19 - Vorwürfe

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Der Gang des Krankenhauses scheint sich auf die dreifache Länge zu strecken und die weißen, kahlen Wände engen mich immer mehr ein.
Ich beschleunige meinen Gang minimal, um Aaron und Sean jeweils von meinen Seiten wegzubekommen, damit ich wieder genügend Luft zum Atmen habe.
Diese Lage gleicht beinahe zu 100 Prozent dem Mittag, als Xavier in der Schule gestürzt ist und eine Mitschülerin ihn gefunden hat.
Die einzigen zwei kleine Unterschiede sind, dass diesmal statt Xaviers Mutter Catherine Aaron dabei ist und es ein Schub war, anstatt eines einfachen Sturzes.
Wobei man den zweiten Unterschied nicht unbedingt als klein bezeichnen kann, denn das macht einen großen Unterschied.
Als wir vor der Tür zum Stehen kommen, fällt mir schon die nächste Sache ein. Das letzte Mal waren wir gute Freunde, jetzt will er mich nicht mehr sehen und denkt ich bin schuld, dass seine Diagnose im Internet steht.
Auf einmal wird mir klar, dass das hier doch eine ganz andere Situation ist und ich möchte auch nicht rein, im Gegensatz zum letzten Mal.
"Er will mich sowieso nicht sehen", spreche ich meinen darauffolgenden Gedanken aus und wende den Blick von der schlichten weißen Tür ab.
Seans Augen sind schon lange nicht mehr so voller Hoffnung und positiven Gefühlen wie noch ganz am Anfang.
Noch ganz am Anfang, als er mich immer aufgemuntert hat und mir positive Sachen zugesprochen hat.
Mir Ratschläge gegeben hat.
Es scheint, als hätte er jegliche Hoffnung aufgegeben.
Xavier aufgegeben und sich selbst, obwohl ich meine Hand dafür hätte ins Feuer legen können, dass Sean der Letzte ist, der das machen würde.
Seine blonden Haare glänzen im Licht der Sonne, die den Gang zur Hälfte erfüllt und als seine braunen Augen auf meine treffen, fühle ich keine Aura mehr, die mich umgibt und mir signalisiert, dass ich nicht aufgeben soll.
"Wie du willst", erwidert er nach einiger Zeit und klingt dabei genauso ratlos wie er aussieht.
Vor wenigen Wochen hätte er mir noch gesagt, ich solle das mit ihm klären und da rein gehen.
Er klingt nicht, als würde es ihn nicht interessieren oder ihn nerven, sondern ahnungslos.
Einfach ahnungslos, genau wie ich, genau wie Aaron und wie wahrscheinlich jeder andere in Xaviers Umfeld, der in diese schreckliche Situation involviert ist, weswegen ich das weder Sean, noch jemand anderem übel nehmen kann.
Auch nicht mir selbst.
"Gib mir bitte Bescheid, ob es ihm soweit gut geht."
Ich hebe den Blick von meinen Händen, sehe Sean ein letztes Mal an und wende mich dann von den beiden ab, bevor ich den Heimweg antrete.

"Es hätte nichts gebracht", erkläre ich Addison, als diese noch am selben Tag auf meinem Bett sitzt und ich gerade die Nachricht von Sean lese, dass es Xavier soweit gut geht.
"Er hätte mich direkt wieder rausgeschickt, wenn er mich gesehen hätte", rechtfertige ich, dass ich das Krankenhaus verlassen habe, ohne zu ihm gegangen zu sein.
Eigentlich habe ich nicht das Bedürfnis gehabt, mit jemandem über heute zu sprechen, aber ich will Addison und auch Matt nicht von mir stoßen.
"Du kannst das nicht auf dir sitzen lassen, Mary Stone", fängt sie an und signalisiert mir ganz klar, dass sie gereizt ist.
"Was, wenn er bei diesem Unfall ums Leben gekommen wäre?
Würdest du dich besser fühlen, wenn er mit dem Gedanken gestorben wäre, dass du so einen Müll ins Internet gesetzt hast?"
Ungläubig schüttelt sie den Kopf und läuft durch das Zimmer.
"Ich kann immer noch nicht glauben, dass das jemand gemacht hat.
Was für eine Kindergartenaktion ist das denn?"
Tief ausatmend lässt sie sich wieder auf meine Matratze fallen und ich kann nicht mehr tun, als ihr zuzustimmen.

Und deswegen gehe ich über eine Woche später mit dem Vorhaben in die Schule, mit Xavier zu sprechen, denn so halte ich das nicht länger aus.
Diese knappen zwei Wochen, in denen er noch im Krankenhaus und zu Hause war, habe ich mir etliche Gedanken gemacht.
Matt, Addison und ich stehen in der großen Pausenhalle, als es pünktlich um neun klingelt und wir 15 Minuten Zeit haben, bis die Kurse weiter gehen.
"Da drüben steht er", berichtet mein bester Freund, nachdem ich die beiden in mein Vorhaben eingeweiht habe.
Unsicher drehe ich meinen Kopf nach rechts und entdecke den braunhaarigen Jungen, der ein paar Meter weiter an einem Pfosten lehnt, zusammen mit seinen zwei besten Freunden.
Ich ziehe ein letztes Mal meinen hohen Zopf enger und laufe dann auf die drei Jungs zu.
Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich will im Moment nichts mehr, als das zwischen uns wieder geradezubiegen.
"Ähm, hey. Ich..."
"Versuch gar nicht erst dich rauszureden!"
Ich habe nicht damit gerechnet, dass mir Xavier direkt um den Hals fallen wird, aber das verstehe ich nicht, denn es kommt mir nicht so vor, als würde er von meinem Tweet sprechen.
Mein verwirrter Gesichtsausdruck scheint ihn noch mehr zu verärgern und ich weiche einen Schritt zurück, als er sich vom Pfosten abstößt.
"Wie konntest du diesen Brief an meinen Vater schreiben? Wie?"
Ich bin nicht in der Lage irgendwas zu sagen oder zu tun.
Ich dachte ich hätte ihn wütend erlebt, als er das auf Twitter gesehen und mich beschuldigt hat, aber das hier übertrifft es. 
Seine Augen sehen mich so voller Wut und Hass an.
Das ist der Unterschied zum letzten Mal.
Es ist der Beginn von so tiefer Enttäuschung, dass sie sich in Hass verwandelt.
Tränen steigen mir in die Augen, während er in seinen Rucksack greift, um mir kurz darauf einen Zettel gegen die Brust zu drücken.
Völlig überrumpelt stehe ich mit dem Brief in der Hand da, während er wütend davon geht.
Dennoch bemerke ich die Tränen, die sich auch in seinen Augen sammeln.
Ich weiß nicht wieviel Zeit vergeht, in der ich einfach bloß da stehe, bevor ich den Blick senke und den Zettel auffalte.

Hallo, Herr Thomson.
Schon seit geraumer Zeit denke ich darüber nach, Sie über ein Geschehnis zu informieren.
Obwohl Xavier dies nicht machen will, fühle ich mich dazu verpflichtet. 
Vor wenigen Monaten hat er die Diagnose bekommen, dass er an Multipler Sklerose leidet.
Eine unheilbare Krankheit, die ihm bald das Leben nehmen wird und das schon in naher Zukunft.
Der Arzt hat ihm zum Zeitpunkt der Diagnose ein halbes Jahr gegeben, bevor seine Organe nicht mehr funktionsfähig sind.

Grüße, Mary Stone 

Schockiert lasse ich den Brief fallen und schlage mir die Hand vor den Mund.
"Was ist das denn?" 
Addison hebt den Zettel verwundert auf und überfliegt ihn inklusive Matt, bevor sie mich fassungslos ansehen.
"Vor ein paar Wochen hat Xavier in einem Gespräch erzählt, dass er es niemals seinem Vater sagen würde.
Er hat mir nicht erklärt wieso, aber hat mir klar gemacht, dass es das schlimmste überhaupt für ihn wäre, wenn er von seiner Krankheit erfährt", erkläre ich unter Tränen und falle Matt in die Arme.
"Ich war das nicht!"
Bringe ich hervor und frage mich, wie glaubwürdig das ist, wenn sogar meine Unterschrift am Ende des Textes steht.
Irgendjemand versucht Xavier und mich komplett auseinander zu treiben und so weit zu bringen, dass wir uns nicht einmal mehr in die Augen sehen.
Wer auch immer sowas macht, er hat es geschafft, aber ich lasse nicht zu, dass das so bleibt.
Ich werde diese Person ausfindig machen und Xavier beweisen, dass ich das nicht war und sowas niemals tun würde.

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