30 - Sternbilder

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"Willst du morgen bei mir im Garten zelten?", lese ich den kleinen grünen Zettel, den Xavier mir während dem Kurs zu schiebt.
Ich erwidere kurz seinen Blick und schreibe dann in schwarz eine Antwort.
Sein Blick fliegt von links nach rechts und er grinst, nachdem ich zugestimmt habe.
Da der Zettel zu klein ist, nimmt er sich seinen karrierten Block und schlägt ihn in der Mitte auf.
Kannst du dich noch erinnern, als ich dir relativ am Anfang von meinem Urlaub zusammen mit meiner Mutter erzählt habe?
Dass wir in einem wunderschönen Hotel in Italien, beziehungsweise Florenz waren und dort im Garten gezeltet haben?, schreibt er in geschwungenen Buchstaben auf das Blatt Papier und hält dabei die Kästchen Vorgabe ein.
Ich hingegen krizzle ein großes Ja auf das Papier und muss währenddessen lachen, was einige um uns herum mitbekommen.
Mein Blick schweift nach vorne, während ich immer noch über diese verrückt Idee von damals nachdenke.
Der normalerweise äußerst strenge Professor, welcher uns sonst sofort rausgeschickt hätte, wirft mir ein kaum merkbares, aufmunterndes Lächeln zu und scheint dabei selbst nicht dem Schüler zuzuhören, der die soeben gestellte Frage beantwortet.
Ich erwidere es kurz, bevor ich mich wieder Xavier zuwende, der das Blatt zu mir schiebt.
Stellen wir uns für einen Abend vor, diese kleine Stadt hier ist Florenz, mein Haus ein tolles Hotel und mein Garten voll mit wunderschönen Blumen, einem großen Brunnen und irgendwelchen kitschigen Figuren.
Stellen wir uns vor, wir liegen vor dem Zelt auf der Wiese, sehen in den Himmel voll mit Sternen, obwohl wahrscheinlich kein einziger da ist.
Wir suchen den großen Bär und den großen Wagen in den Sternen, fühlen die warme Abendluft, obwohl wir wahrscheinlich ohne Jacke erfrieren werden.
Wir vergessen was das hier wirklich ist und verschwinden für ein paar Stunden in eine andere Welt.
Ein Lächeln ziert meine Lippen und ich flüstere:"Das hört sich wundervoll an."

"Kannst du dich erinnern?", grinse ich breit und Xaviers Blick fällt auf das kleine Café hier in der Stadt.
"Das erste Date von Sean und Addison.
Und unser erstes Date, dass aber gründlich schief gelaufen ist.
Erzwungenes Date", sage ich und denke an diesen Tag zurück.
Wie Xavier und ich uns gegenüber gesessen sind.
Wie wir uns ständig gegenseitig dumm angemacht haben und es nicht aushalten konnten.
Wie ich rausgestürmt bin und er mir widerwillig auf Seans Anweisung gefolgt ist.
Wie er plötzlich beinahe zusammengeklappt ist und ich ihn zur Bank stützen musste.
Zu der Zeit hätte ich nie gedacht, dass es so weit kommt.
Dass wir uns so gut verstehen werden, dass wir, und vor allem er, so viel durchmachen müssen.
Dass er MDP als Diagnose gestellt bekommt.
Es kommt wir vor wie eine Ewigkeit, die seit diesem Tag vorbeigegangen ist und doch ist es viel zu wenig Zeit gewesen.
"Hat deine Mutter mit dir darüber gesprochen, wie es weiter gehen wird?
Was der Arzt gesagt hat, als du im Krankenhaus lagst?"
Es ist seltsam, das so ruhig auszusprechen und ich umklammere die Griffe seines Rollstuhls fester, während er etwas in seine Handynotizen tippt.
Ich sollte die fünf Monate schaffen, meine Organe geben langsam den Geist auf und ich bin im Endstadium der Krankheit.
Sie hat es mir gesagt, ja, aber das war nicht nötig.
Ich spüre das klar und deutlich.

"Danke, Catherine."
Sie stellt das Tablett mit zwei Flaschen Wasser und zwei Gläsern vor uns auf dem Gras ab und antwortet:"Gern geschehen", bevor sie den Garten wieder verlässt.
"Tatsächlich sind ein paar Sterne zu sehen", sage ich beeindruckt und zähle sie, allerdings brauche ich dazu nicht lange.
Xavier liegt neben seinem Rollstuhl im Gras, die Hände auf dem Bauch ruhend, der Blick im Himmel.
Ich tue es ihm gleich, lasse mich neben ihm nieder und nehme auch seine Position mit den Händen ein.
"Mit ganz viel Fantasie könnte das der große Wagen sein."
Ich zeige in den dunklen Himmel auf vier Sterne, die eher aussehen wie ein Quadrat.
Er grinst breit, als ich zur Seite blicke.
Und so liegen wir da.
Minute um Minute, Stunde um Stunde.
Zwei einhalb Stunden liegen wir mit Sicherheit hier, ohne ein Wort zu sprechen.
Es mag langweilig klingen, aber es ist einfach nur entspannend.
Es klingt verrückt, aber ich habe das Gefühl, mein Leben geht selbst irgendwie vorbei.
Zumindest ein Teil, denn ein Weg in meinem Leben endet heute, endet morgen, endet bald.
Ich werde am Ende ankommen und merken, dass ich nun wo anders hingehen muss.
Ich werde abbiegen müssen und mich in eine andere Richtung bewegen.
Doch die Zeit, die ich damit verbracht habe, diesen Weg zu erklimmen, werde ich nie vergessen.
Und das ist auch gut so.
Wir nutzen nicht die komplette Reichweite unseres Gehirns.
Viele sagen, wir verwenden bloß zehn Prozent, andere sagen ein wenig mehr oder ein wenig weniger.
Würden wir alles nutzen, was unser Gehirn hergibt, würden wir uns jedes Detail merken.
Vielleicht klingt das im ersten Moment total überzeugend und gut.
Vielleicht ist es das auch, auf die Schule bezogen.
Aber vielleicht ist es das auch nicht.
Ich denke wir würden komplett neue Menschen sein.
Wir würden so viel mehr Erinnerungen haben, mehr Dinge, die uns immer noch prägen.
Unser Gehirn funktioniert ähnlich wie der Darm, zum Beispiel.
Ein, auf den ersten Blick, seltsamer Vergleich, aber es stimmt.
Das Gute wird verdaut, das Schlechte ausgeschieden.
Ausschlaggebende, schlechte Momente in unserem Leben bleiben oft dennoch tief in uns sitzen, aber das meiste vergessen wir mit der Zeit.
Eine schlechte Note, vergangener Liebeskummer, eine kleine Blamage vor fremden Leuten.
Unser Gehirn befreit uns eigentlich davon, uns den Kopf über schlechte Dinge zu zerbrechen, aber wir zwingen es manchmal dazu und machen und ewig lang Gedanken.
Wenn dich jemand fragt, was das schönste Erlebnis in deinem Leben war, fallen dir nicht alle einigermaßen schönen Momente ein, die du jemals erlebt hast, sondern der, der so bedeutend war, dass du dich immer zurück erinnern wirst.
Und ich werde mich immer daran zurück erinnern, wie Xavier und ich im Garten eines schönen Hotels in Florenz zelten und die Sterne beobachten.

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