22. Kapitel

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~Cedric

Ich dachte, früher einsam gewesen zu sein, früher, als ich von meinen Eltern vor die Tür gesetzt wurde, als ich ins Hauptquartier ziehen musste. Ich hatte niemanden gehabt, der mir half – nicht mehr. Marcus hatte allen Chancen auf Hilfe die Luft aus den Segeln genommen und mich vollkommen zerstört zurückgelassen.

Doch wenn ich dachte, dass ich es damals schlimm hatte, so kam es mir jetzt vor wie ein Paradies, in dem ich im Mittelpunkt der Aufmerksam stand. In den letzten drei Wochen hatte ich gelernt, was Einsamkeit wirklich bedeutete – Abgeschiedenheit, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Trauer, Wut, die Leere, die der Verlust mit sich brachte. Diese Einsamkeit war etwas, was ich meinem schlimmsten Feind nicht wünschte.

Hatte es damit zu tun, dass ich nun wusste, was es bedeutete, geliebt zu werden, körperliche Nähe und Wärme zu spüren, früh mit meinem Gefährten aufzuwachen, ihn heimlich zu betrachten, wenn er noch schlief, mich in seinen Armen beschützt zu fühlen, am Abend mit ihm im Bett zu liegen, eng aneinandergepresst, leise redend, bis uns der Schlaf übermannte? Selbst wenn, dann würde ich diese Zeit und meine Erinnerung an sie niemals hergeben wollen, denn sie waren für die Unendlichkeit in meinem Herzen verankert. Sie waren das, was mich die letzten drei Wochen durchhalten ließen, als ich immer stärker das Gefühl bekam, aufgeben zu wollen.

Ich hatte versucht, Lian zu linken, aber er war noch zu ungeübt darin, diese Verbindung zu öffnen, dass ich es irgendwann aufgegeben hatte. Ich musste meine Kräfte schonen. Aber was ich spürte, war seine Trauer, sein Verlangen nach mir, eine starke Verbissenheit – und ungebändigte Wut.

War er wütend, dass ich versucht hatte, ihn zu schützen und ohne Kampf oder Widerstand mit Marcus mitgegangen war – dass ich ihn verlassen hatte?

Ich vertrieb diesen Gedanken schnell wieder. Wenn ich so dachte, würde es doch nicht lange dauern, bis ich mich Marcus vollkommen ergeben hatte...ich musste meinen Willen behalten, wenn ich das hier überleben wollte – für Lian, für mein Kind, welches ich unschuldig mit in den Tod reißen würde. Das hatte es nicht verdient – es sollte leben...

*

Es war gegen fünf Uhr morgens, als ich unsanft aus meinem unruhigen, leichten Schlaf gerissen wurde. Alles drehte sich um mich herum, ich konnte nichts Klares erkennen, als ich versuchte, mich auf einen festen Punkt zu konzentrieren, um mich von meiner Übelkeit abzulenken. Ich durfte niemanden auf die Spur bringen, dass ich „krank" war, dann würden sie nach der Ursache suchen und ich wäre verloren.

„Komm endlich!", knurrte Trevor von irgendwoher – er stand wahrscheinlich an der Treppe, die zum Erdgeschoss hinauf führte. „Ich habe nicht ewig Zeit, auf dich aufzupassen."

Wenn ich am Anfang vielleicht gedacht hatte, dass Trevor etwas Mitgefühl für mich zeigte, so hatte er in den letzten Wochen bewiesen, dass das nicht so war. Wie einen Köter hatte er mich behandelt, damit ich auch ja nicht auf die Idee kam, ihn als Bruder um Hilfe zu bitten.

Angestrengt, meine wenige Nahrung vom letzten Abend in mir zu behalten, quälte ich mich von meiner Matratze hoch. Mein ganzer Körper zitterte, sodass ich erst einmal durchatmen musste, um mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich zog mir einen meiner Pullis, welche ich in einem der Kartons, in denen sie meine alten Sachen, die ich hier gelassen hatte, verstaut hatten, gefunden hatte, über. Außerdem waren diese Pullis viel zu groß für mich, was mir zu Gunsten kam – da die Schwangerschaft bei uns ja nur durchschnittlich sechs Monate dauerte, hatte es auch nicht wirklich lange gedauert, bis man etwas sehen konnte.

Mein Rücken schmerzte, als ich mich aufrichtete, um mich zu meinem Bruder zu gesellen, der genervt seine Arme vor der Brust verschränkt hatte. Wieder fragte ich mich, was ich ihm je getan hatte, um so von ihm behandelt zu werden...

Blindness ~ boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt