Der Junge an der Arbeit

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***

Die Kuh im Stall gibt Milch, obwohl es tiefster Winter ist und sie nie gekalbt hat. Vor ihrem Stall wächst auch im heftigsten Schneesturm ein großer, grüner Flecken Gras, den sie nie zuende fressen kann.

Eianda zuckt mit den Schultern und sagt ihm, es hat ihn nicht zu kümmern, warum das so ist und Taris kann es sich ohnehin schon denken. Ilfrid hat gesagt, er gibt keine wahren Meister der Vergessenen Kunst, aber Nemeris ist dennoch mächtig – sie macht nicht viel mehr, als den Tag über alten Büchern zu hocken, draußen dem Wispern der Bäume zu lauschen und durch die Wildnis zu wandern, bis sie selbst die Steine singen hört und ihr Gesicht weiß vom Frost ist, alles im Namen der Vergessenen Worte.

Das meiste, was im Haus anfällt, erledigt dann Eianda, mit mehr Entschlossenheit und Kraft, als es einem so kleinen Mädchen hätte zustehen sollen. Gestärkt von reicher Nahrung, langer Ruhe und dem ewig lodernden Feuer im Kamin fängt Taris an, ihr die nie endenden Aufgaben abzunehmen – er hackt das Holz von dem riesigen Stapel hinter dem Stall, bis ihm die Hände schwielig sind vom groben Stiel der Axt, er melkt die Kuh, er sucht Flechten und Wurzeln unter der tiefen Schneedecke und kehrt erst zurück, wenn er seine Glieder nicht mehr spüren kann.

Sie reden wenig dafür, dass sie so viel Zeit miteinander verbringen, nicht mehr als ein knapper Befehl hier und ein spöttischer Tadel da, aber nach und nach erfährt Taris kleine Dinge aus dem Leben in der Hütte der Heilerin, wie sie sich ganz ihrer Kunst verschrieben hat und nur nach draußen zu den Dörfern beider nahen Königreiche zieht, wenn ihr das Feuer von besonders Notleidenden zuflüstert.

„Ich glaube, Nemeris und Ilfrid haben sich einmal geliebt", sagt Eianda, als sie gemeinsam draußen Schnee in Eimer schaufeln, um ihn über dem Feuer zu schmelzen. „Vor langer Zeit. Lange, bevor wir beide geboren waren, oder der Prinz."

„Wieso?", fragt Taris verwundert, für den beide Heiler wie unergründliche Waldseen sind, tief und undurchdringlich und so sehr von ihren Vergessenen Worten umwirbelt, dass man sich ihnen nicht nähern kann. Sie sind wie eine Person, gespiegelt hinein in zwei unterschiedliche Leben.

Das Mädchen zuckt mit den Schultern. „Ich hab es im Gefühl."

Taris erfährt auch Stück für Stück mehr über Eianda, die bei Nemeris in der Hütte lebt, seit sie kaum laufen kann und keine Erinnerung an die Zeit davor hat. Ihre ersten Vergessenen Worte hat sie gelernt, bevor sie die allseits bekannte Sprache richtig beherrschte, aber sie sträubt sich dennoch gegen sie, nimmt sie nur unwillig zur Hilfe. Es ist nicht Recht, behauptet sie, auch wenn sie es nicht weiter begründen kann. Taris versucht sie dazu zu überreden, ihm mehr zu zeigen als die zwei Sprüche von Ilfrid, aber sie schaut ihn nur entgeistert an und für zwei, vielleicht drei Wochen redet sie gar nicht mehr mit ihm.

***

Es schmerzt Taris tief in der Seele, wenn er den Prinzen sieht. Nicht, weil er immer noch blass und bleich ist und sich kaum aufrecht halten kann. Es ist der Blick in seinen Augen, die tiefe Dunkelheit, die stechende Sehnsucht mit der er auf Orte jenseits der Hüttenwände starrt.

„Wie geht es Euch, mein Prinz?", fragt er endlich. Nur schwer geht es ihm von der Zunge.

„Besser", antwortet der Prinz, und Taris braucht keine Einflüsterungen von Vergessenen Worten, um zu wissen, dass er lügt.

***

Ilfrid ist nur selten da und jedes Mal wenn er zurückkehrt, ist sein Gesicht düster und grimmig.

Dann muss Taris dem Prinzen hochhelfen, ihn stützen und in den Nebenraum bringen, wo die Heilerin ihre Werkstatt, ihre Bibliothek und ihre Küche gleichermaßen hat, an den großen Holztisch. Nemeris stellt ihm einen Stuhl mit Armlehnen und dicken Polstern am Kopfende bereit und Taris hört höflich weg, wenn der Atem des Prinzen schon von wenigen Schritten schneller geht, wenn er sich darauf fallen lässt.

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt