Schicksal

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Ich stolperte die Gitterstufen nach unten. Lilith klammerte sich an mich, immer kurz davor wieder zusammen zu brechen. Sie sagte nichts, schluchzte nur stumm vor sich hin. Wir erreichten eine Metalltür, ich warf mich dagegen und sie öffnete sich mit einer leichtigkeit, die ich nicht erwartet hätte. Der Bürgersteig war bereits überfüllt von Schaulustigen. Sie alle tummelten sich um eine Gestalt, die gekrümmt am Boden lag. Eine Blutlache breitete sich über den Asphalt aus. Vorsichtig ließ ich Lilith zu Boden gleiten und stürtzte zu der Menge hinüber. Sie waren mir alle unbekannt. Einige Ärzte aus dem Krankenhaus waren bereits in ihrem Element. Ich bahnte mir einen Weg nach vorne, Leute schrien und wollten mich zurück halten. An meiner Seite entdeckte ich plötzlich John. Auch er versuchte sich zu der Gestalt vorzukämpfen. Dann konnte ich ihn identifizieren. Seine dunklen Locken, sein blasses Gesicht, die wachsamen Augen. Nun waren sie nicht mehr wachsam. Das Feuer wirkte erloschen.
 "Sherlock!", schrie ich. Mein Stimme überschlug sich. Ich griff nach seinem Handgelenk. Leute versuchten mich abzudrängen. Ich spürte keinen Puls. Eine leblose Hülle. "Sherlock! Sherlock, wach auf! Du bist nicht tot! Das weiß ich! Wach sofort auf!" Er rührte sich nicht. Eines der Krankenhausbetten wurde vorgefahren. Zwei Männer hoben Sherlock hoch und legten ihn auf die Liege. Dann fuhren sie ihn davon. Ich kniete neben John auf dem Boden, Tränen strömten über mein Gesicht. Ich vergrub es in meinen Händen. Meine Gedanken flogen davon und plötzlich war alles dunkel und still.

Ich lag in meinem Bett und starrte an die Decke. Sie war weiß. Einfach nur weiß. Und doch kam es mir vor, als würde in dieser Farbe mehr stecken. Seit zwei Stunden lag ich einfach nur da und tat nichts anderes als über die Farbe weiß zu fachsimpeln. Lilith und ich waren nach Hause gebracht worden. Lilith hatte nicht mehr gesprochen. Hin und wieder geschluchzt. Kaum hatte man sie in ihr Bett gelegt, war sie eingeschlafen. Man hätte denken können, dass sie tot gewesen wäre, doch ihr Brustkorb hatte sich gehoben und gesenkt. Ich blinzelte einen erneuten Heulkrampf weg und versuchte mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Meine Gedanken schweiften zu Moriarty. Er war nicht mein Vater. Er hatte mich einschüchtern wollen, dass wusste ich. Es konnte überhaupt nicht wahr sein. Das wäre völlig unlogisch.
 Ich hörte einen Schlüssel im Schloss. Sofort war ich in alarmbereitschaft, saß aufrecht da und griff nach meinem Küchenmesser, dass ich immer in meinem Nachttisch liegen hatte. Schritte im Flur, die knarrenden Dielen.
 "Wer ist da?", rief ich.
 "Dein Lieblingsbruder!"
 "Sherlock?"
 "Oh, das tat jetzt weh", sagte Mycroft. Er stand vor mir im Türrahmen, auf einen Regenschirm gestützt. Sein grüner Regenmantel war klatschnass und tropfte auf den Zimmerboden.
 "Wie ich sehe freust du dich mich zu sehen", stellte er fest und deutete auf das Messer in meiner Hand. Hastig legte ich es zurück in eine der Schubladen.
 "Woher hast du meinen Wohnungsschlüssel?" 
 "Ach bitte Jules, ich bin Mycroft Holmes! Dein Lieblingsbruder!"
 "Setz dich. Und tu gar nicht erst so, ich weiß, dass du nicht mein Bruder bist." "Na schön, du bist meine Cousine. Ist doch genauso gut." Tränen traten mir in die Augen. "Merkst du nicht wie unpassend dein Timing ist? Zwei Menschen sind heute vor meinen Augen gestorben. Du hast dich seit ungefähr einem halben Jahr nicht bei mir gemeldet, du hast mich ignoriert und warst viel zu sehr mit deiner Arbeit beschäftigt. Ich kann das ja überhaupt nicht verstehen." Den letzten Satz, betonte ich besonders. "Und jetzt tauchst du hier auf, führst dich auf wie der größte Spaßvogel, obwohl dein Bruder tot ist. Er ist TOT!" Ich sank in mich zusammen. In Mycroft's Gesicht spiegelte sich das schlechte Gewissen. "Entschuldige", sagte er betont und legte eine Hand auf meinen Arm. "Ich wollte dich nicht angreifen oder die ganze Situation lächerlich machen. Ich bin auch aus einem ganz anderem Grund hier. Sherlock und ich hatten ausgemacht, dass du die Wahrheit erfahren solltest. Hier und jetzt. Ich werde dir alles erzählen, alle Fragen beantworten. Wenn du bereit dafür bist. Und glaube mir, es wird nicht einfach. Es werden schreckliche Sachen an's Tageslicht kommen.
 "Ich bin bereit", sagte ich ohne zu zögern. Wie lange hatte ich schon auf diesen Augenblick gewartet.
 "Gut", nickte Mycroft. Er erhob sich, legte den Regenmantel ab, zog zu meiner Überraschung die Schuhe aus und setzte sich mir gegenüber auf mein Bett. Das hatte er noch nie gemacht. Fragend sah ich ihn an. "Ich soll doch den großen Cousine spielen. Das tue ich jetzt."
 Er räusperte sich, holte einmal tief Luft und begann zu erzählen:

"Es begann alles in der Nacht, in der Tante Sofie ihr erstes Buch veröffentlicht hatte. Eine abgerundete Variante von deutschen Märchen, in der heutigen Zeit. Es ähnelte einem Krimi. Beispielsweise waren die Brotkrümel aus Hänsel und Gretel Bluttropfen und so Zeug eben. Sofie wurde in die Buchhandlung eingeladen um dort eines der Märchen vorzulesen. Auf dieser Vorlesung lernte sie deinen Vater kennen."
 Meine Atmung setzte für einen Moment aus.
 "Jim Moriarty, verliebte sich in Tante Sofie. Hals über Kopf. Und sie sich in ihn. Die beiden kamen ins Gespräch und trafen sich zu einem Abendessen. Ihr erstes Date. Sie kamen zusammen, heirateten heimlich. Sofie wusste nicht was ihr Mann war und Moriarty stand kurz davor alles zu beenden was er je angefangen hatte. Er wollte mit Sofie zusammenleben, Kinder haben, eine Familie. Sofie wurde schwanger. Mit Zwillingen. Und jemand wusste, dass sie mit Moriarty zusammen war. Es war ein Geheimniss, dass sie sogar zwei Jahre vor mir hüten konnte. Jemand war ihr auf der Spur. Die Drohbriefe begannen. Jemand forderte sie auf, Jim ihm auszuliefern oder ihre Kinder würden nicht lebendig auf die Welt kommen. Sofie hatte Angst um Jim. Manchmal war er eine Woche lang nicht Zuhause, weil er arbeiten musste, in einem anderen Land. "Arbeiten" halt. Und sie beschloss, dass es das beste sei sich von ihm zu trennen. Sie floh und versteckte sich mit meiner Hilfe in London. Moriarty's Herz war gebrochen. Er dachte sie hätte ihre Liebe zu ihm nur gespielt. Sein Hass entstand. Sein Hass gegen die komplette Holmes Generation. Sofie wurde immer noch von Drohbriefen belagert und sie begann mit ihrem nächsten Buch. Sie schrieb dieses Buch nur um über den Anonymen Schreiber zu forschen. Irgndwann hatte sie einen Kontakt zu dem Anonymen Schreiber hergestellt. Sie hatte ihn enttarnt. Kurz bevor sie dich und Lilith zur Welt brachte, beantwortete sie einen der Drohbriefe. Sie schrieb, dass sie wusste wer er war. Sie schrieb, sie würde ihn ausliefern, wenn er Jim nicht in Ruhe ließ. Der Schreiber schien sich wohl dazu verpflichtet sie zu töten. Er spritzte ihr ein Mittel, dass den sofortigen Herzstillstand abrief. Ihr beide konntet aus ihr heraus geschnitten werden und überleben. Ich half dabei den Mord zu vertuschen. Sofie hatte mich in einem Brief darum gebeten. Ich kontaktierte Moriarty. Ich überließ ihm ein Kind und einen Abschiedsbrief von Sofie. Er zog Lilith groß, Mum dich. All die Jahre hielt er einen der Holmes für den Mörder. Sherlock! Der einzige, der ihm je die Stirn geboten hatte. Er gab ihm die Schuld an dem Schicksal, seiner Familie. Ich konnte ihn nicht abhalten, dafür war Moriarty zu mächtig. Sherlock und ich waren immer beide über Moriarty informiert. Und ohne Mum genauere Informationen zu nennen, erklärte ich ihr vor ungefähr drei Wochen, dass es an der Zeit war dir alles zu erzählen. Sie stimmte mir zu. Nur leider ist sie sehr vergesslich und hat den Brief nicht irgendwo sicher versteckt. Es tut mir alles furchtbar Leid. Ich denk jetzt solltest du Fragen stellen!" 

Ich schwieg einen Moment. Dann schluckte ich die Tränen hinunter und sah Mycroft in die Augen. Mein Herz pochte so heftig, dass es weh tat. Mein Körper zitterte.
 "Lilith ist also meine Zwillingsschwester?" Mycroft nickte.
 "Jim Moriarty, ist mein Vater?" Er nickte erneut.
 "Meine Eltern sind beide tot?" Mycroft konnte mir nicht länger in die Augen sehen, doch während er seinen Blick abwandte, nickte er.
 "Der Mörder meiner Mutter läuft noch frei da draußen herum?"
 "Wir wissen noch nicht wer er ist, sind ihm aber auf der Spur", beschwichtigte Mycroft meine aufwallende Wut. "Aber es ist besser wenn du nichts von all dem in die Hand nimmst."
 Ich hatte nicht vor eine Heldin zu spielen.
 "Wie wird es jetzt weiter gehen?", fragte ich und setzte mich aufrechter hin. "Wo werde ich jetzt leben? Was ist mit... Sherlock, Lilith? Wissen Mum und Dad es?"
 "Mum und Dad wissen es. Und sie haben ihre Ägyptenreise vorgezogen. Sie fliegen Morgen. Ich denke, du willst erstmal einen gewissen Abstand zu der Familie haben. Und du wirst weiterhin hier wohnen. Mit deiner Schwester. Ihr braucht jetzt Zeit für euch. So viel ihr wollt."
 "Sherlock?", fragte ich erneut. Meine Stimme zitterte.
 "Frag mich das in drei Jahren nochmal", sagte Mycroft. "Dann habe ich vielleicht eine Antwort darauf."

Ich brachte Mycroft noch zur Tür. Nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, griffen meine Hände langsam zu meinem Handy. Ich öffnete das Adressbuch. Mein Finger hielt über der Nummer von Ben inne. Sollte ich, sollte ich nicht? Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, warf ich das Telefon von mir. Es landete klappernd auf dem Boden.
 Wie dumm von mir. Ich kämpfte mit den Tränen und wollte wieder in meinem Zimmer verschwinden, als mein Blick in den offenen Raum, meiner Schwester fiel. Sie hatte die Tür nicht geschlossen. Ich sah nun, wie sie eingerollt auf ihrem Bett lag und trat neugierig näher. Ihr dunkles Haar lag ausgebreitet auf der Bettdecke, Knie und Arme hatte sie an sich gezogen. Ihre Lippen bewegten sich, Tränen liefen über ihre Wangen. Ich wusste, dass sie schlecht träumte. Langsam kletterte ich neben sie auf die weiche Matratze und legte mich an ihre Seite. Sie roch gut, dass Shampoo musste sie mir unbedingt mal leihen. Ich legte einen Arm um sie und wischte ihre Tränen fort. Sie hörte auf zu zittern, ihr Atem beruhigte sich. Und langsam fielen auch mir die Augen zu.

Jules HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt