Ein Teil von Taris hat geglaubt, dass sie ewig so leben können. Die Hütte der Heilerin fühlt sich an wie ein Zuhause, besonders wo er an so vielen Stellen mitgeholfen und mitgebaut hat, er kennt den Wald in jeder Richtung für mehrere Meilen fast auswendig, an so viele Stellen binden ihn Erinnerungen von einem jungen Prinzen, dem es besser geht.
Doch die Tage werden wieder kürzer, das Wetter widerspenstiger und in ihrem verlorenen Königreich geht eine fremde Seuche um, die die Menschen verzweifeln lässt. Als ein einzelner Schmied den Weg zum Haus der Heilerin findet und um ihre Hilfe bittet, verbirgt sich Taris mit dem Prinzen in der Dachstube, wo Eianda und die Heilerin schlafen, damit ihn keiner zu Gesicht bekommt, aber bald zittert der Prinz davon, wie oft er die Leiter hinauf steigen muss.
„Bald werden sie die Kranken für die Heilung bei mir lassen", sagt Nemeris seufzend am Feuer, als der Prinz nach all den Besuchern viel früher als sonst erschöpft auf seinem Bett eingeschlafen ist. Taris wünscht sich, es wäre wieder Sommer und dem Prinzen ginge es jeden Tag so gut wie in seinen besten Stunden, dann könnten sie während den Besuchen an den Bach gehen und gemeinsam Fische fangen, oder auf der nächsten Lichtung die Fasane scheuchen und es würde sich nicht so schrecklich vertraut anfühlen, nicht so wie damals auf der Flucht.
Er findet sich schon am nächsten Tag dabei, wie er ihm im Stall der Kuh, ganz hinten im Heu einen Unterschlupf baut, mit alten Fässern und Kisten und allen Decken und Kissen, die sie in der Hütte abgeben können, damit der Prinz sich dort länger versteckt halten kann. Ihre Flucht hat nie geendet, sie ist nur stehen geblieben, für ein paar süße, ruhige Monate. Die Erkenntnis macht Taris schwindelig und treibt die Tränen in seine Augen.
Er will, dass der Prinz bleiben kann, dass er weiter auf seinem Bett in der Hütte liegt und all die vielen Jahre Zeit hat, die er nur braucht, um langsam und stetig gesund zu werden. Doch stattdessen kauern sie im dunklen Stall und Taris lockt ängstlich ein paar Funken Licht mit Vergessenen Worten hervor, während ihre alten Betten von Fremden belegt sind und Nemeris kaum Eianda hinausschicken kann, um ihnen unbemerkt zu Essen zu bringen.
„Wir müssen gehen, nicht wahr?", sagt er bitter zu der Heilerin, als der erste Schub der Patienten endlich geht. Sie hat den wispernden Wind mit Vergessenen Worten befragt, und die nächsten sind schon auf dem Weg zu ihnen.
„Der Prinz muss gehen", antwortet sie sanft. „Du bist eingeladen, hier zu bleiben und mir weiter so tüchtig zur Hand zu gehen."
Taris schüttelt bestimmt den Kopf.
„Mein Platz ist an der Seite des Prinzen", murmelt er, und Nemeris lächelt.
***
„Wie geht es Euch, mein Prinz?", wispert Taris in die Dunkelheit und wagt es nicht, sein Licht leuchten zu lassen, weil es mit all der Übung viel heller geworden ist.
„Ich bin schrecklich müde", antwortet er, „Aber wenn ich ihre Stimmen höre, will ich trotzdem hinausstürmen und ihnen allen das Schwert ins Herz stoßen."
Die Kämpfer des neuen Königs in ihrem Reich haben von der Kunst der Heilerin gehört und sind überall, während sie sich um ihren einen kranken Kameraden kümmert. Sie kann sie nicht abweisen, ohne ihren Zorn, ihre Missgunst, ihr Misstrauen auf sich zu ziehen.
Taris kann nicht mehr schlafen, wenn der Prinz es tut. Ihre Anwesenheit weckt dunkle Albträume in ihm, und Taris muss ihn festhalten und eine Hand über seinen Mund pressen, damit keiner ihn hört.
***
Ein Jahr ist vergangen, seit sie gekommen sind und der Schnee hat die schmalen Pfade durch den Wald fast unpassierbar gemacht. Trotzdem kommen die Soldaten Calreds, und dieses Mal ist keiner von ihnen krank oder verletzt.
„Wir haben gehört, Ihr kennt Euch mit Giften aus", sagen sie zu Nemeris.
„Ein wenig", antwortet sie unbestimmt.
„Man sagt, es ist nicht nur Heilkunst, mit der Ihr den Kranken helft", fahren sie fort.
„Die Geheimnisse des Waldes sind weit und selbst mir oft unergründlich", sagt sie, „Das mag so manchem einfachen Dorfbewohner wie Hexerei vorkommen."
Taris lauscht heimlich vor dem Fenster und sein Herz pocht dabei so wild, als wolle es ihn verraten. Wenn der Winter nicht wäre, er würde den Prinzen sofort aus dem Stall holen und weit, weit fortgehen, auch wenn er nicht wüsste, wohin.
***
Ilfrid kommt erst zurück, als der Winter fast vorüber ist. Er kommt direkt zu ihrem Versteck, wo Taris den Prinz sofort hingebracht hat bei dem fernen Geräusch von Hufen auf unebenem Grund, die neuen Pferde im Schlepptau. Er schickt Taris nicht fort, bevor er zu dem Prinzen spricht.
„Selbst nach langer Suche konnte ich keinen königlichen Soldaten mehr finden, dem wir vertrauen können", sagt er ernst. „Die letzten von ihnen sind längst zu gut versteckt."
Der Prinz lächelt schwach. „Dann werden wir uns wohl selbst gut verstecken müssen."
Taris möchte schreien darüber, aber man weiß nie, wer ihn dieser Tage hören kann. Er wünscht sich nur so sehr, dass sie wenigstens noch bis zum Frühling bleiben können, bis die Nacht nicht mehr frostkalt durch den Wald kriecht und der Wind pfeifend taub macht. Doch Ilfrid erzählt davon, wie in ihrem alten Königreich die Soldaten für Calred zusammengezogen werden, bereit für den nächsten Schlag. Es wird gegen jenes Reich gehen, an dessen Grenze die Hütte der Heilerin liegt.
„Wenn es erst so weit ist, wird die Flucht nahezu unmöglich", erklärt er noch am gleichen Abend mit rauer Stimme der Heilerin, als sie alle gemeinsam in der Stube sitzen und sie sich doch nicht ganz entspannen können, falls jemand ungehört durch die Nacht herangestapft kommt.
Sie seufzt und sagt nichts und diese Antwort reicht schon, dass sie nur drei Tage später alles gepackt haben und bereits sind loszuziehen, sobald die Kälte nicht mehr gar so klirrend ist.
***
Taris beißt sich auf die kalten Lippen, weil keine Tränen vergießen möchte über die Wärme und Ruhe, die sie zurücklassen. Nur sicher ist es nicht mehr, war es noch nie so recht, und deswegen schiebt er die Wehmut weit hinaus in seine Zehenspitzen, damit sie mit der ersten kalten Nacht erfriert und sich nicht zurück in seine Gedanken schleichen kann.
Sie brechen mit den Pferden nachmittags auf, schwer beladen mit Vorräten und Decken und aller Medizin, die Nemeris entbehren kann, damit sie die Grenze auf der anderen Seite des Waldes zur Dunkelheit erreichen. Die Heilerin umarmt jeden von ihnen lang und fest zum Abschied und Taris wünscht sich, sie würde ihn nicht mehr loslassen.
„Du hättest bleiben können", sagt Eianda missmutig zu ihm, als er als erstes hinaus stapft, um noch einmal nach den Pferden zu sehen. Er zuckt mit den Schultern und sagt nichts, weil er es nicht nur noch mehr hinauszögern will. Wenn sie erst wieder unterwegs sind, dann wird es besser sein, besonders dieses Mal, wo der Prinz selbst reiten und reden und entscheiden kann, das sagt er sich so oft und so lange, bis er selbst daran glaubt.
Eianda sieht ihnen mit unbewegter Miene nach ohne sich um die sanft fallenden Schneeflocken zu kümmern, die sich in ihre Haare setzen. Kein Wort des Abschieds kommt von ihren Lippen und Taris ist ihr unendlich dankbar dafür.
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Der Vergessene Prinz
AdventureEs ist nur der Zufall, der den einfachen Dorfjungen Taris und den fliehenden Prinzen seines gefallenen Königreichs in Zeiten des Chaos zusammenbringt. Doch mit jedem Schritt durch eine unsichere, feindliche Welt, verflechten sich ihre Schicksale meh...