"Was ist passiert?"
Total außer Puste stürme ich durch die Tür des Krankenhauses und Sean dreht sich mit einem fertigen Gesichtsausdruck zu mir.
"Was ist mit Xavier?"
Meine Stimme ist auf einmal total leise und ich bekomme kaum mit, wie ich die Luft anhalte.
Alles was zählt ist die Antwort von Sean.
"Ich habe keine Ahnung.
Eine Freundin hat mich angerufen und mir bloß erklärt, dass sie Xavier am Nachmittag schwer verletzt im Hof der Schule gefunden hat und er im Krankenhaus ist, somit bin ich direkt her gefahren", erklärt er mit zittriger Stimme und ich lasse mich mit einem pochenden Herzen auf den Stuhl fallen, der neben uns an der Wand steht.
Während ich mein Gesicht in den Händen vergrabe, macht sich in mir Panik breit und ich scheine jedes Haar an meinem Körper zu spüren, wie es sich aufstellt.
"War es ein Schub oder ein Unfall?"
Meine Stimme ist kaum ein Flüstern und ich sehe ängstlich zu Sean hoch, der sich tief ausatmend neben mir nieder lässt.
"Was wäre dir lieber?"
"Mir wäre so einiges lieber als das hier", entgegene ich wahrheitsgemäß, wende den Blick wieder von ihm ab und beobachte kurz eine Ärztin, die an uns vorbei huscht.
"Stell dir vor diese Freundin wäre nicht am Nachmittag dorthin gekommen?
Es fanden keine Kurse statt, man hätte ihn vielleicht erst am nächsten Morgen gefunden", vermute ich und starre den dunkelgrauen Boden an, der langsam verschwimmt.
"Vielleicht wäre er dann nicht mehr am Leben."
Die Worte sind so leise, dass ich nicht sicher bin, ob ich sie überhaupt ausgesprochen habe.
"Hey."
Sean dreht mich zu sich und legt seine Arme um mich, bevor auch ich ihn mit meinen umschließe und meine Augen zudrücke.
"Sie hat ihn gefunden und fertig.
Überleg dir nicht, was hätte vielleicht passieren können.
Damit machst du dich nur noch mehr fertig."
Als Antwort nicke ich bloß leicht und unterdrücke meine Tränen nicht mehr, denn jetzt ist es nicht nur Xaviers Unfall, der mich überkommt.
Nein, es ist auch Liams Rückkehr, der eventuelle Umzug und Xaviers allgemeine Lage.
"Unglaublich, wie schnell ein Mensch einem ans Herz wachsen kann, oder?"
Tatsächlich überfordert er mich mit dieser Frage kurz, als er sich wieder von mir löst und ich mir die Tränen wegwische.
Allerdings hat er Recht.
Vor kurzem haben wir uns nur Beleidigungen an den Kopf geworfen, die wirklich ernst gemeint waren und ich hätte tatsächlich nicht gedacht, dass es sich so schnell ändern kann.
"Ich schaffe es aber einfach nicht, Mitleid von wirklich mögen zu trennen", erkläre ich verzweifelt und hocke mich seitlich auf den Stuhl, sodass ich meine Beine mit den Armen umschließen und meinen Kopf an die kahle Wand lehnen kann.
"Aber ich kann das und ich sage dir, dass es kein Mitleid ist."
Sein Blick folgt kurz einem Mann, der an uns vorbei rennt, bevor er wieder auf den Wasserspender gegenüber von uns starrt.
"Wenn ich dir am Telefon gesagt hätte, dass er beim Sport einen Unfall hatte und wir hätten ausschließen können, dass es mit der Krankheit zu tun hat, wärst du dann hier?"
Er dreht seinen Kopf wieder zu mir und ich sehe ihn mit leicht offenem Mund an, allerdings muss ich nicht überlegen.
"Ja, das wäre ich.
Ich wäre mit derselben Panik hier gesessen, wie ich es jetzt tue."
Meine Stimme klingt aufeinmal fest und entschlossen, denn ich kann es nicht bestreiten.
Ich mag ihn, auch wenn er manchmal ein totaler Vollpfosten ist.
Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, springt Sean auf und mein Blick schnellt nach oben.
Eine Ärztin steht vor uns und auch ich stehe innerhalb einer Sekunde.
Selbst meine Augen scheinen vor Angst zu zittern und ich höre sogar die Tropfen, die aus dem Wasserspender in den Becher laufen.
"Sind Sie Teil der Familie von Mister Thomson?"
Sean und ich schütteln synchron den Kopf.
"Dann tut es mir leid, aber ich kann nur Familienangehörigen Informationen zu..."
"Ich bin die Mutter!"
Misses Thomson eilt total außer Puste auf uns zu und ihr scheint jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen zu sein.
"Ihrem Sohn geht es soweit gut.
Sein Zustand ist stabil, er hat allerdings eine leichte Gehirnerschütterung und einige Verletzungen", erklärt die Ärztin und ich male mir schon aus, wie ich Xavier gleich erklären muss, wer ich bin und wie er heißt.
"Können wir zu ihm?"
"Ja", antwortet die Frau in weiß zu ihrem Wohl, denn ich hätte nichts anderes akzeptiert.
"Wieso wusste ich, dass du nicht bloß wegen der Hausaufgaben gekommen bist?"
Seine Mutter lächelt mich wissend an und ich grinse unsicher zurück.
Wir folgen der Ärztin durch den langen Gang und jeder Schritt scheint ihn länger zu machen, während ich überlege, was passiert sein könnte.
Als ich wieder aufmerksam werde, stehen wir vor der grauen Tür und die Frau ist weg.
"Geh zuerst rein."
Verdutzt sehe ich Misses Thomson an und weiß nicht so Recht, ob sie nicht doch mit jemand anderem spricht.
Nachdem ich hinter mich gesehen habe und dort keiner steht, weiß ich es.
"Wollen nicht lieber Sie zuerst rein?
Sie sind schließlich seine Mutter."
"Glaub mir, ich kenne dich nicht gut und weiß nicht, wie genau du zu meinem Sohn stehst, aber ich bin mir sicher, dass er dich lieber sehen will.
Und nenn mich bitte Catherine."
Sie hat ein trauriges Lächeln auf den Lippen und ich befürchte, dass zwischen ihr und ihrem Sohn etwas vorgefallen ist.
Allerdings werde ich nun sicher nicht danach fragen, sondern bedanke mich und öffne dann langsam die Tür.
Mein Blick fällt sofort auf das Bett mit der weißen Bettwäsche, die Geräte, das große Fenster und natürlich Xavier, der hilflos und klein in diesem riesigen Bett liegt, umgeben von noch größeren Maschinen, gefesselt mit kleinen Schläuchen.
"Mary."
Obwohl seine Stimme so leise ist, zucke ich kurz zusammen und erwidere seinen Blick.
"Ich bin's", lache ich in mich hinein, laufe auf ihn zu und lasse mich neben ihm nieder, da ich so froh bin, dass es ihm gut geht.
"Deine Mutter und Sean sind auch da", teile ich ihm sofort mit und kann dann einfach nicht anders, als mich zu ihm runter zu beugen, meinen Kopf auf seiner Brust abzulegen und ihn zu umarmen, so gut es eben geht.
"Was ist passiert?", frage ich vorsichtig, löse mich leicht von ihm und betrachte seine Kratzer im Gesicht genauer, bevor ich ihm eine Strähne aus der Stirn streiche.
Mein Blick mustert einmal sein komplettes Gesicht und als er auf seinen trifft, richte ich mich schnell wieder auf.
"Ich war am Nachmittag in der Highschool.
Auf dem Hof habe ich dann an meinem Projekt für die Obdachlosen weitergearbeitet und stand auf der Leiter.
Meine Beine haben angefangen zu zittern und ich habe im Rechten komplett das Gefühl verloren.
Dann bin ich von der Leiter gefallen und mit dem Kopf gegen die Mauer geknallt."
Ich verziehe das Gesicht, was ihn kurz zum Lachen bringt.
"Nun schau nicht so.
Ich bin froh, dass ich überhaupt noch auf eine Leiter kann."
"Wie kannst du so leicht damit umgehen?"
Die Frage liegt mir schon seit Tagen auf der Zunge und ich muss es einfach wissen.
"Entweder bist du wirklich gut im Gefühle verstecken, oder du findest das alles gar nicht schlimm.
Ich würde bloß noch zu Hause hocken und heulen und auch wenn du einer von der Sorte bist, die das Beste noch aus der Zeit machen wollen.
Du machst dasselbe wie davor, du lebst deinen Alltag weiter.
Keine To-Do Liste, nichts."
Ich betrachte eines der Geräte genauer und frage mich was das sein kann, bevor er antwortet.
"Wieso sollte ich zu Hause sitzen und weinen?"
Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen und erwidere seinen neutralen Blick.
"Weil du, weil du stirbst", sage ich leise.
"Und genau das ist der Punkt."
Mit jedem Satz verwirrt er mich nur noch mehr und das scheint man mir anzusehen, denn er seufzt.
"Wer hat gesagt, dass man traurig sein muss, wenn man früher stirbt?
Wer hat gesagt, dass der Tod schlimm ist, Mary?
Keiner weiß, was nach dem Tod geschieht und trotzdem sind sich alle sicher, dass er schlecht ist.
Also wie kommen sie darauf?
Genau, weil sie egoistisch sind.
Sie werden von dieser Person getrennt und deshalb ist es schlecht.
Dabei bedenken sie nicht, dass es der verstorbenen Person dann vielleicht besser geht.
Dass sie an einem Ort ist, ohne Schmerz und Gewalt.
Und die Menschen, die sterben, haben bloß Angst vor der Ungewissheit.
Sie wissen nicht, was sie erwartet, dabei ist die Ungewissheit manchmal besser als das, was man weiß was kommt.
Vielleicht kommen wir tatsächlich in den Himmel, vielleicht werden wir ein zweites Mal geboren, vielleicht passiert auch gar nichts, keine Ahnung.
Und deshalb muss ich mich auch nicht ständig damit konfrontieren, indem ich so eine Liste erstelle.
Ich habe weniger Zeit und deshalb nicht die Chance, noch so viel hier zu erleben und fertig.
Da muss ich nicht noch alles mögliche in dieses halbe Jahr quetschen und mich damit stressen."
Er macht eine kurze Pause und ich senke den Blick.
"Die Menschen fürchten den Tod sogar mehr als den Schmerz.
Es ist komisch, dass sie ihn fürchten, denn das Leben schmerzt oftmals viel mehr als der Tod.
Im Moment des Todes ist dieser Schmerz vorbei.
Ja, ich glaube er ist ein Freund."
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Das letzte halbe Jahr
Teen Fiction„Noch vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, dass ich diese Krankheit als Diagnose gestellt bekommen würde. Dass es ein Todesurteil ist, eine unheilbare Krankheit, die mich nach und nach in sogenannte Schübe versetzt, die mir irgendwann die Stim...