29 - Moment

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Das erste Mal in meinem Leben erlebe ich, was wirklicher Stress bedeutet.
Es ist nicht das, wenn du an deinem Schreibtisch sitzt und noch so viel Hausaufgaben hast.
Es ist nicht das, wenn du einen Termin hast und spät dran bist und es ist auch nicht das, wenn du noch nicht zu Hause bist, aber gleich dein Lieblingsfilm im Fernseher läuft.
Stress ist, wenn du im Bett liegst und kein Auge zu bekommst.
Wenn du zitterst und nicht zur Ruhe kommst.
Wenn du denkst, du hast noch so viel zu tun, es aber eigentlich nichts zu tun gibt.
Unruhig drehe ich mich auf die linke Seite und starre das herzförmige Kissen an, das neben mir liegt.
Das leuchtende Schild, das gegenüber von meinem Fenster ragt, wirft einen schwachen Lichtschein auf mich und mein Bett, weswegen ich die Umrisse von den Gegenständen hier erkenne.
Sobald ich meine Augen schließe habe ich das Bild im Kopf, wie ich einige Stunden später aufwache, es dann aber schon zu spät ist.
Xavier dann schon nicht mehr am Leben ist.
Tief ausatmend wechsle ich wieder die Seite und starre diesmal gegen meine blaue Wand, die mir jetzt aber nur schwarz erscheint.
Genauso wie alles andere in letzter Zeit.
Bis vor wenigen Wochen habe ich noch immer betont, dass er nicht so schnell gehen wird und wir noch Zeit haben.
Aber den Zeitpunkt haben wir nun schon lange überschritten.

Und irgendwann habe ich auch den Zeitpunkt überschritten, in dem ich gestresst bin.
Fünf Tage später bin ich komplett geschwächt von der Situation und begreife, dass es nun zu Ende geht.
Ich bin weit entfernt von Zusammenbrüchen, Heulkrämpfen und ähnlichem.
Ich genieße die letzte Zeit eindeutig mehr als die Zeit davor.
Das bedeutet nicht, dass ich überglücklich bin und zufrieden mit der Situation, aber ich nehme sie besser an als davor.
Ich lächle mit Xavier, ich lächle mit den anderen.
Ich schätze jeden Atemzug und achte mehr auf die Details.
Ich sitze im Garten, zusammen mit meinen Freunden, zusammen mit Sean, Addison, Matt und Xavier, denn das sind wir.
Wir sind alle Freunde.
Wir haben Spaß miteinander, sitzen einfach in der Sonne und trinken was, bis sich auch Catherine dazugesellt, wenn sie um fünf Uhr von der Arbeit kommt.
Ich stehe unter keinem Druck mehr, nicht mehr unter diesem unertragbaren Stress.
Ich mache mir keine Gedanken mehr über die Zukunft, überlege mir nicht bis ins kleinste Detail wie am Ende ich wirklich sein werde, wenn es vorbei geht.
Ich überlege mir nicht mehr, wie es ohne ihn sein wird, weil ich mir so selbst alles noch schlimmer mache.
Ich betrachte den Sonnenuntergang von der Terrasse aus und schließe langsam die Augen, weil ich so müde bin von dem Tag.
Aber vor allem setze ich mich nicht mehr unter Druck bezüglich den Dingen, die ich ihm noch sagen will.
Denn was es wirklich wert ist gesagt zu werden, das wird noch aus meinem Mund kommen.
Ursprünglich habe ich erwartet, dass die letzten Tage die schlimmste Qual werden.
Als Catherine mir gesagt hat, dass er die fünf Monate schaffen wird, wenn es gut läuft, dachte ich es würde die Hölle beginnen.
Aber ganz im Gegenteil.
Die Nachricht hat mir endlich gezeigt, dass ich es verstehen muss.
Dass ich verstehen muss, dass es jetzt zu Ende gegen wird und dass ich verstehen muss, dass das ganz bald die Realität sein wird und ich machtlos bin.
Es gibt nichts, was ich tun könnte, um dies zu verhindern und deswegen stehe ich unter keinem Druck.
Es hat mich von dem Druck befreit.
Mir gezeigt, dass die Zeit da ist zum Genießen.
Zum Leben.
Wenn er stirbt werde ich dennoch weinen.
Ich werde trauern und zusammenbrechen, aber der Zeitpunkt kommt noch.
Jetzt bin ich hier mit ihm.
Jetzt ist der Moment zum Lächeln, zum tief einatmen und die Vögel zwitschern zu hören.
Jetzt ist der Moment, in dem ich draußen in der Wärme sitze und ein kühles Glas Cola trinke, zusammen mit meinen Freunden.
Jetzt ist der Moment, in dem Xavier auch noch an diesem Tisch sitzt und mir mit seinen braunen Augen entgegen sieht.
Jetzt ist der Moment, in dem ich ihn umarme, ihm sage, dass er mir wichtig ist und ich ihm dankbar bin, dass es ihn gibt.
Genau jetzt ist der Moment, denn der wird nie wieder kommen.

Das letzte halbe Jahr Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt