Der Jüngling und seine Aufgabe

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Es dauert mehrere Wochen, bis er sich wieder allein mit dem Prinzen findet, auf der Jagd, während Ilfrid in ihrem Lager verbleibt und Tränke und Tinkturen zusammenmischt, die er am nächsten Markt verkaufen und gegen neue Vorräte eintauschen will.

„Wann meinst du, wird er uns verraten, was er vorhat?", fragt der Prinz ihn unverhohlen und kümmert sich nicht um das junge Reh, das verschreckt in der Nähe davonspringt.

Taris zuckt mit den Schultern. „Vielleicht hat es etwas mit der Vergessenen Kunst zu tun und er kann es uns nicht sagen", entgegnet er. Er hängt kein ‚mein Prinz' mehr an seine Worte an und hat es unter Ilfrids wachen Augen nur immer dann getan, wenn er die Stirn zu sehr gerunzelt hat. Den Prinzen kümmert es nicht, im Gegenteil – jedes Mal, wenn Taris mit ihm spricht wie mit einem Gleichgestellten, stiehlt sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Taris könnte sich daran gewöhnen.

„Ich bin froh, dass er wieder bei uns ist", sagt der Prinz, vorsichtiger dieses Mal. „Aber es macht mir auch Angst, was geschehen wird."

„Was meinst du?", fragt Taris unbehaglich.

„Schau ihn dir an", gibt der Prinz zurück. „Er hat mit allem hinter uns abgeschlossen. Er wartet auf den Tod. Seine Zeit mit uns ist nur die Pflicht, die er bis dahin erfüllt haben will."

Taris will nicht zugeben, dass ihm der gleiche Gedanke schon selbst gekommen ist.

***

Vielleicht hat Ilfrid sie gehört, durch den dichten Wald hindurch, mit Vergessenen Worten oder anderweitig, denn nur kurz darauf ruft er sie zu sich und sie setzen sich am Feuer nieder, ohne sich dabei zu beschäftigen.

„Ihr werdet zurückkehren, wenn die Zeit reif ist", sagt er ernst zum Prinzen. „Es ist Euer Schicksal, genauso Vergessen wie die Worte, die es mir eingeflüstert haben. Die Länder und Völker der Welt kauern in Furcht vor den Klauen Calreds und wagen den Aufstand nicht, aber wenn ein wahrer Erbe der Alten Könige sich erhebt, dann werden sie folgen. In der dunkelsten Stunde, wenn jeder zweifelt, ob noch Hoffnung besteht, wenn Ihr gänzlich Vergessen seid und der letzte Prinz des alten Königreichs nicht mehr ist als eine Legende, dann ist Euer Augenblick gekommen, in dem Ihr zurückkehren werdet."

Er durchbohrt den Prinzen mit einem Blick, der schärfer ist als jede Bewegung, jedes Wort, das ihn die neuen gemeinsamen Wochen über bestimmt hat.

„Eure Aufgabe ist es, zu leben, bis Ihr Vergessen seid und meine Aufgabe ist es, Euch darauf vorzubereiten."

Der Prinz springt so plötzlich auf, dass Taris zusammenzuckt, seine Hände zu Fäusten geballt, die Lippen aufeinander gepresst. Er sagt kein Wort, aber seine wilde Verzweiflung ist greifbar, sein Unverständnis und sein Schock über ihm wie eine Gewitterwolke. Ohne einen Laut von sich zu geben dreht er sich um und stürmt mit langen, harten Schritten davon.

Ein Teil von Taris will sofort hinter ihm her laufen, aber etwas hält ihn zurück und er sieht Ilfrid an, dessen Miene unbewegt und starr ist.

„Was ist meine Aufgabe?", fragt er leise und ein grimmiges Lächeln zieht sich auf das Gesicht des alten Mannes.

„Deine Aufgabe ist die gleiche, die du seit Jahren hast. Sei bei ihm."

***

Der Prinz spricht auch die folgenden Tage kein Wort mehr. Sein Gesicht ist hart und verbissen, wenn er ihnen vorausläuft und nur hin und wieder an Weggabelungen wartet, bis auch Ilfrid aufgeschlossen hat. Er hat seine Schwertübungen gänzlich aufgegeben und verschwindet jeden Abend nach dem Aufschlagen des Lagers irgendwo im Wald oder am nächsten Bachlauf oder hinter den Hügeln, bis spät in die Nacht hinein wenn Taris sich schon Sorgen macht, dass er allein und ohne Vorräte einen neuen Weg eingeschlagen hat.

Die ersten Nächte bleibt er sitzen und stochert in der schwächer werdenden Glut des Feuers, bis der Prinz schweigend zurückkehrt, aber bald hat er sich daran gewöhnt und schläft bei seiner Rückkehr, um ihn nur steif und wortkarg am nächsten Tag an seinem üblichen Platz wiederzusehen.

Taris möchte mit ihm reden, aber er kann auch Ilfrid nicht im Stich lassen, dessen Zustand schlechter wird während er allein dafür sorgt, dass sie auf ihren Reisen alles haben, was sie brauchen und mit den richtigen Leuten sprechen, um unbehelligt zu bleiben.

Er will sich nicht zwischen ihnen entscheiden müssen – er verdankt ihnen alles, wer er ist, dass er lebt – und er versteht sie beide, die Hoffnung und die Verzweiflung, die Forderung und die Ohnmacht.

Und er spürt, dass der Tag kommen wird, an dem er sich nicht mehr entscheiden muss.

„Wohin führt Ihr uns?", fragt er Ilfrid, der sich mit keinem Wort und keiner Bewegung anders gibt, seit er dem Prinzen sein Wissen eröffnet hat. Wenig an ihm erinnert noch an den Mann, der einen sterbenden Jungen in seinen Armen durch die Reihen der Feinde getragen hat, der alles gegeben hat um das Gift aus seinen Adern zu vertreiben.

Ilfrid sieht ihn lange an, seufzt und antwortet dann: „Im Nordosten gibt es einen Landstrich, dessen König vor langer Zeit ohne Thronfolger verstorben ist. Es ist ein wildes, freies Land, in dem das Recht des Stärkeren gilt, in dem man die Ordnung verachtet und die Rebellion verehrt. Sein Name ist vergessen und in den angrenzenden Reichen bezeichnet man es als leere Ödnis, aber dort findet jeder Verfolgte eine Heimat fern seiner Vergangenheit, wenn er nur seinen Teil beiträgt."

Taris ist überrascht, dass er so viel preisgibt. Es sieht dem neuen, alten Ilfrid nicht ähnlich und wenn er zu dem stummen Prinzen hinschaut dann hat er längst verstanden, warum er sich so verschlossen hat.

„Ihr werdet es finden und irgendwann werdet ihr umkehren", fügt Ilfrid leise hinzu und hält inne. „Ich hatte gehofft, dass der Prinz nicht weiter als zur Burg reisen muss, aber es sollte nicht sein."

Sie bleiben auf der Straße stehen, trocken und staubig von einem regenlosen Frühsommer, während der Prinz längst nicht mehr in Sichtweite ist und Taris sagt nichts und weiß, dass es die Abschiedsworte des alten Mannes sind.

Er weiß nicht, was er erwidern soll. Er weiß nur, dass der Prinz ein letztes Mal zuhören muss, wenn er es nicht sein Leben lang bereuen will.

***

Ein Abschied ist nicht immer das Ende, aber er ist nah dran.

Noch einmal nimmt Ilfrid Taris zur Seite und lehrt ihn Vergessene Worte. Sie sind schwieriger als Licht und Zeit, aber Taris Zunge ist spitzer und schneller geworden und lernt sie genauso zu meistern und bald tanzt ihm blaues Flackern um die Finger, mit dem er Gegner niederstrecken kann. Kraft.

Der Prinz sieht ihnen vom weitem zu und das Blau spiegelt sich in seinen Augen genauso wie die gleiche Erkenntnis, die Taris schon hatte und es ist das erste Mal, dass er sich in seiner Stummheit wieder zu ihnen setzt, den Blick auf Ilfrid gerichtet, die Hände ruhig.

„Ich sollte nie König sein", sagt er nur.

„Ich weiß", erwidert Ilfrid. „Aber wenn wir auf unser Leben zurückblicken, dann haben wir erstaunlich selten eine Wahl bei dem, was uns geschieht."

Es ist sein Abschied vom Prinzen und Taris Atem hängt an diesem Abend gleichzeitig freier und schwerer in seiner Brust. 

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt