Der Jüngling in der Weite

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Dort, wo sie entlang wandern, ist das Land nur spärlich bewohnt, voll kleiner, dichter Wälder und weitläufiger, felsiger Heiden, sanft grünen Hügeln und schneidendem Wind auch an warmen Sommertagen.

Taris lernt, die Schönheit der Natur zu erkennen, wenn die Sonne weit über das Grün scheint und er sich frei und unbeobachtet fühlt. Der Prinz atmet leicht und unbeschwert neben ihm, ihre Schritte sind beschwingt auf den kaum erkenntlichen Trampelpfaden.

Nur ein Ort um zu bleiben ist es nicht.

Sie ernähren sich hauptsächlich von Kaninchen, die Taris bald mit großem Geschick fangen kann, manchmal mit essbaren Wurzeln oder wildem Korn und den Kräutern, die sie überall in den Ritzen finden. Das Land hat kaum fruchtbaren Boden, leben können sie nur, solange sie weiterziehen, wie die einsamen Schäfer, die sie manchmal aus der Ferne sehen und denen sie sich aus Vorsicht nicht nähern. Wer weiß schon, wie viel sie gehört haben, was ihre Augen in ihnen sehen werden?

Alles ist endlich. Selbst eine Gegend wie diese, die unendlich erscheint. Sie müssen irgendwann zurückkehren, wo es Essen gibt, Kleidung, Dächer. Hier im Winter wären sie wohl längst erfroren.

***

Der Prinz bringt Taris das Kämpfen bei, richtig dieses Mal. Sie haben nur das eine Schwert, also suchen sie lange und feste Stöcke, die sie aufeinanderprallen lassen, bis ihnen die Arme wehtun.

Wenn Taris merkt, dass der Prinz an Kraft verliert, dann lässt auch er den Stock tiefer hängen.

„Hör auf damit", sagt der Prinz eines Tages zu ihm. „Ich will stärker werden, das klappt nicht, wenn du dich schwächer gibst." Seine Stimme springt tief nach unten dabei, wie bei einem erwachsenen Mann.

Es ist unglaublich, wie viele Stunden sie das Kämpfen aushalten können, wenn sie es beide wirklich versuchen, selbst wenn sie dadurch nicht ganz so schnell vorankommen, ihre Glieder müde und überanstrengt.

Ilfrid sitzt neben ihnen und beobachtet sie mit unbewegter Miene, stochert im Feuer und flüstert knappe Vergessene Worte, die seine Augen aufleuchten lassen.

„Es geht noch nicht", murmelt er dann, „Sie sind noch nicht bereit." Er spricht mit dem Feuer und Taris weiß nicht, ob er überhaupt merkt, dass seine Worte laut zu hören sind.

***

„Es wird andere Gelegenheiten geben", sagt Ilfrid, als er ihnen schließlich das Kämpfen verbietet. „Jetzt müssen wir vorankommen."

Er sagt kaum ein Wort, während er sie durch die Hügel vorantreibt, zurück in bewohnte Gebiete. Sie sollen auf ihn warten, immer und immer wieder, während er allein in die Dörfer geht und sich auf Märkten und in Wirtshäusern umhört. Nach was, das sagt er ihnen nicht.

„Kann ich helfen?", fragt Taris, denn die Schatten unter Ilfrids Augen sind beunruhigend und er isst kaum noch, seine Züge hagerer als sonst auf ihrer ganzen Reise.

„Es wird andere Gelegenheiten geben", sagt Ilfrid wieder. „Das hier ist meine Bürde."

Auch als er ein anderes Mal mit blutigem Hemd zurückkommt, sagt er kein Wort dazu. Er lässt Taris die Wunde verbinden, stumm, den Blick in die Ferne gerichtet.

„Bald", flüstert er. „Bald."

***

„Er sollte wenigstens Euch etwas erzählen", erklärt Taris dem Prinzen. Sie sitzen wie auf glühenden Kohlen, versteckt hinter Büschen mit ihren Sachen, während Ilfrid fort ist. Er merkt es, wenn sie sich wieder im Kämpfen üben, daran, wie schnell außer Atem der Prinz danach immer noch ist und sie darin stört, rasch weiterreisen zu können. Also warten sie nur. Und sie reden.

„Er sollte es uns beiden erzählen", erwidert der Prinz. „Wir sind beide oft genug dem Tod gerade entronnen, wir werden jede Wahrheit ertragen können. Wir sind alt genug dafür."

Alt genug, denkt Taris und ist überrascht, als ihm davon ganz schummrig im Kopf wird. Wenn er alt genug ist, dann nimmt sein Vater ihn mit in die Stadt. Wenn er alt genug ist, wird seine Mutter ihn bei den Treffen mit den Leuten aus dem Dorf zuhören lassen. Wenn er alt genug ist, dann darf er mit den Ochsenkarren hinausziehen und sich sein eigenes Geld auf dem Feld verdienen. Die Versprechen der Vergangenheit sind lachhaft, wenn er an sie denkt, aber er möchte nur weinen.

Nur, dass er nicht kann. Er ist kein Junge mehr. Er ist alt genug, um nicht mehr zu weinen.

***

Er braucht Monate, bis in den Herbst hinein, dass sie endlich erfahren, was Ilfrid versucht hat.

Ein alter Soldat, grimmig und wortkarg, kommt mit ihm aus dem Dorf und der Instinkt der beiden wartenden Jünglinge lässt sie sofort ein Versteck suchen, bis er ihnen aus seinem vernarbten Mund hinaus versichert, dass er als Freund zu ihnen kommt. Sie kommen hinter den Bäumen hervor, die Stöcke im Anschlag, immer noch voller Skepsis.

Ilfrid sagt ihnen, dass er ihnen helfen wird, einen sicheren Ort für den Prinzen weiß. Der Prinz flüstert Taris zu, dass er keine Ahnung hat, wer dieser Mann sein könnte. Als er sie auffordert, ihm mit ihren Sachen zu folgen, tut keiner von ihnen einen Schritt.

Ilfrid seufzt, aber in seinen Augen blitzt stumme Anerkennung.

„Es gibt ein kleines Königreich nicht weit von hier", erklärt er ihnen endlich. „Sein König gibt nicht viel auf Calred und war ein Freund von Eurem Vater, mein Prinz. Er wird Euch für eine Weile bei sich aufnehmen."

„Aber warum die Geheimnisse?", flüstert der Prinz. „Warum dieser Mann?"

Der fremde Soldat verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. „Sollte die Gastfreundschaft meines Herren auch nur ein falsches Ohr erreichen, dann wird es uns allen übel ergehen. Wollt Ihr die Sicherheit eines Schlosses, so dürfen die Leute niemals erfahren, wer Ihr wirklich seid."

Der Prinz mustert ihn scharf und nickt, auch wenn er später auf dem Weg das Schwert in die Hand nimmt und den Griff so fest wie möglich umfasst hält.

„Warum?", fragt Taris, der mit Ilfrid hinter ihnen geht. „Warum können wir nicht einfach weiterziehen wie bisher?"

„Die Vergessene Kunst kommt ungefragt zu mir", antwortet der Mann ernst. „Sie lockt mich mit Wissen, das uns auf lange Zeit helfen kann, nicht nur für die nächsten Schritte. Ich muss ihm nachgehen, aber das kann ich nur allein."

Was Ilfrid ihm damit sagt, versteht Taris erst, als der Prinz und er versteckt im Karren des Soldaten sitzen, der Weg rau und unbequem unter den Rädern. Ilfrid sieht ihnen hinterher, bis sie um die nächste Biegung verschwunden sind.

„Vertraut ihnen, hat er gesagt", murmelt der Prinz. „Ich bin froh, dass wenigstens du noch bei mir bist, Taris."

Taris drückt ihm ermutigend den Arm, sein eigener Körper voll von unheilvollem Kribbeln und einer Unsicherheit, die er gerne genauso hinter sich gelassen hätte wie den Mann, der sie all die Zeit geführt hat. Er wird zurückkehren, sagt er sich selbst. Aber ob sie bis dahin allein wissen, was gut und weise ist, das ist eine andere Frage. 

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt