Wie Wellen

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Kleine unsichtbare Dolche stachen in die weiche Haut, direkt zwischen meinen Schulterblättern und schickten ein dumpfes Kribbeln durch die Wirbelsäule, den gesamten Rücken hinab.
Die hohen Absätze meiner Schuhe sanken ein Stück tiefer, als eine Stimme hinter mir ertönte und ich in diesem Moment herumwirbelte.
Einzelne Strähnen meiner Haare hatten sich in meinen Wimpern verfangen, sodass ich sie erst mit einer hastigen Handbewegung fortwischen musste, damit ich einen Blick auf die Person werfen konnte, deren Stimme in meinen Ohren nachhallte.

Und schließlich fand ich sie.

Mit einem breiten Grinsen, welches ihre hellweißen Zähne entblößte, blickte mir meine beste Freundin entgegen.
>>Lange nicht gesehen.<<, sagte sie lässig und breitete die Arme aus.
In dem weißen Kleid mit den roten Kristallen am hochgeschlossenen Kragen, welches sie als Vampir auszeichnete, wirkte sie wie eine Figur aus einem Fantasy Film, die gerade am Set ihre Szene drehte.
Und als man jetzt die spitzen Eckzähne sah, welche sich über ihre Lippen legten, verkörperte sie die perfekte Illusion einer Vampirin.
Wüsste ich es nicht besser, hätte ich mich schreiend umgewandt und wäre davon gelaufen.

Doch jetzt zögerte ich keine Sekunde, rannte auf sie zu und achtete dabei gar nicht auf den Zusammenstoß, der uns beide fast zu Fall brachte.
Sie schloss mich in eine lange Umarmung und strich mir mit den Fingerspitzen sachte über den Kopf.

Und plötzlich brach alles über mir zusammen.

Die Gedanken, die ich so sorgfältig versucht hatte zu behüten, entglitten mir und scheuchten sich selbst in den Vordergrund.
Sie brachen durch eine Tür und rissen sie aus den Angeln, ganz ohne Vorsicht etwas anderes dabei ebenfalls zu zerstören.
Das schwarze Loch das sich in mir zunehmend ausbreitete, kannte keine Gnade und verschluckte alles, was sich ihm in den Weg stellte.
Mitunter mich selbst.

Und so zogen Gedanken und Erinnerungsfetzen durch meinen Kopf und zeigten mir all jene Dinge, die ich seit Stunden verdrängt hatte.
Nur am Rande bekam ich mit, wie Allys Arme mich noch immer festhielten und mich daran hinderten hinzufallen.
Und plötzlich spürte ich wieder die Kälte in mir aufsteigen, die Amons Berührung bei mir auslöste.
Fühlte, wie mir schlagartig kalt wurde, als ich an seine eisigen Augen dachte und mich überkam ein Zittern, welches sich stetig wie Wellen im Ozean ausbreitete.

Eine Flut aus Bildern eroberte meine Gedanken:
Zuerst war da nur ein dunkler Schatten, der sich über mir erhob, doch dann lichteten sich die schwarzen Partikel und gewannen an Farbe.
Amons Gesicht nahe an meinem.
Sein Atem auf meiner Haut.
Das Winterblau seiner Augen.
Seine Stimme, die in meinem Kopf sanfte Kreise drehte:
>>Du hättest bei mir bleiben sollen, Maddison.<<
Erschrocken vom Tiefsinn seines Klangs, keuchte ich einmal auf und hielt die Luft an, als ich noch etwas hörte:
>>Du würdest dir wünschen nichts von alledem je erfahren zu haben.<<
Dabei wusste ich noch nicht mal ansatzweise, was er damit hat andeuten wollen.

Die Sache ist die:
Ich wusste rein gar nichts.

Und dennoch habe ich Seltsames gesehen.
Wie der Schnee aufleuchte, nachdem Amon etwas davon auf meine blutende Hand gestreut hatte.
...wie der Schmerz nachließ.
Als ich plötzlich durch Raum und Zeit stolperte und nicht fiel.
Amon, wie er auf etwas in meinen Gedanken antwortete und mir beipflichtete nicht verrückt zu sein.
Amon, umhüllt von einem Strudel aus Eisflocken, die um ihn herum seine Bahn zogen und seine Umrisse verdeckten.
Als er plötzlich verschwand und mich alleine, an einen Baumstamm gelehnt, zurückließ.
Wie ich orientierungslos durch den Wald streifte und aus dem Nichts eine kühle Hand an meiner Taille spürte ... die auf wundersame Weise mein Leid linderte.
Doch ich war allein gewesen.

When It's Dark OutsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt