3. Kapitel

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~Lian

'Lian, beruhige dich!', flehte Tyr schon regelrecht, doch ich hörte nicht auf ihn und stapfte einfach weiter durch die Gegend.

Ich war wütend – wütend auf Michael, auf Katrin, auf Liv, auf Lenja, auf mich, auf Tyr, auf meinen Vater, der vor meiner Geburt gestorben war, auf meine Mutter, die mich alleine gelassen hatte, auf den Unfall, der mich meine letzte Familie gekostet hatte und auf das Leben, welches anscheinend nur dafür da war, um mich zu bestrafen!

'Das Leben ist nicht nur dafür da, um dich zu bestrafen, Lian. Beruhige dich doch endlich.'
'Warum sollte ich das machen? Mich beruhigen? Was bringt es mir?'

Ich schrie ihn innerlich an, obwohl ich das gar nicht wollte. Ich wollte diese Wut in mir nicht. Ich konnte nicht mit ihr umgehen. Ich war schon oft wütend gewesen – auf alles Mögliche – aber noch nie war ich von solch einer Wut ergriffen gewesen, die mich dazu brachte, selbst Tyr anzuschreien.

Schon oft wurden solche Witze über mich gerissen, schon in den vorhergehenden Pflegefamilien hatte ich Gemeinheiten, Ignoranz und Intoleranz erfahren, doch noch nie war es mir so nahe gegangen wie dieses Mal.

'Lian, hör' mir doch endlich zu!'

Abrupt blieb ich stehen. Mir war es egal, was meine Mitmenschen in diesem Moment von mir dachten. Ich konnte ihre Blicke ja eh nicht sehen.

'Was!'
'Hast du eine Ahnung, wo wir uns befinden?'

Eine ganz normale Frage, über die sich normale Leute bestimmt lustig gemacht hätten, doch mir ließ sie das Blut in den Adern gefrieren.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand und das war schlecht. Verdammt schlecht. Ich hatte kein Handy, mit dem ich schnell Google Maps öffnen könnte, um mir meinen Weg zurück zu suchen, oder um schnell bei meiner Pflegefamilie anzurufen, damit sie mich abholten – was sie eh nicht machen würden. Ich wusste nicht einmal, wie spät es überhaupt war.

'Ich glaube, wir verpassen unseren Termin beim Jugendamt, Tyr', bemerkte ich trocken, was ihn stöhnen ließ.

'Lian, ich glaube, wir haben ein ernsteres Problem, als dass wir den Termin beim Jugendamt verpassen! Du weißt nicht, wie wir zurück kommen und ich auch nicht.'

'Danke, dass du mich auf unsere Misere hingewiesen hast. Ich hätte es sonst nicht bemerkt.'

'Verkneif dir deinen Sarkasmus. Die Lage ist ernst.'

'Ich weiß, dass die Lage ernst ist, Tyr. Das musst du mir nicht noch extra sagen.'

'Konzentriere dich. Was hörst du?'

Ich schluckte meine kochende Wut hinunter und folgte – widerwillig – seiner Aufforderung. Ich schloss – unnötigerweise – meine Augen, denn so konnte ich mich besser konzentrieren.

Ich hörte...nichts. Keine fahrenden Autos, keine Menschen, die durcheinander riefen und ohrenbetäubend laut waren. Ich hörte keine Musik, keine Werbespots, die normalerweise aus den geöffneten Läden zu mir drangen.

Wo war ich?

Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was ich hörte und nicht auf das, was ich nicht hörte.

Da war ein Geräusch... Es klang wie ein Rauschen...nein, ein Rascheln. Blätter, die vom Wind bewegt wurden!

Ich hörte ein Knacken – ein Ast, der brach. Vielleicht war ein Tier auf ihn getreten, weshalb er zerbrochen war. Oder er war von einem Baum abgebrochen, in die Tiefe gestürzt und dann zerbrochen, aber ein Fallgeräusch hatte ich nicht gehört.

Blindness ~ boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt