Erstaunlich fit laufe ich zwei Tage später den Gang entlang zur Cafeteria.
Da Addison noch zum Sekretariat musste und Matt einfach abgehauen ist, nehme ich an, dass wir uns dort treffen, wo es endlich etwas zu essen gibt.
Als ich Xavier zusammen mit Sean und Aaron an der Ecke vor der Cafeteria und neben der palmenartigen Pflanze entdecke, scheint mein Körper auf einmal wieder zu ermüden und in den Zustand der letzten Tage zu verfallen.
Als mein Blick anschließend Xavier genauer mustert, sticht eine weitere Nadel in mein Herz.
Xaviers Haltung ist nicht mehr die aufrechte und doch lässige, die einem immer gesagt hat Hier bin ich.
Stattdessen hängen seine Schultern runter und die Arme sind distanziert verschränkt, anstatt offen für Neues.
Seine hellbraunen Haare liegen strähnig, matt und unordentlich auf seinem schmalen Kopf und Gesicht, welches mich am meisten dazu bringt die Augenbrauen zusammenzuziehen.
Die hellbraunen Augen haben etwas an Glanz und Ausstrahlung verloren, seine Haut ist blass und hat vom Unfall noch ein paar Kratzer.
Seit wann sieht er schon so aus?
Habe ich das die letzten Tage übersehen, weil ich so damit beschäftigt war das zwischen uns wieder geradezubiegen?
Nun scheint nur noch Aaron derjenige zu sein, der er auch vor der Diagnose seines besten Freundes war.
Als Xavier auf einmal meinen Blick erwidert, läuft mir eine Gänsehaut den Rücken hinab und ich würde im Moment alles dafür geben, damit er mich nie wieder so ansieht.
Dieser Ausdruck von Enttäuschung und Wut ist schrecklich.
"Ich hab dich!"
Erst, als ich Matts laute und triumphierende Stimme höre, erwache ich aus meiner Trance und auch die drei Jungs drehen sich zu meinem besten Freund, der mit dem Finger auf Aaron zeigend den Gang entlang kommt.
Und das nicht allein.
Anna Rushton, soweit ich mich erinnern kann, ist ein Hauptbestandteil der Redaktion, die jede drei Wochen das Schülermagazin rausbringen.
Während ich auf die verwirrte Truppe zugehe, kommt auch Addison um die Ecke und läuft direkt zu uns.
"Du warst es!", beschuldigt Matt den unschuldig aussehenden Aaron, während wir alle zwischen den beiden hin und her sehen.
Nach ein paar Sekunden wird mir das zu blöd und ich frage verdutzt:"Was ist hier los?"
Matt schiebt Anna zwischen ihn und Addison und fordert sie mit einer Geste auf zu sprechen.
"Aaron kam vor einer Woche ungefähr zu mir in die Redaktion und hat nach der Unterschriftenliste gefragt, dessen Unterschriften ich von den Schülern mal für ein Projekt gesammelt habe.
Ich habe sie ihm nicht gegeben, ist natürlich klar.
Gestern ist dann Matt auf mich zugekommen, denn er konnte sich auch noch daran erinnern.
Als ich nachgesehen habe, war die Liste weg.
Und das wahrscheinlich schon einige Tage länger."
Das rothaarige, etwas fülligere, aber keinesfalls dicke Mädchen verengt kaum merkbar die Augen, während sie Aaron ansieht.
"Lasst mich mal überlegen, wieso der gute Aaron die Unterschriften gebraucht hat, oder eher welche Unterschrift genau und wofür."
Während Matt gespielt nachdenkt, hebt er den Brief, den ich anscheinend an Xaviers Vater geschickt habe, in die Luft.
"Und das war noch nicht alles", redet er weiter, wie ein Ermittler, während er den Zettel zurück in seine Tasche schiebt.
Ich traue mich überhaupt nicht Xavier oder irgendwen anders anzusehen.
Abgesehen davon bin ich sowieso viel zu schockiert und überfordert gerade.
"Ich habe vielleicht zu nicht ganz legalen Mitteln gegriffen und Leute da mit reingezogen, die mir einen großen Gefallen getan haben und die ich keineswegs verraten darf, da sie sonst ihren Job verlieren, aber jetzt habe ich es schwarz auf weiß."
Und da folgt schon das nächste Blatt Papier, welches er voller Stolz und Freude in die Luft hält.
"Wir haben das Gerät zurückverfolgen können, mit dem Marys Twitter Account ganz eindeutig gehackt wurde.
Und was für eine Überraschung, der Laptop ist unter Aarons Namen angemeldet", beendet mein bester Freund total glücklich seine kleine Präsentation, die aber doch so viel ausgesagt hat.
Es herrscht Totenstille und ich drehe langsam den Kopf in Richtung Xavier, Sean und Aaron.
Seans Mund steht leicht offen, während er Aaron einfach nur ansieht.
Xavier hingegen starrt auf den Boden und ich wende schnell wieder den Blick von ihm ab, obwohl er mich sowieso nicht sehen kann.
Keiner bewegt sich und würde man die ganzen anderen Schüler hier ignorieren, würde man wahrscheinlich sogar unsere Herzen schlagen hören, wobei meins gerade stehen bleibt.
Xavier wirkt wie eine tickende Zeitbombe, die explodiert, wenn auch nur irgendwer etwas sagt.
"Das einzige, was ich nicht herausfinden konnte, ist, woher er das mit Xaviers Vater weiß, wenn er anscheinend bloß Mary etwas erzählt hat", fügt Matt zum Schluss noch hinzu und bekommt direkt eine Antwort vom Beschuldigten.
"Und das werdet ihr auch wohl nie erfahren."
Noch im selben Moment, als er spricht, packt ihn Xavier auch schon am Shirt und schleudert ihn gegen die Scheibe der großen Fenster.
"Du beschissenes Arschloch!", ruft er völlig außer sich und zieht Aaron wieder zu sich, allerdings nur, um ihn nicht mal eine Sekunde später noch stärker gegen das Fenster zu drücken.
"Wie kannst du mich als besten Freund nur so hintergehen!
Ich bring dich um!", schreit er und treibt Aaron die Angst ins Gesicht, die mich dazu auffordert einzugreifen, bevor Xavier unkontrolliert auf ihn einschlägt.
"Lass ihn los!"
Auch die anderen scheinen denselben Plan zu haben und greifen nach dem rot angelaufenen Xavier, um ihn von Aaron, seinem nun ehemaligen besten Freund, wegzuzerren.
"Wie konntest du nur!?"
Für einen kurzen Moment überkommt auch mich die Wut und ich schubse ihn so fest ich kann gegen das Glas, auch wenn ihm das wahrscheinlich nicht so viel ausgemacht hat wie bei Xavier.
"Du hast es zerstört, du blöder Vollidiot!"
Ich hämmere wild gegen seinen Brustkorb und spüre seine Hände, die meine Oberarme greifen, bevor er mich von sich schieben will, aber so leicht lasse ich nicht locker.
Wie konnte er Xavier und mir die ganze Zeit ins Gesicht lächeln und gnadenlos dabei zusehen, wie er anfängt mich zu hassen?
"Mary!"
Seans Stimme bringt mich zurück auf den Boden der Realität und ich wehre mich nicht, als er mich von diesem Arschloch weg schiebt.
Tränen schießen mir in die Augen aus Wut, Trauer und Enttäuschung zugleich.
Noch im selben Moment, in dem ich mir total aufgelöst über das Gesicht streiche, umgibt mich dieser eine Duft und zwei Arme schlingen sich um mich.
Auch ich lege meine Arme sofort um Xaviers Rücken und unterdrücke mein Weinen.
Es ist vorbei.
Diese Hürde haben wir überwältigt, geschafft.
"Und nein, Mary.
Er hat es nicht zerstört", sagt er leise, umarmt mich enger und treibt mir damit ein Lächeln auf die Lippen.
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Das letzte halbe Jahr
Teen Fiction„Noch vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, dass ich diese Krankheit als Diagnose gestellt bekommen würde. Dass es ein Todesurteil ist, eine unheilbare Krankheit, die mich nach und nach in sogenannte Schübe versetzt, die mir irgendwann die Stim...