"Aaron..."
"Keine Sorge, ich werde ihm nicht jeden Knochen nacheinander brechen und zum Schluss das Genick", unterbricht Xavier mich mit ruhiger Stimme.
"Sonst hätte ich das schon längst gemacht.
Allerdings ist es nie zu spät."
Mit schockiertem Gesicht schlage ich ihm gegen den Arm, was ihn zum Kichern bringt.
Leicht grinsend sehe ich dem angenehm kühlen Wind entgegen, der mir ins Gesicht pustet und beobachte die langen Grashalme, die hier neben dem Eingang der Schule hin und her geweht werden.
Sein Gesichtsausdruck wirkt auf einmal ziemlich angestrengt und er kaut angespannt auf seiner Lippe rum, bevor er stehen bleibt und den Blick hebt.
"Hör zu, Mary", beginnt er und ich bleibe vor ihm stehen.
Im Hinterkopf, dass er seinen Bus verpassen wird, mit dem er heute mal unterwegs ist.
"Ich würde mich gerne jetzt schon von dir verabschieden."
Verwirrt runzle ich die Stirn und mustere sein Gesicht.
"Wir können uns doch an der Bushaltestelle verabschieden."
Als Antwort seufzt er erschöpft.
"So meine ich das nicht.
Ich rede von für immer verabschieden." Kopfschüttelnd nehme ich meine Hände weg, die er gerade greifen wollte und gehe einen Schritt zurück.
"Du spinnst doch", gebe ich verständnislos zurück und er schließt für einen kurzen Moment die Augen.
"Es könnte jeder Zeit passieren, verstehst du?
Ich könnte in den Bus steigen und zwei Minuten später sterben, an Ort und Stelle, ist dir das klar?"
Mit diesem Satz versetzt er mir eine unangenehme Gänsehaut und bei dem Gedanken, es würde nachher tatsächlich passieren, würde ich mich am liebsten übergeben.
Unfähig etwas zu sagen, schüttle ich kaum merkbar den Kopf und schließe ihn in eine feste Umarmung.
"Ich hab Angst", flüstere ich fast nicht hörbar.
"Du brauchst keine Angst haben, niemals. Erst Recht nicht vor dem Tod."
Es herrscht für einige Momente Stille und ich schließe die Augen, bevor ich spreche.
"Ich hab dein Buch", platzt es mir dann auf einmal raus und wir lösen uns gleichzeitig voneinander.
Er mit einem verwirrtem Blick, ich mit einem unsicheren.
"Du hast es gestern nach dem Kurs vergessen und ich habe es mitgenommen", erkläre ich und öffne meinen Rucksack, um das Buch rauszuziehen.
"Ich habe zwei Einträge gelesen", beichte ich ängstlich, halte es ihm hin und rechne damit, dass er gleich wütend sein wird. "Nur zwei?"
Überrascht hebe ich den Blick und er schiebt mir das Buch entgegen.
"Ich will, dass du mehr liest.
Du sollst keine Angst mehr haben und du solltest über manche Dinge nicht so denken, wie sie scheinen.
Lies es dir alles durch.
Es wird dir die Angst nehmen."
Während er diese Worte spricht, sind seine Augen für einen Moment wie ausgewechselt und sie strahlen mir hoffnungsvoll entgegen.
Wie benommen von seinen Worten und von dem Blick gefesselt, ziehe ich das Buch zu mir zurück und drücke es mir gegen den Oberkörper, bevor ich es mit meinen Händen umschließe.
"Ich will, dass du dich mir immer nah fühlst, wenn ich weg bin.
Du sollst mir so nah wie möglich sein und das geht am besten, wenn du Teil meiner Gedanken bist.
Wann immer du einen Rat brauchen wirst, liest du dir einen Eintrag durch.
Wann immer du dir zu einem Thema unsicher bist, lies etwas und wann immer du mich nicht vergessen willst, schlage das Buch auf, in Ordnung?"
Mit leicht geöffnetem Mund sehe ich ihm entgegen und die Worte überrollen mich wie eine Dampfwalze.
"In Ordnung."
Mit zittriger Stimme schließe ich erneut meine Arme um seinen Nacken und schließe erschöpft die Augen.
"Ich hab' dich lieb."
Ich klinge wie ein kleines Mädchen und fühle mich auch so, vor allem, als wir uns langsam und kaum merkbar hin und her wiegen, was mich fast zum Einschlafen bringt.
"Ich dich auch."
Ohne mich von ihm zu lösen spreche ich weiter und lasse auch weiterhin die Augen geschlossen.
"Wann willst du dich umbringen?" Ich bekomme die Worte kaum über die Lippen und kneife meine Augen fest zusammen, aus Angst vor der Antwort. Er scheint meine Anspannung zu bemerken und antwortet daher eher widerwillig.
"Bald.
Sehr bald."
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Das letzte halbe Jahr
Teen Fiction„Noch vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, dass ich diese Krankheit als Diagnose gestellt bekommen würde. Dass es ein Todesurteil ist, eine unheilbare Krankheit, die mich nach und nach in sogenannte Schübe versetzt, die mir irgendwann die Stim...