Kapitel 5 - Auseinandersetzungen

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Kapitel 5

Vor ein paar Minuten sah ich noch den Asphalt des Schulhofs vor mir und hing in Kopfstand-Position in der Luft. Nun spürte ich wieder festen Boden unter meinem Rücken, weich und bequem. Anscheinend lag ich auf einer federweichen Matratze, die sich, wenn ich mich nicht irren sollte, auf einem Bett befand. Gemütlich war es, auf jeden Fall! Diese ständigen, zärtlichen Berührungen machten das Ganze sogar noch angenehmer. Moment, Berührungen?! Von wem? Wer saß da bloß die ganze Zeit und fummelte in meinen Haaren herum?! Vorsichtig, öffnete ich die Augen, jedoch nur halb. Trotzdem konnte ich erkennen, wer es war!

>> Zwilling, bist du das? << Also, Ian könnte ich selbst mit geschlossenen Augen erkennen, nur, diesesmal war das gar nicht so einfach. Vielleicht waren wir ja viel zu lange getrennt gewesen. Dass wir getrennt voneinander leben mussten, kam daher, da unsere Eltern nun geschieden waren nach zwölf Jahren Ehe...und jep, vor genau zwei Jahren hatten sie sich scheiden lassen. Seitdem wohnte Ian bei meinem Dad und ich hier bei meiner Mum. Mein Dad wohnte danach vierzig Kilometer weiter weg von meiner Mum und somit auch Ian, was hieß, dass er auf eine ganz andere Schule ging.... (Deswegen beneidete ich ihn oft). Auf jeden Fall war diese Trennung sehr schwer für uns beide und wir fingen an uns immer öfter aus dem Weg zu gehen. Sehen, konnte ich ihn nur jedes zweite Wochenende, deswegen wurde er mir immer fremder.

Es freute mich wirklich sehr ,dass er gekommen war. Als er meine Stimme hörte, staunte er und brach abrupt das Rumfummeln in meinen Haaren ab.

>> Kevin?! << Er sah mir in die Augen. >> Du bist wach! <<

>> Bist du jetzt überrascht? << Meine Stimme war so angeschlagen, wie bei einer Erkältung und ich konnte immernoch die Schmerzen in meinem Rachen spüren, die Hitze und Durst verursacht hatten.

>> Warte, trink lieber einen Schluck Wasser, bevor du weiterredest - oder auch mehrere. << Tatsächlich konnte er mir meine Wünsche immernoch von der Seele lesen. Er reichte mir ein Glas Wasser, dass sich neben mir auf dem Tisch befand, und ich begann sofort, gierig, große Schlücke zu trinken. Während ich immer weitertrank und mir erneut welches eingoss, berichtete er mir, warum er gekommen war.

>> Als deine Mum bei uns angerufen hat und uns erzählt hat, was mit dir geschehen ist, waren wir sehr besorgt, um dich. Dad hat mich danach sofort beauftragt nach dir zu sehen und ich bin sofort mit dem nächsten Zug hierhergefahren. Er selbst konnte nicht kommen, weil er schwer beschäftigt mit seiner Firma war...Na ja, jedenfalls, als ich dein Krankenzimmer betreten habe, war hier bereits jemand...<< Er brach ab. Anscheinend wollte er meine Reaktion darauf sehen. Pah! Ich konnte nur Lachen (also, ich versuchte es zumindest). >> Okay, na schön, wer war denn hier? Mum? Tante Lise? Oma? << Erneut fing ich an zu lächeln und trank anschließend noch einen Schluck Wasser.

>> Nein, es war... ein Mädchen...so in deinem beziehungsweise unserem Alter ungefähr. .<< 

In diesem Augenblick riss ich die Augen auf und war so erstaunt darüber, dass ich das komplette Wasser, welches sich vor Kurzem noch in meinem Mund befand, auf 's Bett spuckte. >> Was?! <<

Ian war, wie erstarrt. Er schwieg und es herrschte lange Stille zwischen uns, doch irgendwann schüttelte er den Kopf und fuhr fort.

>> Ja, sie hatte rote Haare, also kein knalliges rot - viel mehr ein kastanienrot. Hm, grüne Augen... oh, ihr Charakter ist wirklich schwer zu deuten. Anfangs war sie frech und vorlaut, aber irgendwann wurde sie ruhiger - zu ruhig. Ich dachte sie hätte plötzlich Angst vor mir oder so...<< Ich bedeutete ihm mit einem Handzeichen zu schweigen und er brach ab. Ja, ich war mir ziemlich sicher, wer das war. Es war die Neue aus meiner Klasse, obwohl, so neu nun auch wieder nicht...es war immerhin schon Sommer. Jedenfalls war ich sehr überrascht zu hören, dass sie hier war.

>> Bruder, ich weiß, wer das ist...<<

Zuerst hob Ian erstaunt die Augenbrauen, doch dann wurde Belustigung in seiner Miene sichtbar und er warf mir ein spöttisches Grinsen zu. >> So, also, ist das deine Freundin, hm? <<

>> Keine Freundin... << Ich blieb ernst. >> Eine Klassenkameradin. <<

Erneut hob Ian eine Augenbraue und kniff dabei die Augen zusammen. >> Du verheimlichst mir doch was... <<

Es war keine Frage, aber ich antwortete trotzdem. >> Nein, nichts. <<

>> Und, das soll ich dir jetzt glauben? Ha! << Er verdrehte die Augen. >> Warum war sie denn sonst hier, wenn sie keine Freundin von dir ist? <<

>> Ich habe ehrlich gesagt überhaupt keine Ahnung! << Mein Hals begann wieder zu schmerzen, weil ich immer lauter wurde. Ruhig bleiben, tief durchatme , redete ich mir ein.

>> Ich glaube dir immernoch nicht... <<, erwiederte Ian, verschränkte die Arme vor der Brust und wendete den Blick von mir ab.

>> Na fein! Dann glaube mir eben nicht! << Ich verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust und fügte noch etwas ruhiger hinzu: >> Ich kann nicht glauben, dass wir so auseinander gehen! Wegen jeder Kleinigkeit streiten wir uns! Wieso, kann es nicht wieder wie früher sein? Wieso kannst du nicht wieder so, wie früher sein und mir einfach vertrauen?! Ich meine, ich bin immerhin dein Zwillingsbruder! <<

Meine Worte brachten ihn zum Nachdenken und schließlich sagte er, ohne, mich anzusehen: >> Vielleicht sind wir tatsächlich unterschiedlicher, als wir es früher waren...<<

>> Was? <<

>> Ich finde, wir sollten etwas Abstand voneinander halten, um wieder zu uns zu kommen...<<

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. >> Nein, nein! Was redest du da? Wir sollten das Gegenteil machen! Mehr Zeit miteinander verbringen -  nicht weniger... <<

>> Tut mir leid, Kevin, ich sehe das leider anders. Und das ist noch ein Punkt, indem wir uns mal wieder nicht einig sind! Ach, ich kann das nicht mehr! Vielleicht sollte ich einfach gehen! <<

Ich war verzweifelt und sprachlos über seine Worte. Sie kränkten mich nur noch mehr und, deswegen beschloss ich ihn einfach gehen zu lassen.

>> Ja, vielleicht solltest du das..<<

Ohne sich von mir zu verabschieden ging er einfach und ließ mich alleine zurück. Ein Gefühl, gemischt aus Trauer, Einsamkeit und Fassungslosigkeit überwältigte mich und ich konnte spüren, wie mir eine Träne über die Wange lief.

Im Reich der TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt