Der Jüngling und der Prinz

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Als Ilfrid schließlich von ihnen geht, ist es keine große Sache.

Soldaten wollen sie an der Grenze aufhalten, der letzten Grenze bevor sie zur Ödnis vordringen, und er bleibt zurück, lässt ein letztes Mal das blaue Licht tanzen, während die Soldaten zu ihm hinfliegen wie die Motten ins Licht. Wie Wetterleuchten hängt das letzte Opfer Ilfrids hinter Taris und dem Prinzen, als sie über die Straße fliehen, der Wind lau in ihren Haaren, ihre Beine jung und kräftig.

„Ich wollte nie König sein", sagt der Prinz, während sie nur noch zu zweit die Nacht durchwandern. Die Soldaten stammen aus dem anderen Königreich, aber man kann nie wissen.

„Ich wollte nur den Schreien entkommen", erwidert Taris.

Ihr Weg fühlt sich unwirklich an in dieser Nacht, fern ihrer Körper, als seien sie nichts als dursichtige Schwaden aus altem Zauber. Vielleicht ist es eine neue Art der Trauer, ein neues Verständnis von Verlust, das sie gleichzeitig antreibt und von der Erde loslöst.

Vielleicht reden sie mehr in dieser Nacht, aber keine der Worte scheinen wirklicher als ein fremder Traum.

***

Sie haben keine Eile mehr, denn die Ödnis vor ihnen ist ihr Ziel, dort, wo sie bleiben werden auf eine Weise, wie sie bisher nirgendwo bleiben konnten. Wie es dann weitergeht – nun, sie sprechen nicht darüber. Sie erwähnen kein einziges Mal die Abschiedsworte von Ilfrid, ihre letzte Aufgabe, ihr Schicksal. Der Prinz fängt nicht davon an und Taris weiß nicht, trotz allem, was sie gemeinsam durchgestanden haben, ob ihn dazu drängen oder ihm beim Vergessen helfen soll.

Ihre lange Reise ist immer nur in Abschnitten wirklich schnell gewesen, aber jetzt kommen sie kaum noch voran, in einem stillen Einverständnis und der gleichen, seltsamen Angst vor einer allzu bestimmten Zukunft. Wenn sie das Ziel erreicht haben, das Ende der bekannten Welt, dann geht es nicht mehr vorwärts, nur noch zurück.

Irgendwann werden sie zurückkehren und es hat kaum etwas mit Ilfrids Worten zu tun, sondern mit dem, was sie beide in den Knochen spüren, was in den Sternen über ihren Köpfen steht und was die Sonne ihnen mit ihren ersten Strahlen ins Gesicht zeichnet.

Taris muss lachen darüber, kurz und bitter, wie unangenehm ihm die Aussicht auf ein festes Zuhause geworden ist. Der Prinz hört ihn und lacht mit ihm, und sie lachen sich die ganze Angst und Anspannung und Vorfreude aus den steifen Gliedern, bis ihnen die Bäuche schmerzen und sie keine Kraft mehr haben, ein richtiges Lager aufzuschlagen und einschlafen, wie sie auf den Boden fallen, ihre Bündel nicht aufgeschnürt und kein Feuer entfacht.

Eine endliche Welt ist ungemütlicher als eine unendliche.

***

Am Anfang sind sie beide es, die ihre Reise verzögern, wo sie können, doch irgendwann wird Taris ungeduldig. Sie befinden sich noch nicht außerhalb der Gefahr, auch wenn er schon nicht mehr zählen kann, wie viele Königreiche zwischen ihnen und Calred liegen, sind sie immer verdächtig, vogelfrei, zwei junge Männer ohne Geschichte und ohne Erklärungen.

Der Prinz lässt es immer öfter fast zum Äußersten kommen, bleibt in Wirtshäusern sitzen und redet laut von Flucht und gestohlenen Pferden und versteckten Kammern bis sich alle Augenpaare ihm verstohlen zuwenden und Taris ihn gerade noch zurück auf die Straße bugsieren kann, bevor die gerufenen Stadtwachen auftauchen.

Sie begegnen einer kleinen Gruppe Soldaten auf der Straße, die ohne sie zu beachten an ihnen vorbei reiten wollen, doch der Prinz hält sie an, breitet die Arme aus und ruft: „Ich bin ein Flüchtling, ein Landesverräter, wollt Ihr nicht wenigstens versuchen, das Gold für meinen Kopf einzustreichen?"

Taris begreift, warum Ilfrid ihm Kraft gelehrt hat, denn sie allein rettet den Prinzen an diesem und an folgenden Tagen vor seiner eigenen Dummheit. Es schmerzt Taris, den Tod zu bringen, stößt ihm sauer auf wie schales Bier und wie unnötig es ist macht alles nur schlimmer.

„Ich bin ein Prinz, ein Nachfahre der Alten Könige!", brüllt der Prinz über die Felder. „Kommt und holt mich!"

Taris hat den Wanderstab aus den Bergen behalten, den ihm der Prinz mit seinem Schwert abgeschlagen hat, und mit ebenjenem Stab versetzt er ihm einen harten Schlag gegen den Hinterkopf, dass der Prinz zusammensackt und bewusstlos auf dem Feld, zwischen abgeernteten Weizenähren und verblühendem Mohn liegen bleibt während Taris versucht, sich schuldig zu fühlen und nur Erleichterung in sich findet.

***

„Ihr seid töricht, mein Prinz", sagt er eisig, als der Prinz wieder zu sich kommt, fern der Felder am Waldesrand, wo ihn Taris hingebracht hat, um nicht gar so offen für neugierige Augen zu liegen.

Der Prinz blinzelt verwirrt, dann verzieht er sein Gesicht.

„Nenn mich nicht so", sagt er ungehalten.

„Ihr seid es doch, der darauf besteht", erwidert Taris ungerührt. „Ihr seid es, der der ganzen Welt verkünden will, wer Ihr seid und der alles darauf anzulegen scheint, erkannt zu werden."

Der Prinz sagt nichts dazu und vermeidet Taris' Blick, auf seinen Zügen steht rohe Wut.

„Wenn Ihr die Ödnis nicht erreichen wollt, sagt es mir jetzt", fährt Taris fort. „Dann werde ich meiner eigenen Wege gehen."

„Du hast gesagt, du würdest das nicht tun", sagt der Prinz tonlos und atmet laut durch die Nase, während seine zornig zitternden Glieder nur langsam zur Ruhe kommen. „Du hast geschworen, dass du mich nicht verlassen wirst."

„Das war zu einer Zeit, als Ihr Euch nicht wie toll verhalten habt, mein Prinz", entgegnet Taris fest.

„Nenn mich nicht so", zischt der Prinz und springt auf, obwohl er dabei wankt und sich an den Kopf fasst, wo Taris' Schlag ihn getroffen hat. „Ich bin kein Prinz. Ich will kein Prinz sein. Ich werde kein Prinz sein – nicht Ilfrids Prinz, nicht dein Prinz und ganz bestimmt nicht der Prinz von einem Königreich, an das ich mich kaum noch erinnern kann."

Taris sieht ihm wortlos zu, wie er hin und her geht, die Arme zu den Seiten wirft und wieder um seinen Körper schlingt. Seine Stimme ist schnell und hoch vor Verzweiflung und kaum unterdrückter Wut, aber er klingt endlich wieder wie er selbst, mehr als in den vergangenen Wochen.

„Ich wäre so gerne einfach nur wie du, Taris", sagt der Prinz und die Worte fallen ihm schwer, als müssten sie sich um eine Wand herumdrängen um nach draußen zu gelangen. „Ich will nicht ständig um mein Leben fürchten oder meine Zukunft vorgeschrieben bekommen, nur weil ich bin."

Taris sieht ihn an und erkennt in ihm den Jungen von damals, vergiftet und hilflos und kurz vor dem Tod, auch wenn der drohende Tod jetzt ein anderer ist und das Gift von ihm selbst kommt.

„Das alles kannst du haben", sagt er leise. „In der Ödnis bist du niemand mehr. In der Ödnis liegt es ganz an dir, was du in der Zukunft tust. Wir müssen es nur bis dorthin schaffen, Altair."

Und er merkt, dass er den jungen Mann vor sich schon lange nicht mehr als Prinzen sieht – der Prinz steckt in ihm und ist ein unveränderlicher Teil von ihm, das wird sich nicht ändern, aber Altair ist mehr als ein Prinz und mehr als das Schicksal, das Ilfrid ihm prophezeit hat. Irgendwann wird der Prinz handeln müssen, aber daran wollen sie jetzt nicht denken, davon wollen sie sich nicht beeinflussen lassen.

„Dann sollten wir uns lieber auf den Weg machen", sagt Altair gefasst und ringt sich zu einem kleinen, schmalen Lächeln durch.

Sich das Ziel als endgültig vorzustellen, macht die Reise leichter.

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt