16. Kapitel

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~Lian

An Wunder glaubte ich nie – nicht, als ich ein kleiner Junge gewesen war, erst recht nicht, nachdem ich meine Familie verloren hatte, und als ich in diversen Pflegefamilien aufwuchs, die mich nur als Mittel, um an mehr Geld zu gelangen, sahen, wurde mir jeder restliche Glaube an Wunder genommen.

Cedric in meinem Leben zu wissen war schon mehr als alles Andere, an das ich jemals geglaubt, als ich mir je erhofft hatte. Mit ihm hatte mein Leben wieder einen Sinn bekommen. Er lehrte mich, was es hieß, zu lieben, zu geben, zu nehmen, sich bedingungslos hinzugeben. Er machte mich komplett, ergänzte mich auf jede erdenkliche Art und Weise und das, obwohl wir uns noch nicht einmal wirklich lange kannten. Es war, als würde ich ihn mein Leben lang kennen, mit ihm aufgewachsen sein – als wäre er schon immer an meiner Seite gewesen.

Cedric lieben zu dürfen war das wohl größte Wunder, welches das Leben mir offenbaren konnte. Ich war nicht davon ausgegangen, dass es – meine Beziehung, meine Liebe zu Cedric – noch von etwas übertrumpft werden konnte.

Und doch kam mir Cedrics Idee, mich wieder sehen, zumindest wissen zu lassen, wie er aussah, vor, als hätte er mir gerade das achte Weltwunder offenbart – so unwirklich. Ich hatte mich mit meiner vollkommenen Blindheit, mit meiner Amaurose, arrangiert, gelernt, mich im Leben zurechtzufinden, meinen eigenen Weg zu gehen. Meine anderen Sinne waren so ausgeprägt, dass sie meine fehlende Sehfähigkeit ausglichen. Mittlerweile war es mir sogar relativ egal geworden, dass ich nichts sehen konnte. Allein die Tatsache, Cedric niemals sehen zu können, hatte mir mehr zugesetzt, als ich zugeben wollte...

„Sag doch etwas", bat mich Cedric leise. „Dein Schweigen halte ich nicht aus."

Noch immer war er mir so nah, dass sich unsere Gesichter beinahe berührten, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spürte. Ganz vorsichtig hob ich meine Hand, um ihm durch die seidenen Haare zu streichen – ich liebte die Art, wie sich seine Strähnen um meine Finger wickelten.

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll...es kommt so plötzlich, so überraschend", gestehe ich ihm mit gesenkter Stimme.

„Es ist nur eine Idee, du musst nicht, wenn du nicht willst", begann er sofort und machte Anstalten, etwas von mir wegzurücken, doch ich hielt ihn fest und schlang meine Arme fest um ihn, um ihn so nah wie möglich an meinen Körper gepresst zu halten.

„Ich würde dich gerne sehen."

„Ist das ein Ja?"

Ich nickte. „Lass es uns versuchen."

*

Cedric war doch etwas von mir abgerückt, hatte sich mir gegenüber aufrecht hingesetzt, hielt meine Hände in seinen. Ich wusste nicht, was jetzt geschehen würde, aber ich – und auch Tyr – konnten es kaum aushalten, ihn, Cedric, endlich zu sehen, diesen Schritt mit ihm zu gehen, diese Mauer einzureißen, die Mauer, die meine Blindheit darstellte, die noch zwischen uns stand.

Als erstes spürte ich einen Sog in meinem Kopf, der meine Gedanken in den Hintergrund rücken ließ. Es war kein Strudel, der mich in die Tiefen meines Bewusstseins reißen vermochte, dieser Sog glich eher einem zarten Wind, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog – und ohne einen Gedanken zu verschwenden gab ich mich diesem Wind vollkommen hin...

Ich saß auf einem Sofa, schaute auf zwei Paar Hände, die ineinander lagen, sich gegenseitig Kraft gaben. Das eine Paar war größer, stärker. Die Finger waren lang, filigran, wirkten aber, als würden sie die andere Person, der das andere Paar gehörte, vor jeder noch so großen Gefahr beschützen, sie halten, wenn es nötig war, sie vor dem Ertrinken retten, indem sie sie vorher an die Oberfläche zogen.

Blindness ~ boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt