Ich erwidere nichts auf seine Aussage über den Vergleich von Problemen verschiedener Personen, sondern starre auf den Boden und muss sagen, dass er Recht hat damit.
"Bist du selbst noch verletzt oder ist es immer noch schwierig mit den Leuten in deinem Umfeld?
Reden sie noch darüber?", will er wissen und greift somit wieder das Thema Liam auf, was mir tatsächlich nichts ausmacht.
Es tut gut, mal mit jemandem zu reden, der nicht Matt oder Addison ist und nicht dabei war.
"Für manche scheint das immer noch ein aktuelles Thema zu sein, aber das interessiert mich nicht mehr und außerdem sind es wirklich nur drei oder vier Leute.
Das ist aber nicht das Problem", erkläre ich und sehe ihn im Blickwinkel, wie er seine Hand ausstreckt und kurz darauf mein Gesicht zu ihm dreht.
"Dann sag mir das Problem und ich helfe dir."
Seine Lippen verziehen sich zu einem leichten Lächeln.
"Meine Eltern wollen mich wegen dieser Geschichte auf ein Mädchen Internat schicken, obwohl er damals von der Highschool verwiesen wurde", mache ich es kurz, seufze und fahre mir über das Gesicht.
Xavier zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen.
"Und das fällt ihnen ein Jahr später ein?"
Verneinend schüttle ich den Kopf, ziehe meine Beine hoch und hocke mich im Schneidersitz vor ihn.
"Das diskutieren wir nun schon seit einem Jahr.
Sie haben Angst, dass es wieder passieren könnte und wollten das deshalb sofort machen, aber es gab Schwierigkeiten mit dem Job meines Vaters.
Jetzt allerdings wäre es kein Problem mehr wegzuziehen."
Ich zucke mit den Schultern und verschränke meine Finger miteinander.
"Weil es hier in Springfield und Umgebung kein Mädchen Internat gibt", führt er meine Erklärung wissend fort und ich stimme ihm zu.
"Wie dem auch sei", fange ich an, bevor er wieder etwas zu dem Thema sagen kann und erhebe mich.
"Ich gehe dann mal."
Damit schnappe ich mir meine Tasche, die auf dem Boden liegt und laufe dann zur Tür.
Xavier folgt mir und schließt diese wieder hinter sich, bevor wir gemeinsam die Treppen runter gehen und ich mich vor der Haustür nochmal zu ihm umdrehe.
Mit leicht offenem Mund schaue ich ihn an und überlege, wie ich mich verabschieden soll.
"Ja, also, bis dann", sage ich so schnell, dass ich es selbst kaum verstanden habe und drehe mich um, nachdem ich kurz die Hand gehoben habe.
Bevor ich über mich selbst den Kopf schütteln kann, zieht er mich zurück in eine kurze Umarmung und löst sich dann wieder belustigt von mir.
"Bis Morgen, Mary."
"Bis Morgen, Xavier", grinse ich und laufe dann los.
Immer noch lachend über meine komische Verabschiedung, gehe ich den schmalen Weg entlang an den Häusern vorbei und überquere dann total abgelenkt eine Straße.
Erst durch das laute Hupen werde ich wieder aufmerksam und mein Kopf schnellt zu dem blauen Auto, das mich beinahe überfahren hätte.
Der Mann schüttelt bloß verärgert den Kopf und der Wagen beschleunigt wieder, nachdem ich sicher auf dem Gehweg stehe.
Doch als er vorbei fährt, scheint kurzzeitig alles in Zeitlupe zu geschehen und ich starre den blonden Jungen an, der auf dem Beifahrersitz hockt und auf sein Smartphone sieht.
Er hebt den Blick und schaut durch die Frontscheibe, aber dann ist der Wagen auch schon weg.
Mit leicht offenem Mund sehe ich dem Auto hinterher und ich hätte schwören können, das im Auto war Liam.
Der Liam.
Kopfschüttelnd bekomme ich mich wieder ein und setze meinen Weg fort.
Jetzt sehe ich schon Geister.
Das kommt davon, wenn ich die Geschichte wieder auspacke und die Erinnerungen auffrische."Wo ist Matt?", will ich am nächsten Morgen wissen, als Addison und ich zusammen im Kursraum sitzen.
"Er hat kein Wirtschaft, Mary", fängt sie an.
"Was ist heute mit dir los?
Du bist total verpeilt."
"Wahrscheinlich zu wenig Kaffee", seufze ich und drehe meinen Kopf nach vorne, als ich die Stimme des Professors höre.
Allerdings ist das gerade nur Nebensache, denn meine Kinnlade klappt runter und mein Herz setzt einen Schlag aus.
"Das hier ist der neue Schüler, den wir schon lange erwartet haben.
Wirtschaft ist heute sein erster Kurs", erklärt er, allerdings höre ich ihn kaum.
Im Blickwinkel nehme ich einen Kopf wahr, der sich zu mir dreht und ich erwidere Xaviers fragenden Blick, bevor ich als Antwort leicht nicke, denn das ist er.
"Liam McNamara."
Meine Haare stellen sich bei dieser Stimme zu Berge und ich traue mich nicht, ihn wieder anzusehen, denn ich will nicht riskieren ihm an die Gurgel zu gehen.
"Wie um alles in der Welt?"
Es ist bloß ein Wispern, was Addison rausbekommt und ihr schockierter Gesichtsausdruck übertrifft selbst meinen, dafür spielt sich alles in mir drin ab.
Das gestern im Auto war er wirklich.
Es war Liam.
Ich schlucke schwer und starre Löcher in den Tisch, während ich mir nur zwei Fragen stelle.
Wieso darf er wieder an diese Highschool kommen und vor allem warum will er das?
Ich muss überhaupt nicht hinsehen um zu wissen, dass er hinter Addison sitzt.
Seine Anwesenheit spüre ich einfach.
"Bis übermorgen", höre ich den Professor sagen, als schon alle anfangen ihre Sachen einzupacken und ich hebe überrascht den Blick.
Wie lange habe ich denn auf den Tisch gestarrt?
Ich fange an wie eine Wilde meine Sachen in den Rucksack zu stopfen und werfe ihn mir im offenem Zustand über die Schulter, bevor ich aus dem Raum stürme.
Natürlich darauf bedacht ihn nicht anzusehen und nicht seinem Blick zu begegnen.
"Das darf einfach nicht wahr sein", flüstere ich mir selbst zu, während ich wahllos irgendwelche Gänge entlang laufe.
Er kann nicht wieder hier sein, das geht nicht.
Es werden sich wieder alle an die Sache von vor einem Jahr erinnern, er wird das alles wieder von neu aufrollen und er wird mich Tag für Tag wieder daran erinnern, während er mich wahrscheinlich ständig dumm angrinst.
"Mary!", ruft meine beste Freundin hinter mir, aber das ist mir egal.
"Bleib stehen, Mary!", höre ich auch Xavier, doch auch das ignoriere ich.
"Was ist denn los?"
"Liam McNamara ist los!", schreie ich aufgebracht und bleibe mit einem Mal stehen, als Matt total verwirrt zu Xavier und Addison gestoßen ist und die Frage ausgesprochen hat.
Die drei fallen fast über ihre eigenen Füße, als sie so plötzlich stehen bleiben.
"Wisst ihr eigentlich was das heißt?
Wisst ihr das?"
Mein Kopf läuft wahrscheinlich total rot an vor Wut, während die drei bloß Schlucken, allerdings keinen Ton von sich geben.
"Genau.
Und wisst ihr was das noch heißt?
Meine Eltern werden mich auf ein beschissenes Mädchen Internat schicken!"
Mein Schreien kommt mir total leise vor, aber irgendwie nehme ich alles gerade etwas anders wahr.
Verschwommen.
Plötzlich muss ich lachen, was die drei vor mir allerdings nicht so amüsant finden.
"Aber wisst ihr was?
Ich glaube ich finde das gar nicht mehr so schlimm", meine ich dann und als mein Blick auf den damaligen guten Freund von Liam fällt, der mit dem Strom der Schüler an mir vorbeizieht, überkommt mich die Wut.
Damals habe ich ständig bloß geweint und nie auch nur ein böses Wort gegenüber ihm gesagt, aber jetzt werde ich nicht mehr weinen.
Jetzt bin ich bloß noch wütend und das zurecht.
Ich bin nicht mehr dieselbe wie von vor einem Jahr.
Mit diesem Gedanken stampfe ich an ihnen vorbei, um ihn zu suchen.
"Was hast du denn jetzt vor?", ruft mir mein bester Freund hinterher, aber ich ignoriere ihn.
Vor allem, als ich Liam am Ende des Gangs, zusammen mit seinen damaligen Freunden, entdecke.
Ich kann beinahe den Rauch hören, der aus meinen Ohren kommt und laufe schnellen Schrittes auf ihn zu.
"Du blödes Arschloch!"
Der Knall, den ich mit meiner Ohrfeige erzeuge, scheint auf einmal alle zum Schweigen zu bringen und Xavier, Addison und Matt kommen schräg hinter mir zum Stehen.
Liam hält regungslos den Kopf schräg und seine Wange färbt sich rot.
Wie in Zeitlupe dreht er sich wieder ganz zu mir und meine Augen verengen sich zu Schlitzen, als mir seine entgegen sehen.
Es verunsichert mich etwas, dass ich überhaupt keinen Ausdruck in ihnen erkennen kann, allerdings bleibt meine Wut erhalten.
"Wie kannst du hier wieder auftauchen?", wispere ich immer noch fassungslos, während ich mich versuche zurückzuhalten, um ihm nicht die Augen auszukratzen.
"Wie kannst du elendiger Vollidiot hier wieder aufkreuzen?", schreie ich und gehe auf ihn los.
"Beruhig dich, Mary!"
Xavier zieht mich von Liam weg und ich versuche mich wieder loszureißen.
"Er soll verschwinden!", rufe ich aufgebracht und bin so wütend, dass sich Tränen in meinen Augen sammeln.
"Lass mich verdammt nochmal los!", schreie ich Xavier an und schubse ihn grob von mir weg.
Während ich einen Schritt nach hinten gehe, sehe ich zuerst ihn noch einmal an, dann Liam und anschließend Addison, bevor ich los renne und so schnell wie möglich hier raus will.
Heute kann ich hier nicht länger bleiben."Ich will nicht darüber sprechen!"
Mit diesem Satz stürme ich in unser Haus und geradewegs an meiner Mutter vorbei, die verdutzt in der Küche steht, welche mit dem Eingangsbereich verbunden ist.
Sie soll gar nicht erst fragen, was los ist.
Ich schlage die Tür meines Zimmers hinter mir zu, werfe meinen Rucksack neben den mit Klamotten überhäuften Schreibtischstuhl und lasse mich auf mein Bett fallen.
"Ich hasse ihn", flüstere ich zu mir selbst in die Matratze und strecke meine Arme und Beine von mir.
Wie ein kleines Kind drehe ich mich auf den Rücken, verschränke die Arme und sehe böse an die Decke.
"Benimm dich nicht wie ein kleines Kind."
Ich schrecke hoch und sitze senkrecht im Bett.
"Hast du noch alle Latten am Zaun?", motze ich meinen Bruder an, der im Türrahmen steht und mich mit verschränkten Armen mustert.
"Mach dich nicht wieder so fertig wegen diesem Arsch", sagt er bestimmt und ich stehe auf, um mir von meinem Schreibtisch ein Haargummi zu nehmen, damit ich mir einen Zopf binden kann.
"Was meinst du?", will ich wissen, obwohl ich da so eine Ahnung habe.
Allerdings könnte ich mir nicht erklären, woher er das wissen sollte.
"Meinst du etwa ich weiß nichts von Liam McNamaras Rückkehr?"
Ich stoppe in meiner Bewegung und mache große Augen, bevor ich ihn weiter in mein Zimmer schiebe und die Tür schnell schließe, nachdem ich sichergegangen bin, dass meine Eltern nicht auf dem Flur sind.
"Woher weißt du davon und geht das vielleicht noch ein bisschen lauter, Shane?", frage ich bissig, während er sich auf meinem Bett nieder lässt.
"Unsere Eltern werden das so oder so herausbekommen."
"Nein, außer du sagst etwas und ich denke nicht, dass es in deinem Interesse liegt umzuziehen", erkläre ich und setzte mich währenddessen auf meinen Schreibtischstuhl.
"Was ich dir eigentlich sagen will", beginnt er und richtet sich wieder auf.
"Mir ist klar, dass du seine Rückkehr nicht fantastisch findest, aber lass dir das nicht so anmerken, vor allem ihm gegenüber.
Zeig ihm, dass du stark bist und er dich einen Scheiß interessiert.
Lass ihn nicht gewinnen."
Ein leichtes Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, als plötzlich mein Handy klingelt.
Eine Unbekannte Nummer erscheint auf dem Display, als ich es aus meiner Hosentasche ziehe.
"Danke Shane, wir reden später weiter, in Ordnung?"
"Nein."
"Shane!", rufe ich und bringe ihn damit wohl zum Lachen.
"Ich bin älter als du, ich darf hier bleiben, wenn ich will."
Als wäre er verrückt, ziehe ich die Augenbrauen hoch.
"Nur ein knappes Jahr."
"Das ist fast ein ganzes", grinst er und ich verdrehe die Augen, bevor ich selbst das Zimmer verlasse und die Tür hinter mir schließe.
"Hallo?"
"Mary, hier ist Sean."
Ich schlucke schwer, denn seine panische Stimme ist nicht sehr beruhigend.
"Komm bitte so schnell wie möglich ins Krankenhaus."
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Das letzte halbe Jahr
Teen Fiction„Noch vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, dass ich diese Krankheit als Diagnose gestellt bekommen würde. Dass es ein Todesurteil ist, eine unheilbare Krankheit, die mich nach und nach in sogenannte Schübe versetzt, die mir irgendwann die Stim...