Der Junge verloren in Schrift

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„Ich möchte in die Stadt gehen", sagt der Prinz ihnen. „Ich werde sonst keine Ruhe finden."

Ilfrid mustert ihn scharf und Taris ist überrascht, weil er sich bisher immer ohne zu klagen zurückgehalten hat, außer Sichtweite der Dörfer geblieben ist, die sie besucht haben.

Sie hüllen ihn ein in einen langen Mantel mit Kapuze, die sein blondes Haar verbirgt, und gehen erst kurz vor der Dämmerung, die beiden Jungen gemeinsam, während Ilfrid zurückbleibt und ihren Lagerplatz hütet. Zwei Jungen, sie werden weniger auffallen, sagt er ernst und ermahnt sie, vorsichtig zu sein, so vorsichtig es nur geht. Den Prinzen abhalten, das will er nicht und Taris versteht es, denn nur selten funkeln seine Augen so entschlossen.

Es ist ein gutes Stück zu laufen aus dem Schutz des nahen Waldes heraus, und Taris dreht sich immer wieder nach dem keuchenden Prinzen um, aber er schlägt jeden zaghaft dargebotenen Arm ab.

„Das hier muss mir ohne Hilfe gelingen", sagt er fest. Der Prinz wäre am liebsten allein, das spürt Taris, aber ihn tatsächlich allein lassen ist unmöglich für ihn, selbst wenn Ilfrid ihn nicht noch einmal beiseite genommen hätte, um es ihm einzuschärfen. Sie suchen ihn immer noch, und er ist noch immer nicht so gesund und stark, wie es sich für einen Jungen seines Alters gehört.

Es ist Markttag in der Stadt, und die Straßen sind voll mit Menschen, den Städtern und den Dorfleuten und Bauern aus der Gegend, von den abgerissensten Gestalten bis zu den edlen Burgherren findet sich jede Schicht. Zwischen all den Fremden fallen sie nicht auf, kümmert sich niemand um die andächtige Ruhe, mit der der Prinz seine Hände über die Auslagen der Stände gleiten lässt, über grobes Holzgeschirr und feine Stoffe.

„Wenn ich früher bei uns in der Stadt war, so war immer eine große Eskorte bei mir", flüstert er zu Taris. „Die Menschen haben sich schon verbeugt, bevor sie mich erkannten."

Er lächelt. „So gefällt es mir besser."

Sie sind nicht hier, um Besorgungen zu machen, haben nicht einmal Geld dabei. Taris hat Zeit, den Prinzen in aller Ruhe zu betrachten, seine glänzenden Augen, der aufrechte Gang, in den er sich mit eisernem Willen zwingt. Die seltene Freude, mit der er den Trubel, das Leben um sich herum ansieht.

Doch die Ruhe, sie hält nicht lange an. Taris verliert sich in der Menge, während der Prinz sich aufmerksam bei einem Waffenstand umsieht. Er will sich zurück zu ihm schieben, als er die Bretterwand voller Papierfetzen sieht, manche alt und ausgeblichen, andere frisch. Gesichter starren ihm entgegen, grimmig und stur und furchterregend, und unter all diesen Gesichtern findet er das Antlitz des Prinzen fast sofort. Er ist jünger auf dem Bild, sein Kopf runder, aber er ist es, klar und unverkennbar. Um Taris schubsen und drängeln die Leute, und sie alle sehen zu der Bretterwand auf, neugierig auf die gesuchten Verbrecher, und ihm wird gleichzeitig heiß und kalt. Zwischen den Köpfen kann er gerade noch den Prinzen erkennen, wie er sich über die Auslagen beugt, aber plötzlich ist es ihm, als würde jeder um ihn herum seinem Blick folgen.

Ein kleiner Aufruhr geht durch die Menge, als irgendein Bauernjunge versucht, Schmuck zu stehlen, und Taris hört auf sein pochendes Herz und nutzt die Gelegenheit, um den Zettel rasch abzureißen und tief in die Tasche zu stecken.

Er eilt zurück zum Prinzen, fasst ihn leicht am Arm und raunt ihm zu: „Kommt, mein Prinz, wir müssen gehen."

„Ich werde ohnehin müde", sagt der Prinz sanft und stellt keine Fragen, auch nicht auf dem Weg zurück, als Taris' Hand immer wieder in seine Tasche gleitet, hin zu dem Fetzen Papier.

***

Taris verkauft ihre Pferde.

An den Marktplätzen hängen die Bilder von Ilfrid und dem Prinzen überall, und mit ihnen unzählige andere, die in den Königreichen gesucht werden. Fremde, die auf Pferden daherkommen und sich dennoch jedes Stück Brot mit Arbeit verdienen müssen, lassen das stetige Misstrauen der Leute hohe Wellen schlagen, zu Fuß glaubt man ihnen vielleicht eher, dass sie bedürftig und mittelos, ohne Identität und Heimat sind. Das Gold, das er für die Tiere bekommt, können sie doppelt gut gebrauchen.

„Wir können ihnen ohnehin nicht mehr davonreiten", sagt Ilfrid ihm seufzend, bevor er ihn allein zum nächsten Markt schickt. „Calreds Atem hat längst jedes Reich vergiftet und je unauffälliger wir sind, desto größer sind unsere Aussichten."

Sie sprechen nicht darüber, wie es dem Prinzen gehen mag. Der Ausflug in die Stadt hat Taris nicht nur in einen neuen, stetigen Zustand der Angst versetzt, sondern auch den Prinzen so geschwächt, dass er am nächsten Tag kaum dem Schlaf entfliehen konnte. Es ist wieder eine Weile her, aber wenn sie jeden Tag zu Fuß gehen müssen, dann ist es unmöglich zu sagen, was geschehen wird.

Wenn er nachts am Feuer als einziger wach ist, dann zieht Taris das Papier mit dem Gesicht des Prinzen hervor und verflucht, wie ähnlich es ihm trotz allem sieht. Er studiert jede einzelne Linie, egal wie ausgeblichen und zerknittert, selbst die Schrift, die er nicht lesen kann, als könnte sie ihm den Sinn hinter allem verraten, den Grund für ihre ewige Flucht.

Erst wenn seine Augen anfangen zu tränen, wendet Taris sich wieder ab und sieht zum schlafenden Prinzen, wie er seinem gemalten Portrait ähnlicher denn je sieht.

„Werde erwachsen", flüstert er trotzig. „Werde doch einfach erwachsen."

***

„Was steht dort?", fragt er Ilfrid leise. Das Papier ist fast verblichen, er weiß nicht einmal, ob man die Worte noch lesen kann.

Ilfrid zögert, bevor er ihm antwortet. „Landesverräter", sagt er schließlich. „Auszuliefern an König Calred, hohe Belohnung."

„Sonst nichts?", fragt Taris verwundert und Ilfrid seufzt.

„Sonst nichts."

Er verbrennt das Papier am selben Abend.

***

Der Prinz gibt sich Mühe, er tut es wirklich dieses Mal.

Er trägt sein Schwert selbst, und ein kleines Bündel noch dazu, und wenn er wankt, dann drückt er die Hände in die Luft, bis er wieder fest stehen kann, ohne um Hilfe zu bitten. Je schwerer ihm die Schritte fallen, desto verbissener tritt er auf.

Und irgendwann macht ihn die stetige Entschlossenheit tatsächlich kräftiger.

„Ihr weigert Euch, Euch vom Gift zerstören zu lassen", erklärt ihm Ilfrid gelassen, beinahe heiter. „Ihr habt den Punkt erreicht, an dem Ihr eure eigene Genesung in der Hand habt."

„Ich kann es kaum erwarten", sagt der Prinz müde, aber nicht so ausgelaugt, wie er es oft gewesen ist. Vielleicht hat ihm die Stadt ja Kraft gegeben, überlegt sich Taris, den letzten Schluck Energie, um sich über den immerzu neu wuchernden Berg aus Krankheit zu hieven.

Er selbst spürt kaum noch, wie schwer er schleppt, so sehr hat er sich daran gewöhnt. Seine Arme sind drahtig und muskulös geworden, er selbst größer, sein Gesicht kantiger.

Älter.

Auf dem Weg sieht er sein Spiegelbild im Wasser eines stillen Waldsees und erschrickt beinahe darüber, wie sehr er sich verändert hat und dann sieht er zum Prinzen und bemerkt, dass auch er mit längeren Beinen voranschreitet und sein Kinn bewusster trägt.

Sie sind keine Jungen mehr.

Aber Erwachsen sind sie auch nicht, und der Prinz lacht laut, als er Taris unvermutet mit dem Seewasser vollspritzt und Ilfrid nur die Augen verdreht und zur Seite tritt. 

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt