5. Kapitel

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~Lian

Es gab schon immer Momente im Leben, in denen ich mich gefragt hatte, wer ich war, was ich wollte, wie ich mir meine Zukunft vorstellte...oder ob es überhaupt gut war, wenn ich überhaupt weitermachen, weiterkämpfen sollte.

Was hätte es mir denn gebracht?

Ich wurde so oder so von allen gehasst, da würde es auch keinen Unterschied machen, wenn ich einfach aufgab. Niemand hätte mich vermisst, sie hätten sich wahrscheinlich eher gefreut, dass ich als eine Last nicht mehr auf der Welt weilte.

Ich wäre zu meiner Familie gekommen, zu meinem Vater, zu meiner Mutter, meinen Großeltern. Ich wäre nicht mehr allein gewesen.

Und doch lebte ich noch. Ich hatte weitergekämpft, war immer älter und größer geworden, hatte neue Erfahrungen gesammelt, mir mehr Wissen angeeignet. Ich war zwar trotzdem einsam, hatte nur Tyr, mit dem ich reden konnte, doch ich hatte gelernt, mit dieser Einsamkeit klar zu kommen.

Die Einsamkeit, in der ich mich aber jetzt befand, war neu.

Ich befand mich im Nichts. Ich spürte meinen Körper nicht, aber den Schmerz, den er ertragen musste. Alles brannte, aber ich konnte nicht ausmachen, was der Grund dafür war. Ich fühlte nichts Anderes, nur diesen Schmerz. Und das machte mir Angst.

Wie konnte etwas schmerzen, wenn ich es nicht einmal fühlen konnte?

Wenn ich versuchte, meine Finger zu bewegen, spürte ich nichts. Wenn ich versuchte, mein linkes Bein anzuwinkeln, wusste ich nicht, ob ich es wirklich tat. Da war nichts. Nichts außer dem Schmerz, der in Wellen über mein Bewusstsein raste, mich beinahe ertrinken ließ. Alles brannte, angefacht durch ein Feuer, welches ich noch nie zuvor gespürt hatte.

Diese Hitze – sie machte mich wahnsinnig. Sie verhinderte, dass ich klar denken konnte. Alle meine Sinne waren auf diese Flammen in mir gerichtet. Und ich war nicht bereit, dass sie mich verbrennen würden. Dann hätte ich aufgegeben und das lag nicht in meiner Natur...

Ein neuer Gedanke entstand in meinem Kopf. Wenn ich aufgeben würde, würde ich diesen Jungen, meinen Retter – den Engel – verlassen und alles in mir sträubte sich auch nur gegen die Vorstellung. Wie hatte Tyr ihn genannt? Gefährte...

Ich konnte nichts mit diesem Begriff anfangen, wusste nicht, was Tyr damit ausdrücken wollte, doch ich spürte, dass es etwas gab, was uns verband – mich und diesen Jungen. Etwas Tiefgründigeres, als ich es beschreiben konnte. Etwas, was mit dem Begriff Gefährte beschrieben werden konnte...etwas, was ich schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Zuneigung.

~Cedric

Ich wachte auf, als ich hörte, wie jemand – wahrscheinlich Doc – durch die Tür in meine kleine Hütte trat. Er trampelte, wie immer eigentlich. Leise zu sein war nicht seine Stärke.

„Cedric?", hörte ich ihn rufen. Seine Stimme war tief und rau, als würde er schon sein Leben lang rauchen, doch ich wusste, dass er von Nikotin und vom Rauchen generell nichts hielt.

„Hier!", antwortete ich ihm und setzte mich schnell auf. Ich war noch etwas erschöpft von der Rettungsaktion, doch ich wusste, dass ich es mir nicht leisten konnte, mich dieser Erschöpfung hinzugeben. Der Junge neben mir war noch immer in Lebensgefahr, wenn ihm nicht geholfen wurde. Und ich wusste nicht, was ich machen würde, wenn er – mein Gefährte – sterben würde...dann hätte ich niemanden mehr.

Doc kam zu uns geeilt. Wie immer trug er eine Jeans, die schon ausgewaschen war, ein weißes Hemd – jedenfalls war es mal weiß gewesen – und seine braune Weste, die aussah, als würde er sie schon seit etwa dreißig Jahren nicht ausziehen. Er erinnerte mich immer an einen Sheriff, der im Wilden Westen für Recht und Ordnung sorgte, mit seiner sonnengegerbten Haut, die einen leichten Braunton aufwies, seinen braunen Locken und seinen ebenso dunklen Augen mit dem für Gestaltwandler typischen goldenen Ring.

Blindness ~ boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt