6. Kapitel

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~Lian

Einsamkeit war immer eine Konstante meines Lebens. Seit ich blind war und ich von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht wurde, seit ich niemanden mehr hatte, dem ich körperlich nah sein konnte, war die Einsamkeit ein ständiger Begleiter. Und ich hatte gelernt, mit ihr umzugehen.

Seit ich Tyr hatte, hatte ich einen Freund, der mir das Gefühl gab, überhaupt jemandem wichtig zu sein. Ich war zwar trotzdem von den Menschen verlassen gewesen, doch ich war nicht mehr komplett allein. Ich hatte sogar die Dunkelheit, in der ich mich unfreiwillig befand, besser akzeptieren können. Es hatte mir nichts mehr ausgemacht, blind zu sein.

Doch jetzt war Tyr weg und ich wusste nicht, wohin er gegangen war.

Er musste noch immer in meinem Kopf sein - da war ich mir sicher - aber ich spürte seine Präsenz nicht mehr. Als würde er sich vor mir verstecken, wie Kleinkinder, die Verstecken spielten.

Dafür spürte ich eine andere Präsenz.

Nicht körperlich - ich spürte ja nicht einmal meinen eigenen Körper - aber ich wusste, dass hier jemand war, der sich ernsthaft um mich sorgte. War es mein...Gefährte?

Wie neu mir doch dieses Wort war und doch kam es mir langsam vertraut vor, als würde es zu einer Sprache gehören, die ich zwar verstand, aber noch nicht selber sprechen konnte. Gefährte...

Dieses Wort musste etwas viel Tieferes beschreiben, als mir bis jetzt bekannt war. Etwas Reines, etwas Ungezwungenes...es fühlte sich intim an, aber nicht auf die sexuelle Weise, eher so, als wäre ich mit Jemandem verbunden...

Und dieser Jemand war der Junge - mein Engel - der mich aus dem Wasser gezogen hatte. Ich musste es nicht wissen, ich spürte es und das reichte mir. Er war hier, bei meinem Körper und ich spürte auch, dass er psychisch anwesend war. Er war diese Präsenz, die ich spürte. Und das beruhigte mich.

Ich war nicht allein - zum ersten Mal seit einer Ewigkeit war ich nicht mehr allein. Ein anderer Mensch sorgte sich um mich.

Doch war das hier menschlich? War es wirklich menschlich, dass ich eine innere Stimme hatte, die mit mir redete und deren Kraft ich sogar in meinem Körper spüren konnte, wenn ich selber zu schwach war? War es menschlich, dass ich eine einzelne Person, eine bestimmte Person auf diese Art und Weise fühlte?

Ich kam mir vor, als wäre ich ein Charakter in einem schlechten Fantasyfilm...Das konnte nicht real sein...

Oder doch?

Wieso kam mir alles so vertraut vor?

Ich hatte Tyr einfach so akzeptiert, mich nie gewundert, warum er bei mir war. Und meinen Gefährten hatte ich auch einfach akzeptiert, als wäre es das Natürlichste der Welt.

Was war ich, wenn ich schon kein Mensch war?

Irgendwie befreite mich dieser Gedanke. Und das verwirrte mich. Wie konnte es mich befreien, wenn ich kein Mensch war? Wieso war ich mir dessen eigentlich so sicher?

Ich spürte es einfach. Ich war schon immer ein Außenseiter, hatte das aber auf meine Behinderung geschoben...vielleicht war ich aber auch ein Außenseiter, weil ich nicht komplett menschlich war.

Aber was war ich?

Tyr wusste es, dessen war ich mir nun komplett sicher. Und mein Gefährte wusste es auch. Und meine Eltern hatten es auch gewusst...

Nur ich wusste es nicht!

*

Eine Welle des Schmerzes, der mich wieder innerlich verbrannte, rollte über mich hinweg, weshalb ich am liebsten aufgeschrien hätte. An dieses Feuer würde ich mich nie gewöhnen können. Ich wollte nur, dass es endlich aufhörte - dieser Schmerz, diese Hitze, die mich lebendig röstete.

Blindness ~ boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt