22 - Selbstschutz

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Brauchen wir jemanden, der an unserer Seite steht?
Haben wir Angst, allein zu sein?
Halten manche Menschen nur noch aneinander fest, weil sie diese Angst in ihrem Kopf haben?
Vielleicht brauchen wir Menschen die Bestätigung, dass wir wertvoll sind und geliebt werden.
Vielleicht stellen sich manche deswegen so unter Druck.
Sie fragen sich, wieso sie noch keinen Partner an ihrer Seite haben.
Niemanden, der ihnen sagt, wie schön sie sind.
Niemand, der sie in die Arme nimmt und Ich liebe dich flüstert.
Sie fragen sich, ob sie zu schlecht sind.
Zu hässlich, zu langweilig.
Aber vielleicht sind wir auch einfach bloß zu wählerisch.
Ob wir nun auf Ablehnen drücken, wenn uns jemand auf Facebook schreibt oder mit Nein antworten, wenn uns jemand auf der Straße nach unserer Nummer fragt.
Wir geben vielen einfach gar nicht erst eine Chance, ohne es zu bemerken.
Oder wir sind nicht wählerisch, sondern handeln aus reinem Selbstschutz.
Ja, das muss es sein.
Ich handle aus Selbstschutz.
Aus der Angst, dass mir erneut sowas widerfährt wie bei Liam. Vielleicht habe ich mir deswegen noch nie Gedanken über meine Gefühle gegenüber Xavier gemacht.
Vielleicht konnte ich mir bis jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen, weil ich in mir schon den Schalter umgelegt habe, dass mir niemand wieder so nahe kommt wie Liam.
Immer noch in Gedanken hebe ich den Blick und beobachte Xavier und unsere verschränkten Finger, während er mich aus dem Gebäude zieht.
Addison, Matt, Sean und Aaron haben wir einfach stehen lassen.
Ich halte es hier drin keine Sekunde länger aus und Xavier erst Recht nicht.
"Oh, tut mir leid", nuschelt er auf einmal etwas verlegen, kratzt sich unbeholfen am Kopf und lässt meine Hand schnell los, als wir draußen am Parkplatz ankommen.
"Zuerst mache ich dich die ganze Zeit so dumm an und jetzt auf einmal halte ich deine Hand.
Schubse dich rum, wie ich es will", regt er sich über sich selbst auf und lässt sich auf die Mauer zwischen einem roten und schwarzen Auto fallen, während ich einfach still stehen bleibe und die Finger verschränke.
Mein Kopf dröhnt immer noch von dieser ganzen Situation da drin.
Zwei Minuten später sitzt er immer noch da, die Ellenbogen auf der hellen Jeans gestützt und den Kopf in den Händen vergraben.
Als ich merke, dass das so wahrscheinlich noch die nächsten Minuten so weitergehen wird, beginne ich zu reden.
"Weißt du, ich..."
"Ich bin der letzte Volldepp auf diesem Planeten, ich weiß.
Ein Volltrottel, Vollidiot und Vollpfosten zusammen, das weiß ich auch", unterbricht er mich und hebt den Blick seiner matten Augen. 
"Wie konnte ich dir sowas zutrauen?", fragt er sich selbst und schüttelt den Kopf, währen er aufsteht und ich meinen Kopf somit heben muss. 
"Dafür gibt es keine Entschuldigung, das ist mir klar.
Ich habe dir zugetraut, dass du mein Leben zur Hölle machen wolltest und mit den Folgen werde ich jetzt leben."
Dabei klingt er keinesfalls so, als wolle er Mitleid oder wäre todtraurig darüber. Momentan spürt man nämlich noch die Wut auf Aaron und die Enttäuschung über sich selbst.
Kopfschüttelnd komme ich wieder ins hier und jetzt und sehe verwirrt umher, bis ich mich umdrehe und endlich Xavier entdecke, der schon fünf Meter von mir entfernt läuft.
"Warte!", rufe ich und gehe langsam einen Schritt auf ihn zu, während er sich umdreht.
Für einen kurzen Moment bilde ich mir ein, einen Schimmer Hoffnung in seinen kühlen und leeren Augen aufblitzen zu sehen.
"Die Folgen sind nicht schlimm, Xavier.
Du hast endlich das wahre Gesicht deines besten Freundes gesehen und nun spielt dir niemand mehr was vor.
Niemand wird mehr versuchen, dir dein Leben zu erschweren oder dich und mich auseinander zu bringen.
Du musst nicht mehr wütend auf mich sein und ich muss mich nicht länger darum kümmern, wer in meinem Namen beschissene Dinge tut.
Wir können das hinter uns lassen."
Am Schluss meiner kleinen Rede lächle ich leicht, denn allen Anschein nach dachte er ich würde nun nichts mehr von ihm wissen wollen.
Eigentlich hätte ich ein Lächeln erwartet, strahlende Augen oder dass er auf mich zu kommt und mich umarmt, aber wir sind hier nun mal nicht in einem Film. Stattdessen verändert sich sein neutraler Blick nicht und er schüttelt den Kopf.
"Du bist erleichtert, dass du nun sicher sein kannst, dass keiner mehr in deinem Namen etwas macht, verständlich.
Aber das Glück gerade macht dich blind.
Spätestens morgen würdest du merken, dass das die falsche Entscheidung war.
Ich will nicht, dass du mir sofort verzeihst.
Ist in Ordnung."
Die letzten drei Worte spricht er erst aus, als er sich schon umgedreht hat, denn es ist nicht in Ordnung.
"Rede nicht so einen Blödsinn", beschwere ich mich und husche schnell vor ihn. "Kannst du dich noch daran erinnern, als du gesagt hast, dass du akzeptierst, wenn du weniger Zeit hast?
Man muss alles eben ein bisschen schneller machen, aber keine blödsinnigen To Do Listen, sondern sich bei der Familie bedanken und nochmal bestimmten Leuten sagen, wie wichtig sie dir sind.
Und nicht nur das, dazu gehört auch Verzeihen.
Und ich verzeihe dir jetzt eben ein bisschen schneller."

Das letzte halbe Jahr Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt