"Noch mehr?", frage ich und halte Xavier die Popcorn Tüte hin.
Nickend greift er rein und ich ziehe sie wieder zu mir, während ich die Leute beobachte, die an unserer Bank vorbeilaufen.
Ein Blatt, von den großen Bäumen in diesem Park, landet auf meiner Jeans und ich fege es weg, beobachte, wie es weiter durch die Luft fliegt und auf dem Rasen liegen bleibt.
Wie gerne würde ich jetzt dieses Blatt sein.
Liegen, nichts tun, niemand sein und vor allem nicht denken, denn mein Kopf raucht immer noch, auch wenn das Gespräch mit dem Arzt nun schon eine Stunde her ist.
Wobei das ziemlich wenig Zeit ist, so eine Nachricht zu verstehen und zu verdauen.
"Wieso weinst du nicht?"
Die Frage kommt wie automatisch aus meinem Mund und ich stopfe mir schnell noch Popcorn hinein, welches ich mir auf dem Weg hierher gekauft habe, um nicht noch einmal so etwas dummes zu fragen.
Dennoch interessiert es mich wirklich, weil er seit der Diagnose einfach nur still umher schaut.
"Ich denke, es ist einfach noch nicht wirklich real für mich."
Sein Kopf dreht sich zu mir und er erwidert meinen Blick.
"Mein Kopf versteht das nicht."
Das habe ich mir gedacht, denn ich verstehe es selbst auch nicht.
Es ist, als wäre es ein Scherz und der Arzt kommt jeden Moment, um zu sagen, dass er einen Spaß gemacht hat.
"Ich habe Angst."
Fragend sehe ich zu ihm auf, allerdings schaut er bloß geradeaus.
"Ich habe Angst vor dem Moment, in dem ich es realisiere.
Wenn mir klar wird, dass ich krank bin.
Dass ich unheilbar krank bin.
Dass ich sterben werde."
Seine Stimme zittert und ich senke traurig den Blick, schließe die Augen und lehne meinen Kopf an seine Schulter.
"Ich habe auch Angst", flüstere ich so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob er es überhaupt gehört hat.
Und ob man es glaubt oder nicht, es stimmt.
Ich habe tatsächlich Angst.
Natürlich sind Xavier und ich keine besten Freunde und wir hatten einige Auseinandersetzungen, aber er ist trotzdem ein Mensch.
Ein Mensch, der zu meinem Alltag gehört, der mich zum Lachen und zum Verzweifeln gebracht hat.
Er ist vielleicht ein Idiot, aber sicher kein schlechter Mensch."Guten Morgen."
Matt schließt mich in die Arme, als ich am nächsten Tag den Kursraum betrete.
"Morgen", brumme ich, lasse mich auf meinen Stuhl fallen und haue meinen Kopf bei dem Versuch, ihn auf den Tisch zu legen, dagegen.
"Verfluchter Mist!", maule ich und lehne mich zurück, während ich mit zusammengekniffenen Augen meine Stirn halte.
"Ganz ruhig, was ist denn mit dir passiert?"
"Mir geht's nicht gut", beschwere ich mich und betrachte Matt dabei, wie er sich neben mich setzt und seinen Pullover glatt streicht.
"Wahrscheinlich lautet die Diagnose Stress", meint er und fährt sich durch die schwarzen Haare.
"Hör auf damit!"
Seine Augen weiten sich und ich versuche mich wieder zu entspannen.
"Tut mir leid, ich wollte nicht so schreien."
Seufzend vergrabe ich mein Gesicht in den Händen.
"Streich einfach das Wort Diagnose aus deinem Wortschatz, bitte.
Danke."
Matt fährt meinen Rücken auf und ab und sieht mich besorgt an, als ich meinen Blick wieder hebe.
"Darf ich der Person bitte alle Zähne raus schlagen, wegen der du traurig bist?"
Ich nicke bloß erschöpft und hoffe, dass er die Diagnose verprügelt.
"Schau zu und lerne, ich habe mir in der Woche, in der ich krank war, viel vorgenommen."
Überrascht sehe ich meinem besten Freund hinterher, der zwei Reihen vor läuft und vor Tracy stehen bleibt.
"Na?"
Er setzt sein übliches Grinsen auf und sie streicht sich ihr blondes Haar hinter ihr Ohr.
"Stell dir vor du findest einen Betrag an Geld, der so hoch ist wie deine Handy Nummer."
Matt stützt sich auf ihrem Tisch ab und sie sieht zu ihm auf.
"Wieviel Geld hättest du dann?"
Kopfschüttelnd schlage ich mir gegen die Stirn und nehme Tracys Lachen wahr.
"Der Spruch war schlechter als der von vor zwei Wochen", sagt sie und auch Matt lacht.
"Warte ab.
Der nächste wird dich überzeugen."
Damit läuft er wieder mit den Händen in den Hosentaschen zu mir und setzt sich.
"Das war der schlechteste Spruch überhaupt.
So bekommst du nie ihre Nummer."
Er versucht das schon seit mindestens einem Jahr.
Bis jetzt ohne Erfolg.
Aber komplett desinteressiert ist sie auch nicht.
Das Verhältnis zwischen den beiden ist ziemlich seltsam.
"Gib die Hoffnung niemals auf, Mary."
Lächelnd sieht er mich an und meine Mundwinkel zucken nach oben.
Gib die Hoffnung niemals auf."Gute Besserung."
Addison am Telefon bedankt sich noch und ich hoffe, dass sie morgen wieder zu den Kursen kommen wird, bevor ich auflege und mein Handy in die Tasche stecke.
Gähnend laufe ich über den Rasen in Richtung zweites Gebäude, weil dort mein nächster Kurs stattfindet.
Da heute so angenehmes Wetter ist, entscheide ich mich nicht für den Gang, der die beiden Gebäude verbindet, sondern laufe außenrum.
Als ich an dem großen Baum hier im Hof vorbei laufe, fällt mein Blick auf die Bank daneben, die allerdings durch einige Büsche verdeckt wird.
Die Bewegungen dahinter entgehen mir allerdings nicht.
Langsam laufe ich auf das Gestrüpp zu und entdecke Xavier, als ich um den Busch gegangen bin.
Er hat die Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln abgestützt und vergräbt sein Gesicht in den Händen.
Sobald ich ihn so sehe, bleibe ich stehen und mein Körper scheint plötzlich so schwer zu sein, dass ich nicht mehr laufen kann.
Jemanden so verzweifelt zu sehen bricht mir mein Herz.
Und jetzt verstehe ich es.
Xavier wird gehen, er wird eines Tages diese Highschool hier verlassen, wie jeden Tag.
Er wird nach Hause gehen, wie jeden Tag, mit dem Unterschied, dass er nicht mehr wieder kommt.
Er wird an dem Ausflug nächstes Jahr nicht teilnehmen.
Er wird nicht beim Abschlussball da sein.
Er kann es einfach nicht.
Meine Augen fangen an zu brennen und als er den Blick hebt und meinen erwidert, kann ich sehen, dass er es realisiert hat.
Dass er es verstanden hat.
Mit glasigen Augen steht er auf und kommt mit schnellen Schritten auf mich zu, bevor ich ihn fest in die Arme schließe und mein Gesicht in seinem T-Shirt vergrabe.
Es dauert keine Minute, bis meine Schulter langsam nass wird und ich leise Geräusche von ihm wahr nehme.
"Es ist okay", flüstere ich, drücke ihn fester und kneife die Augen zusammen, während mir eine Träne die Wange hinab läuft.
"Es ist okay zu weinen."
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Das letzte halbe Jahr
Teen Fiction„Noch vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, dass ich diese Krankheit als Diagnose gestellt bekommen würde. Dass es ein Todesurteil ist, eine unheilbare Krankheit, die mich nach und nach in sogenannte Schübe versetzt, die mir irgendwann die Stim...