Mary.
Wenn du das hier liest, solltest du entspannt draußen im besten Café der Stadt sitzen und einen schönen Ausblick auf die kleinen Gassen mit den süßen Restaurants haben.
Genieße die angenehme Luft in Florenz, die ist mit keiner sonst vergleichbar. Nebenebei empfehle ich dir den Espresso, der schmeckt hier total gut.Grinsend hebe ich den Blick vom Brief und werfe einen auf den bereits leeren Espresso neben mir auf dem kleinen, auf alt gemachten Tisch mit den Verzierungen.
Ich ziehe die Luft tief ein und beobachte kurz ein junges Pärchen, das sich lachend vor dem kleinen Restaurant gegenüber unterhält.Ich würde unglaublich gerne deine Reaktion sehen, wenn du das Hotel betrittst, in dem meine Mutter und ich auch waren.
Es ist unglaublich schön dort.
Schreib deinen Eindruck unbedingt in unser Gedankenbuch und auch dein Fazit zum Zelten im Garten.
Ich will mich in diesem Brief nicht schmerzvoll von dir verabschieden oder dir sagen, wie traurig ich über die ganze Sache bin.
Wir haben oft genug darüber gesprochenen und deswegen bin ich zu ein paar anderen Dingen nicht gekommen, die ich dir aber gerne ans Herz legen würde.
Ich weiß nicht, wie es bei dir war, aber ich habe als kleines Kind immer Sticker von Autos gesammelt.
Irgendwann hatte ich eine ganze Schachtel voll und manchmal habe ich welche benutzt, aber nie die Besten.
Nie das größte und schönste Auto, sondern immer nur die kleinen, die ich sowieso zu genüge hatte, weil ich mir den großen für etwas Besonderes aufheben und nicht verschwenden wollte.
Ich bin älter geworden, habe mich nicht mehr für Autosticker interessiert und hatte dann den großen und schönen immer noch, der dann letztendlich im Müll gelandet ist.
Damit will ich dir ganz einfach sagen, dass du dir niemals etwas aufheben solltest, um es später zu machen.
Nicht nur, dass du älter wirst, sondern es könnte auch anders zu Ende gehen.
Ich habe es mir immer aufgehoben, irgendwann mit Sean zu einem Konzert unseres Lieblingssängers zu gehen, aber die Tickets sind ziemlich teuer und ich wollte warten, bis der perfekte Moment kommt.
Und jetzt ist es zu spät.
Jetzt werde ich ihn niemals live erleben.
Wenn du Lust hast, Fallschirm springen zu gehen, dann mach es.
Wenn du deinem Gegenüber etwas wichtiges zu sagen hast, dann mach das sofort.
So vieles könnte euch plötzlich trennen und du wirst es bereuen.
Genauso, wie ich es bereue, eine Zeit lang immer anderen die Schuld gegeben zu haben, bloß um mich selbst nicht schlecht zu fühlen, aber davon wurde es nicht besser.
Im Gegenteil.
Wir sind nicht das, was die Leute von uns erwarten oder wie sie sich uns wünschen.
Wir sind, wer wir zu sein beschlossen haben.
Den anderen die Schuld zu geben ist immer einfach.
Damit kannst du dein ganzes Leben zubringen, aber letztlich bist du ganz alleine für deine Erfolge oder deine Niederlagen verantwortlich.Der Kellner reicht mir die Rechnung, ich ihm das Geld und er mir wieder das Rückgeld, bevor ich mir meine Jacke schnappe und mich erhebe.
Wenige Meter weiter entdecke ich eine schöne Brücke und entscheide mich, mal in diese Richtung zu laufen, bevor ich den Blick wieder auf das Blatt Papier senke.Ich weiß nicht, ob du dich noch an den Anfang erinnern kannst, als ich dir erklärt habe, dass ich sehr vorsichtig mit neuen Menschen in meinem Leben umgehe.
Dass ich lange Zeit brauche, um ihnen zu vertrauen und ich einfach vorsichtig bin, dass ich nicht unnötig enttäuscht werde.
Anhand von Aaron konnten wir ja sehen, dass ich mich manchmal doch blenden und täuschen lasse und deshalb will ich, dass du noch vorsichtiger bist.
Gerate bitte nicht an irgendwelche Vollidioten mehr, so wie Liam, denn ich will nicht, dass dich irgendjemand verletzt.
Wo wir schon bei Liam sind, diesem Dreckskerl.
Glaub ihm kein Wort.
Egal, was er noch alles probieren wird.
Der kann froh sein, dass ich nichts mehr tun kann, aber Sean wird ihm gehörig in den Arsch treten, wenn er auf dumme Ideen kommt.Lachend hebe ich den Kopf und bekomme einige schiefe Blicke, was mir allerdings vollkommen egal ist.
Denk bitte nicht, der Selbstmord war leicht für mich.
Bevor ich mühsam das Zelt verlassen habe, habe ich dich erstmal eine Ewigkeit angeschaut und trotzdem irgendwie durch dich hindurch.
Es hat mir das Herz zerrissen, dich zurückzulassen, aber ich wollte es auch dir damit leichter machen.
Die Vorstellung, dass ich am Versagen meiner Organe in deinen Armen sterbe, kam nicht infrage.
Ich wollte dich nicht als letztes Bild vor mir haben, wie du verzweifelt weinst und mit ansiehst, wie mein Körper regelrecht den Geist aufgibt.
Ich wollte dich so friedlich und ruhig in Erinnerung haben, wie du dort lagst.
Als gäbe es nichts, was dich in irgendeiner Art und Weise belastet.
Und ich wollte auch, dass dein letztes Bild von mir so normal wie möglich ist.
Wie ich in meinem Bett liege und es scheint, als würde ich ganz normal schlafen.
Das erschien mir einfach als die beste Lösung.
Und vergiss nicht meine Worte bezüglich dem Gedankenbuch, dass wenn es dir schlecht geht oder du einfach jemanden zum Zuhören brauchst, du etwas daraus lesen sollst.
Aber vergiss mich dabei bitte nicht, schließlich kannst du auch mal mich besuchen an meinem neuen Zuhause in der Stadt Friedhof.
Ich werde immer da sein, ich bin bloß umgezogen.
Vielleicht stattest du ja unserer Bank in der Stadt hin und wieder einen Besuch ab.
Ich werde es vermissen mit dir dort zu sitzen und einfach mal den Blick für die unscheinbaren Details zu bekommen.
Und vergiss niemals meine aller letzten Worte an dich, bevor mich meine Stimme verlassen hat.
Böse bleibt böse, Mary.
Man lernt bloß es besser zu verstecken."Ich werde sie besuchen", wispere ich und schließe die Augen.
Es war das schönste letzte halbe Jahr, das ich mir hätte vorstellen können.
Xavier
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Das letzte halbe Jahr
Teen Fiction„Noch vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, dass ich diese Krankheit als Diagnose gestellt bekommen würde. Dass es ein Todesurteil ist, eine unheilbare Krankheit, die mich nach und nach in sogenannte Schübe versetzt, die mir irgendwann die Stim...