. Ich bedankte mich und trank einen Schluck. Nur wenige Minuten später, brachte Joana das Essen zum Tisch. "So Lizzy, nimm dir einfach was immer du möchtest.", sagte sie lächelnd und zeigte auf die Töpfe. Obwohl ich nicht den größten Hunger hatte, nahm ich mir aus jedem Topf mindestens eine Kleinigkeit. Nachdem ich den ersten Bissen genommen hatte, wurde mir klar, dass das ganze noch besser schmeckte, als es roch. Gespannt sah Lucy mich an. "Und, gefällt es dir?" Lächelnd nickte ich. "Es schmeckt fantastisch!", lobte ich sie. Mit einem zufriedenen Lächeln widmete sie sich ihrem eigenen Teller. 

"Wo kommst du denn eigentlich her?", fragte Joana nach einer Weile. "Aus Surrey... also eher südlich von London." Sie nickte. "Ein wunderschöner kleiner Ort!" - "Ja, aber manchmal etwas einsam.", entgegnete ich lächelnd. "Das mag sein. Wohnen deine Eltern noch immer dort?" Zögernd nickte ich. "Meine Mutter." Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Harrys Kopf in die Höhe schoss. Doch ich sah ihn nicht an. "Dein Vater nicht?", fragte Joana verwundert. Ich schüttelte den Kopf. Trotz des prasselnden Feuers im Kamin hinter mir, durchlief mich auf einmal eine innere Kälte, die ich nicht wieder los wurde. Allein der Gedanke an meinen Vater führte dazu, dass sie all meine Organe auf schmerzhafte Weise zusammenzogen. "Mein Papa lebt auch nicht mehr hier...", flüsterte Lucy und spätestens jetzt hatte die Atmosphäre ihren Tiefpunkt erreicht. "Ist deiner auch im Himmel?" Drei Augenpaare lagen auf mir und ich fühlte mich unwohl, wie vermutlich nie zuvor. "Nein, er... er ist nicht im Himmel." Niemals würde ich dieses Mann mit dem Wort Himmel in Verbindung setzen. Niemals. Ich spürte, wie meine innere Kälte langsam nach außen drang. Mit zitternden Fingern legte ich mein Besteck beiseite. "Tut mir leid, ich... ich muss kurz... ich kann nicht..." Ohne den Satz zu beenden, ohne einen der drei anzusehen, schob ich meinen Stuhl zurück, stand auf und verließ den Raum. Ich wusste nicht wohin ich ging, ich kannte mich hier nicht aus. Also ließ ich mich ein paar Räume weiter einfach kraftlos auf den Boden sinken. Selten hatte mein Kopf so sehr geschmerzt wie jetzt gerade. Zitternd presste ich meine Hände an meine Schläfen und versuchte gleichmäßig zu atmen. "Lizzy?" Ich hörte wie Harry sich neben mir niederließ. Dennoch sah ich nicht auf. "Was ist los?" Es dauerte ganze zwei Minuten, bis sich meine Atmung wieder einigermaßen stabilisiert hatte. Langsam ließ ich meine Arm sinken und hob den Kopf. Harry kniete neben mir und sah mich unsicher an. "Tut mir leid", murmelte ich leise und stand auf. Harry erhob sich ebenfalls. "Was ist los?", wiederholte er seine Frage. Ich schüttelte nur den Kopf. "Ist schon okay.", versicherte ich ihm. Er hob die Augenbrauen. "So sah das gerade aber nicht aus." Ich senkte meinen Blick. "Wäre es okay, wenn ich mich schonmal hinlege? Ich bin ziemlich müde." Harry seufzte, nickte jedoch. "Klar. Ich bring dich nach oben." 

Auf dem Weg zur Treppe griff Harry nach meiner Tasche, die noch immer neben der Haustür stand. Die Treppe knarrte unter uns, was mich an mein eigenes Zuhause erinnerte. Oben angekommen, gingen wir einen Flur entlang, bis Harry eine Tür auf der rechten Seite öffnete. "Herzlich Willkommen.", murmelte er und betätigte den Lichtschalter. Im Gegensatz zu seinem Zimmer im Wohnheim, war hier deutlich zu sehen, dass dieses bewohnt war. Auf der Fensterbank standen ein paar wenige Fotos und auch an den Wänden hingen teilweise Notizen, Fotos oder Postkarten. Das Bett war breit und sah unglaublich einladend aus, doch selbstverständlich ging ich direkt zum Sofa, welches ebenfalls alles andere als ungemütlich aussah. "Nein, du... du kannst im Bett schlafen. Wenn du möchtest." Überrascht drehte ich mich um. "Und du?" Harry zuckte mit den Schultern. "Ich schlaf auf dem Sofa." Schnell schüttelte ich den Kopf. "Ich kann auch auf dem Sofa schlafen. Ist immerhin dein Bett." - "Und du bist mein Gast." Ich bezweifelte, dass ich auch nur die geringste Chance hatte, mich gegen ihn durchzusetzen. "Danke", murmelte ich und setzte mich auf die Bettkante. "Wenn du irgendetwas brauchst... eine Tür weiter ist das Bad, da sind Handtücher und all sowas. Ich geh erstmal wieder runter." - "Bitte sag den beiden, dass es mir leidtut. Also dass ich einfach so gegangen bin." Harry winkte ab. "Das verstehen die schon, mach dir keine Sorgen.", beruhigte er mich. Kurze Zeit später war ich alleine in seinem Zimmer. Gerne wäre ich aufgestanden und hätte mir die Fotos angeguckt, doch ich war schlicht und einfach viel zu müde. Ich zog mir nur schnell etwas anderes an, legte mich hin und es dauerte nicht lange, bis ich tatsächlich eingeschlafen war.  

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