Der Jüngling und die Erkenntnis

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„Ihr müsst umkehren, mein Prinz", sagt Eianda zu Altair und Taris sieht ihn zusammenzucken über die fremd gewordene Anrede.

„Ich bin nicht bereit", gibt er zurück.

„Dann mach dich bereit", sagt sie barsch und lässt ihn stehen, geht ohne ein weiteres Wort los in Richtung des Landesinneren. Taris widersteht dem Drang, ihr nachzulaufen und bleibt bei Altair, der sich nicht rührt.

Er will ihn beruhigen, ihm sagen, dass Eianda es nicht so meint, dass sie alle Zeit der Welt haben, dass sie niemand zur Rückkehr zwingt, aber er weiß, dass er dafür lügen müsste und Altair weiß es auch.

„Ich kann nicht, Taris", flüstert er erstickt.

Taris atmet ein. Aus. Ein.

„Ich werde mit ihr reden", sagt er, weil er nicht mehr versprechen kann.

***

„Er braucht nur Zeit", sagt Taris zu Eianda. Sie sitzt regunslos zwischen den Gräsern, gerade noch in Sichtweite der Burgruine, ein bläulicher Schiller auf ihren nackten Armen.

„Er weiß, dass er umkehren muss, er braucht nur Zeit. Und sanftere Worte."

„Er hat keine Zeit", entgegnet Eianda verächtlich. „Und wenn du nicht in der Lage bist, deine Aufgabe zu machen, dann muss es wohl ich tun."

„Du kennst ihn nicht", widerspricht Taris.

„Du kennst ihn zu gut", schießt sie sofort zurück. „Du gefällst dir darin, ihn zu kennen, nicht wahr? Du kannst dich wichtig fühlen, als einziger und bester Freund des Prinzen. Du hast mehr Angst als er vor dem, was geschehen wird, wenn er umkehrt."

„Das ist nicht wahr", sagt Taris, aber die Worte kommen nur schwer über seine Lippen.

„Wirklich? Er ist bequem geworden, dein Prinz, und du machst es ihm nur leichter mit jedem Versuch, gleich zu sein. Ihr seid nicht gleich, Taris. Er ist ein Prinz und du bist ein Dorfjunge und je früher du aufhörst so zu tun, als seid ihr Brüder, desto besser für uns alle."

Sie hat sich nicht von der Stelle bewegt, und sitzt immer noch im Gras, die Augen nur halb geöffnet und ihre Stimme ruhig, trotz der Anklage ihrer Worte.

„Er nutzt dich aus", fährt sie ungerührt fort. „Er weiß, dass du alles tun würdest, damit er glücklich ist, deswegen lenkt er dich ab und füttert dich mit Freundschaft und Vertrauen an, damit du vergisst, ihn an seine Pflichten zu erinnern."

„Du hast keine Ahnung", sagt Taris und spürt Bitterkeit in seinen Magen fließen. Es hat ihr immer gefallen, ihn aufzuziehen, sagt er sich. Ihr Spott ist nur beißender und treffender geworden über die Jahre, aber das heißt noch lange nicht, dass es wahr ist. „Du lügst."

„Vielleicht", sagt Eianda und zuckt mit den Schultern. „Aber das hier ist keine Lüge: Calred tötet die Länder jenseits der Ödnis. Kaum ein Bauer hat in den ständigen Kriegen die Zeit, sein Feld zu bestellen und die Ernten werden mit jedem Jahr schlechter. Die wenigen Vorräte werden zum Spielball und jeder Winter kann der letzte sein, bevor die Königreiche zur gleichen Ödnis werden wie dieses Land hier."

Sie sieht auf zu Taris.

„Calred prahlt damit, dass ihm niemand widerstehen kann. Kein falscher König, kein Feind ist ihm je gegenüber gestanden und hat überlebt, sagt er. Jedes Geschlecht, das sich ihm entgegengestellt hat, ist laut ihm ausgelöscht."

„Der Prinz ...", sagt Taris und presst die Lippen fest zusammen.

„Er ist Vergessen", sagt sie und nickt. „Er ist nicht mehr als ein Gerücht, etwas unfassbares, eine Legende. Wenn er zurückkehrt, kann er die Länder vor der Ödnis retten. Sie sind bereit für ihn. Sie brauchen ihn und was er bedeutet."

Taris denkt mit Absicht nicht an ihre Worte davor, davon, dass Altair ihn ausnutzt und er sich zu sehr als sein Freund gefällt, um die schweren Entscheidungen zu fällen. Sie geistern ihm leise und giftig weiter durch die Gedanken, aber er drückt sie zur Seite, denn es geht nicht um ihn und sein Wohlbefinden. Die Welt braucht den Prinzen, der selbst mit einem Fuß im Grab einen unbekannten Jungen verteidigt hat, den Prinzen, der von unbändigem Zorn erfüllt wird, weil er nichts gegen das Leid der Menschen tun kann, den Prinzen, der ihn schwerverletzt in die Berge gebracht hat.

Altair ist dieser Prinz, so gerne er auch darüber hinweg gesehen hat.

***

Taris findet ihn oben auf dem Turm, wo die Zinnen halb weggebrochen sind und man mit einem falschen Schritt sofort nach unten stürzt. Es treibt sie nur selten hier hin, die Aussicht ist nicht viel besser als an anderen Stellen der Klippen.

Altair ist dem Meer zugewandt und hat beide Hände auf den Resten der Mauer abgestützt.

„Ihr habt lange gesprochen", sagt er, ohne sich zu Taris umzuwenden.

„Wir hatten viel zu sagen", erwidert Taris rasch. Nicht alles, was er mit Eianda beredet hat, ist für die Ohren des Prinzen bestimmt. Es ist ein neues, seltsames Gefühl, Geheimnisse vor ihm zu haben, nichts, was ihm gefällt. Er hat den Prinzen gerettet, indem er den Jungen in ihm gesehen hat. Aber er muss den Jungen vergessen, wenn er den Prinzen wiederholen will.

„Vielleicht kommt bald ein Schiff", murmelt Altair. „Dann können wir an Deck gehen und bis hinter den Horizont fahren."

„Das wollt Ihr nicht, mein Prinz", sagt Taris ruhig und Altairs Hände greifen den Stein unter seinen Fingern fester.

„Nein", stimmt er leise zu. „Ich will nach Hause kommen. Zurück in meine Stadt, zurück in die Gemächer meiner Kindheit. Zurück zu meiner Familie."

Er schüttelt den Kopf. „Aber ich weiß, was ich dafür tun muss und ich weiß, dass es am Ende nie so sein kann, wie man es sich vorstellt, und das macht mir Angst."

Taris tritt zu ihm und legt ihm eine Hand auf die Schulter.

„Wir wissen mit Angst umzugehen", sagt er vorsichtig.

Altair sieht ihn an.

„Ich wollte nie ein Prinz sein", sagt er und seine Augen schimmern feucht. „Ich habe vergessen, wie es ist, ein Prinz zu sein."

Taris merkt, wie seine eigene Brust schwer wird, aber er reißt sich zusammen und zwingt sich dazu, seinen Blick zu erwidern. Er ist nicht hier für Altair, er ist hier für den Prinzen.

„Ihr seid ein Prinz", sagt er fest. „Ein vergessener Prinz, das ist wahr. Aber im Vergessen liegt Eure Kraft und Ihr allein werdet zurückmarschieren können zu den Alten Königen und Euer Recht beanspruchen. Ihr seid ein Prinz der Legende und Ihr werdet großes vollbringen, weil Ihr Euch klein gemacht habt."

Altair richtet sich auf, spannt seinen Körper an und atmet tief und fest ein.

„Ich danke Euch, Taris", sagt er.

Sie sehen sich an und Taris sieht den selbstlosen Altair und den standhaften Prinzen in einem vor sich stehen, das Gesicht gezeichnet von Erfahrung.

Irgendwo unter ihnen ertönt Eiandas Stimme, die ihre Vergessenen Worte in den aufkommenden Wind vom Meer hineinsingt, bis sich Wolken über ihnen zusammenballen, blaue Wolken in seltsamen Formen, die über der Burgruine hängen und sie mit feinem Nieselregen überschütten.

Altair zieht Taris an sich und schließt ihn in eine feste Umarmung und als sie sich wieder lösen und ansehen, da sind ihre Blicke härter und entschlossener. Sie haben keine Zeit mehr für Sorglosigkeit.

Sie sind Männer geworden, denkt Taris und es erfüllt ihn mit Stolz.

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt