Der Jüngling in der Stadt

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Die Siedlung im Norden sieht größer aus, als sie ist.

Die Menschen hier leben in den Überresten einer Stadt, die alte Stadtmauer unterstützt von grob aufgeschichteten Steinhaufen und einfachen Holzkonstruktionen, wo sie mit der Zeit niedergefallen ist. Anstelle der meisten Häuser finden sich kahle Flecken, wiedererobert von der Natur und zu kleinen, kaum ergiebigen Feldern bestellt, Efeu rankt sich wulstig um Säulen und krumme Birken ragen aus halb eingefallenen Häuserwänden.

Grimmig dreinblickende Wachen winken sie durch das schmale Tor herein und auf dem Weg durch die letzten Erinnerungen einer besseren Zeit wird Altair still und zögerlich, bis er nicht einmal mehr die Blicke der Bewohner wahrzunehmen scheint.

„Geht es dir gut?", fragt Taris besorgt und Altair nickt langsam, bleich um die Nasenspitze.

„Es erinnert mich nur", sagt er und muss nichts mehr hinzufügen, dass Taris weiß, woran. Diese Stadt hier ist keinen Flammen zum Opfer gefallen, aber es fühlt sich ganz ähnlich an, mit all den verlassenen und zerfallenen Häusern und Menschen, die sich so offensichtlich in Trümmern ein Leben aufgebaut haben.

Wer ihnen begegnet ist genauso grimmig wie die Wachen, bewaffnet und in grobe Felle eingepackt, in der Gesamtheit größer und gröber gebaut als übliche Stadtbewohner, selbst die Frauen. Erst um den alten Marktplatz kommt etwas mehr Leben auf, scheinen die Häuser bewohnt und ihre Bewohner wenigstens freundlich genug, hin und wieder mit ihren Nachbarn zu plaudern.

Ein einzelner, kräftiger Mann, der sein rechtes Auge mit einem Stück Stoff verbunden hat, sieht Altair und Taris auf den Marktplatz treten und kommt auf sie zu, selbst sein Lächeln nur bedingt einladend.

„Ihr seht aus, als wärt ihr gerade erst über die Steinwüste gekommen", begrüßt er sie ohne Umschweife und da wenden sich die anderen Leute und ihre neugierigen Blicke auch schon wieder ab. „Was kann ich für euch tun?"

„Wir suchen ein neues Zuhause", antwortet der Prinz rasch, noch bevor Taris sich eine Antwort überlegen kann.

Der Einäugige fragt nicht weiter nach, sondern winkt sie nur knapp mit sich, zwischen halbleeren Auslagen, schwatzenden Leuten und umher staksenden Ziegen hindurch. Ein kleines Kind rennt brüllend zwischen den Beinen herum, während seine Mutter versucht, es wieder einzufangen.

Es ist wie sein Dorf damals, denkt Taris. Ein Dorf in einer Stadt, ein Ort, der ihn und Altair zu gleichen Teilen an ein lange verlorenes Zuhause erinnert.

„Wir nehmen kein Gold", brummt der Mann auf dem Weg. „Wenn ihr arbeitet, dann bekommt ihr euren Lohn. Aber darüber werden wir morgen sprechen."

Er öffnet ihnen die Tür eines kleinen, engen Hauses, dessen oberes Stockwerk notdürftig mit halben Baumstämmen vernagelt ist, wo es einmal zerfallen war.

„Der hier kommt nicht wieder, da könnt ihr wohl bleiben."

Bevor er sie vorbeilässt, mustert er sie kurz.

„Freunde?", fragt er ohne wirkliches Interesse in der Stimme.

„Brüder", sagt Altair ohne zu zögern.

Der Einäugige nickt und ein Lächeln umspielt seine Lippen.

„So gehört sich das", sagt er. „Ohne Brüder und Schwestern wäre es hier ein graues Leben."

Er nickt hin zu einem Haus, nicht viel weiter in derselben Straße.

„Falls ihr etwas braucht, kommt ins Wirtshaus", sagt er, bevor er sich wieder auf den Weg macht. „Ich komme morgen noch einmal vorbei, bevor wir schauen, was wir mit euch anfangen können."

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt