23 - Gedankenbuch

1.7K 130 1
                                    

"Wir sehen uns dann nächste Woche wieder."
Kaum ist der Satz ausgesprochen, stürmen schon die ersten Schüler aus dem Raum und lassen den Professor zurück.
Wie meistens gehe ich als eine der letzten raus, als ich plötzlich gerufen werde.
"Misses Stone!
Wären Sie so freundlich und würden das hier mitnehmen und dem entsprechenden Schüler geben?"
Als ich mich umdrehe, nimmt der schwarzhaarige Mann mittleren Alters gerade einen Ordner und ein Buch vom Tisch in der ersten Reihe.
Nickend laufe ich die Treppen runter und nehme ihm das Mathematik Zeug ab, wobei mir etwas aus dem Ordner rutscht und auf dem dunklen Boden landet.
Stirnrunzeln hebe ich das dunkelblaue kleine Buch auf, dass ein paar schwarze Striche als Verzierung hat, die sich in Tic Tac Toe ähnlichen Kreuzen angeordnet haben. Während der Professor sich schon längst von mir abgewandt hat und in seinen Unterlagen wühlt, laufe ich gedankenverloren die Treppe hoch zum Ausgang.
Auf dem Ordner lese ich den Namen Xavier Thomson, aber da habe ich schon längst das kleine Buch aufgeschlagen, das mit einem schwarzen Gummi verschlossen war.
Der erste Eintrag ist vom Tag der Diagnose, etliche folgen.
Es ist kein wirkliches Tagebuch, das lässt sich schnell feststellen.
Die Einträge sind meistens kurz gehalten und jeder ist mit einem Wort als Überschrift und dem passenden Datum oder einer anderen Zeitangabe versehen. 
Religion, Rassismus, Welt, Universum, Planeten, Frauen, Leben Unzählige Schlagwörter fallen mir ins Auge, während mein Blick kaum noch hinterher kommt.
Letztendlich bleibe ich zuerst bei dem simplen Wort Tod stehen.

Fünf Wochen nach der Diagnose
Tod

Es gibt keinen Himmel und keine Hölle.
Das ist ein bloßes Märchen.
Seit fünf Wochen rechne ich schon mit dem frühen Tod.
Muss ich damit rechnen.
Und ich habe keine Angst, allerdings habe ich es auch nicht eilig.
Das Gehirn ist in meinen Augen eine Art Computer, der aufhört zu funktionieren, wenn seine Bestandteile versagen.
Es gibt keinen Himmel und kein Leben nach dem Tod für kaputte Computer.
Dies ist ein Märchen für Leute, die Angst vor der Dunkelheit haben.
Aber die habe ich nicht.
Die Wissenschaft sagt voraus, dass viele verschiedene Arten von Universen spontan aus dem Nichts heraus entstehen.
Wir befinden uns in einer Welt des Zufalls. Das Universum wird von Wissenschaft geleitet.
Der Glaube, dass es einen Himmel oder ein Leben nach dem Tod gibt, ist ein Märchen, an das nur Menschen glauben, die Angst vor dem Tod haben.
Es gibt nichts, was über den Moment, wenn das Gehirn das letzte Mal funkt, hinausgeht."

Zwei Monate nach der Diagnose
Selbstmord

Es geht nicht anders.
Ich weiß, dass Mary das nicht will.
Dass sie dagegen ist und es mir am liebsten verbieten würde, aber ich habe mich entschieden.
Die Möglichkeit lange zu leben und noch Dinge zu erleben wurde mir genommen, dann will ich wenigstens noch die Macht darüber haben, wie und wann genau ich gehe.
Vor diesem halben Jahr natürlich.
Ich will Erfahrungen machen, ja, aber nicht mit so einer Krankheit.
Obwohl, eigentlich habe ich schon genügend Erfahrungen damit, allerdings will ich nicht dabei sein, wenn ich im Krankenhaus aufwache und nichts mehr bewegen kann, außer meine Augen und kein Wot mehr raus kommt.
Was muss das nur für ein Gefühl sein, wenn du etwas bewegen willst, es aber einfach nicht geht?
Du öffnest den Mund, willst schreien, laut weinen und reden, aber es laufen dir nur stumm Tränen die Wangen hinab und landen auf deinen tauben Armen.
Lieber sterbe ich früher und muss das nicht miterleben, als später und das dann stumm und mit Schmerzen.
Kann man es fühlen?
Kann man spüren, wie das Leben, kurz vor dem Tod, langsam deinen Körper verlässt? Ich habe keine Angst vor dem Tod an sich, vor der endlosen Schwärze, es ist die Krankheit und das Gefühl dabei. Würde ich spüren, wie das Gefühl des Lebens aus meinen Organen gesaugt wird?
Wie das Licht in mir durch Schwärze ersetzt wird?
Mein Herz wird immer langsamer schlagen, immer leiser.
Das Blut wird unregelmäßig hineingepumpt und die Kontraktionen lassen immer länger auf sich warten.
Es fängt bei deinen Füßen an und zieht hoch, wie wenn jemand eine Plane auf eine Leiche legt.
Auf meine.
Erst bedeckt sie deine Beine und deine Augen fallen ganz langsam zu.
Dann überdeckt die Decke des Todes deinen Oberkörper und du fühlst dich wie an einer Klippe über einem Abgrund, während du dich nur noch mit einem Finger hältst.
Du strengst dich so sehr an, dich wieder hochzuziehen, aber es geht nicht. Und wenn dann dein Kopf dran ist, deine Augen komplett zufallen, kannst du dich nicht mehr halten, fällst in die ewige Tiefe und mit dir das Leben.
Meine Entscheidung steht fest und selbst Mary kann mich nicht davon abhalten, etwas zu schlucken, was mich wie ein Baby in den ewigen Schlaf versetzt.

Tief einatmend hebe ich meinen verschwommenen Blick und höre die Träne, die auf das mit schwarzem Kugelschreiber beschriebene Blatt Papier aufprallt. 

Das letzte halbe Jahr Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt