Kapitel 10

276 11 1
                                    

Phoebe POV:

Langsam öffne ich erst das eine und dann auch das andere Auge. Der Lauf der Pistole ist zwar immer noch locker auf mich gerichtet, aber nicht an meinen Kopf gepresst. Zitternd hebe ich den Kopf und schaue dem Jungen in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, eine Spur von Mitleid zu erkennen. Doch nur einen kurzen Augenblick später scheine ich mir das nur eingebildet zu haben, denn sein Blick zeigt jetzt tiefsten Spott und Belustigung.

„Dachtest du echt, ich bring dich hier um?" Lachend schüttelt er den Kopf. „Ich bin vielleicht kriminell und nicht unbedingt unschuldig was Morden angeht. Aber ich bringe keine kleinen Mädchen um. Darf ich nicht mal, wir haben nämlich auch sowas wie Regeln. Und an die muss ich mich halten, selbst wenn ich nicht wollen würde." Erheitert zieht er die Augenbrauen in die Höhe und grinst.

Aber was will er denn dann machen, wenn er nicht vor hat mich laufen zu lassen? Oder darf ich doch gehen? Anscheinend sieht er mir an, dass ich in diesem Moment ziemlich verwirrt bin, denn er holt Luft, um meine unausgesprochene Frage zu beantworten: „Nein, ich lasse dich nicht gehen. Ich kann nicht riskieren, dass du es jetzt wirklich jemandem erzählst. Ich war kurz davor, darauf zu vertrauen, dass du deine Klappe hältst, aber du hast mir das Gegenteil bewiesen."

Während er spricht, kommt er mir langsam näher und lässt die Waffe in seiner Hand kreisen. Als der fragende Ausdruck immer noch nicht aus meinem Gesicht weicht, seufzt er kaum hörbar und tritt noch näher an mich heran. „Da ich dich nicht gehen lassen kann und dich auch nicht umbringe, muss ich dich wohl mitnehmen. Ich würde vorschlagen, dass du freiwillig mitkommst, denn sonst..."

Den Rest des Satzes höre ich nicht mehr. Plötzlich wirkt alles um mich herum unscharf und die Stimme des Jungen wird zu einem leisen, undeutlichen Rauschen im Hintergrund, während ich keuchend meine Hände in die Wand kralle, um auf den Beinen zu bleiben. Meine Knie scheinen nicht mehr existent zu sein und alles verläuft wie in Zeitlupe. Ich soll wieder mit. Zurück in dieses Haus, zu meinem Entführer und den anderen, von denen er dauernd spricht. Dieses Mal ohne eine Chance, da wieder raus zu kommen. Denn hätte er vor, mich wieder gehen zu lassen, dann würde er sich jetzt nicht die Mühe machen, mich mitzunehmen.

Tränen steigen mir in die Augen, als ich an Mina denke. An Ethan, Lucy, Ally. Ich werde sie nie wieder sehen und kann mich nicht mal mehr verabschieden. Sie werden nach mir suchen, erfolglos. Wahrscheinlich werden sie auch die Polizei einschalten, doch was soll das bringen? Wenn in unserer Gegend jemand verschwindet, dann für immer. Ich kann nicht mit gehen, ich muss mich um Mina kümmern. Sie hat schon unsere Eltern verloren, ich kann sie nicht alleine lassen, das geht einfach nicht! Mr Wilson ist sie doch komplett egal, er wird ja nicht einmal bemerken, dass ich nicht mehr nach Hause komme. Und meine Kleine wird zuhause sitzen und auf mich warten. Sie kann doch noch nicht einmal die Uhr richtig, wie lange wird es dauern, bis sie realisiert, dass ich nicht nach Hause komme?

Wie oft werden mich die anderen anrufen, was werden sie denken, wenn ich nicht reagiere? Aber wie soll ich hier weg kommen? Er hat eine Waffe und ich zweifle nicht daran, dass er sie auch benutzt. Entschlossen balle ich die Fäuste. Egal was er macht, schlimmer kann es nicht werden. Ich hole tief Luft und spanne hoffentlich unbemerkt mein Bein an, bevor ich meinem Gegenüber damit so fest ich kann zwischen die Beine trete. Im dem Moment, in dem er die Waffe fallen lässt, um beide Hände auf die getroffene Stelle zu halten, stoße ich mich ab und hetze los.

Hoffentlich hält ihn das kurz auf, hoffentlich... „Bleib stehen."

Der eiskalte Ton seiner Stimme lässt mich erstarren. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass die Pistole nun wieder direkt auf mich gerichtet ist und der Junge sich nichts mehr von seinen Schmerzen anmerken lässt. Mit einigen großen Schritten ist er viel zu schnell bei mir und drückt mir die Waffe schmerzhaft in den Rücken, wodurch ich ein kurzes Wimmern ausstoße.

„Bleib stehen. Versuchst du noch einmal weg zu laufen, schieße ich. Und dann wirst du dir wünschen, dass ich dich gleich am Anfang getötet hätte. Du wirst jetzt schön brav vor mir hergehen und nichts mehr versuchen. Wir gehen direkt zu meinem Auto, du steigst ein und hältst bis dahin den Mund. Verstanden?"

Der bedrohliche Klang seiner Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken. Jeder Anflug von Belustigung, Spott oder Sarkasmus ist aus seinem jetzt todernsten Gesicht gewichen. Zitternd drehe ich mich langsam um und lasse mich von ihm in die richtige Richtung drücken. Darauf bedacht, keine falsche Bewegung zu machen, die ihn womöglich zum Abdrücken veranlassen könnte, stolpere ich angespannt vor ihm her, bis wir zu einem schwarzen Auto kommen. Immer noch hoffe ich, irgendeine Person in der Nähe zu sehen, die mir helfen könnte. Doch dieses ziemlich reiche Viertel ist nicht sehr dicht bewohnt und wie sonst auch ist die Gegend menschenleer. Sonst freue ich mich darüber immer, aber heute würde ich alles dafür geben, nicht alleine zu sein.

Wie befohlen öffne ich die Tür und setze mich auf den Beifahrersitz, den Blick starr nach vorne gerichtet. Langsam schmerzt mein Kiefer und auch die restlichen Muskeln in meinem Körper machen sich bemerkbar, da ich sie schon so lange angespannt habe. Doch verständlicherweise kann ich das in dieser Situation nicht ändern.

Der Junge setzt sich neben mich, startet den Motor und in einem halsbrecherischen Tempo entfernen wir uns mit jeder Sekunde weiter von meinem alten Haus und meinem bisherigen Leben.

__________________________
Hey :)

Und hier ist wieder ein neues Kapitel. Ich hoffe es gefällt euch! Wenn ja, lasst doch bitte ein Vote da :)


Wenn die Hoffnung zuletzt stirbt - muss ich dann vor ihr gehen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt