Der Junge und die Heilerin

775 122 1
                                    


Alles ist so unbeschreiblich warm, als er langsam wieder zu Bewusstsein kommt. Er erinnert sich an Geschichten von Erfrierenden, die seine Mutter erzählt hat, die kurz vor ihrem Tod aufhören die Kälte zu spüren und sich teilweise sogar noch ausziehen, weil ihnen so heiß ist mitten im Schnee.

Wenn er gerade stirbt, denkt Taris benommen, dann fühlt es sich erstaunlich gut an. Er ist eingewickelt in Decken, auf einem flauschigen Lammfell und es duftet nach Eintopf. Seine Augenlider flattern. Es klappert arbeitsam nicht fern von ihm und das kehlige Lachen einer Frau ertönt.

Dann, eine Stimme.

„Taris."

Erst glaubt er, es ist seine Mutter, die ihn ins Totenreich hereinruft, aber diese Frauenstimme ist dunkler und voller und durch seine Augenlider sieht er ihren Schatten vor sich.

Er schlägt die Augen auf.

Zum ersten Mal in einer so langen Zeit, dass es ihm mehr wie ein blasser Traum als eine wirkliche Erinnerung vorkommt, findet er sich in einer Hütte wieder. Aus den Augenwinkeln sieht er ein Feuer hoch und heiß im Kamin lodern, ein dampfender Kessel darüber und er selbst liegt auf einem Bett, weicher als jede Unterlage, die er je gekannt hat.

Die fremde Frau kniet vor ihm, ein schwaches Lächeln auf den Lippen, das den größten Teil seines Blickfeldes ausfüllt. Ein bisschen sieht sie wirklich aus wie seine Mutter – die gleichen Ansätze von Falten graben sich in ihre Stirn, die gleichen grauen Strähnen ziehen sich durch ihre dunklen Haare. Aber die Ähnlichkeit liegt in ihrem Blick, der Fürsorglichkeit darin. Es ist keine mütterliche Fürsorglichkeit – Taris hat sie oft bei seiner Mutter gesehen, mit anderen Menschen, Fremden sogar, die sie in ihr Zuhause aufgenommen und nach bestem Vermögen gesund gepflegt hat.

„Ihr seid die Heilerin", wispert er und kann die Stimme kaum erheben. Er hat Angst, ein wenig, dass sie ihm verloren gegangen ist, eingefroren und erstarrt draußen in der Kälte. Aber wie seine Sinne kehrt auch die Stimme zurück, nach und nach. Es fühlt sich an, als würde er in seinen Körper zurückkehren.

„Ruh dich aus", sagt die Frau. „Was hinter euch liegt, ist gerade der Beginn."

Sie gibt ihm keine Zeit, über die geheimnisvollen Worte nachzusinnen, bevor sie sich erhebt und den Raum in elegant fließenden, aber raschen Schritten verlässt. Er sieht ihr nach, wie sicher sie sich bewegt, wie vertraut ihr einfaches Kleid sich um sie legt, wie besonders sie doch trotz ihrer Einfachheit wirkt. Es muss die Heilerin sein, die sie gesucht haben, auch wenn sie es ihm nicht bestätigt hat.

So viele Fragen türmen sich in seinem Kopf, und allein ihr Aufblitzen macht ihn wieder müde. Zu lange sind sie ohne wahre Rast umhergezogen, und jetzt, in Sicherheit, holen ihn durchwanderte, durchwachte, und durchzitterte Nächte ein.

Er hat nicht viel mehr gesehen als die Frau und das Feuer im Kamin, aber Taris schläft ruhig.

***

Es ist der Blick, aufmerksam und starr auf ihn gerichtet, der Taris das nächste Mal aufweckt.

Der Prinz liegt auf der anderen Seite der warmen Stube, sein Bett nicht größer oder weicher als das von Taris, aufgestützt auf die gleiche Anzahl von Kissen, die auch um Taris' Kopf liegen. In seinem Schoß liegt eine Schüssel Suppe.

Seine Augen sind offen wie in jenem Moment, als Taris ihm endgültig seine Treue geschworen hat, aber das Gesicht dazu sieht gesünder aus. Nicht vollkommen gesund – er ist noch immer blass um die Nase, und in unregelmäßigen Abständen wird sein Körper von Zittern durchschüttelt -, aber zum ersten Mal sieht er so aus, als könnte er tatsächlich überleben.

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt