Acht Sekunden Stille

101 10 7
                                    

Schnee wirbelte um mich und legte sich in der nächsten Sekunde ruhig nieder.
In diesem Augenblick war es so still, dass man sich fragte, ob man überhaupt noch hören konnte.
Es war einer dieser Momente, bei dem selbst das eigene Atmen an einen rauschenden Bach erinnerte.
So still war es jetzt.

Ich lugte durch meine nach vorne gefallenen Haare hindurch, während sich meine Atmung auf das Mindeste reduzierte.
Die Zeit schien eingefroren zu sein und so tat ich es ihr gleich und bewegte mich keinen Zentimeter.
Dennoch zählte ich die Sekunden, die sich in meinen Gedanken dumpf ausbreiteten.
Eins
Zwei
Drei
Vier
Bei der Zahl fünf glitt mein Blick über Amons Silhouette die sich vor mir abzeichnete und mir so nah war, dass ich das eisige Blau seiner Augen, trotz der Dunkelheit um uns herum, erkennen konnte.
Wie hatte ich ihn nicht wahrnehmen können?

Sechs
Ich bemerkte die absolute Stille.

Sieben
Nicht ein einziges Blatt drehte sich im Wind.

Acht
Dann geschah alles auf einmal und die acht Sekunden Stille waren vorüber.

Die Tiere der Nacht erwachten und ließen ihre Rufe ertönen. Neben mir raschelte es im Gebüsch. Der Novemberwind pfiff durch die Bäume und gab ihnen eine Melodie. Schneidend durchfuhr mich seine Kälte und drang durch den dünnen Stoff meines Kleids.

Ein weiterer Windschwall blies mir ins Gesicht und ich musste meine Augen mit der Hand abschirmen, um noch etwas erkennen zu können. Noch etwas dichter drückte ich mich an den Baumstamm hinter mir, als dichtes Schneegestöber auf mich zu kam.

Ich zog mich an einem niedrigen Astgezweig nach oben und kam taumelnd auf die Beine.
Amon war verschwunden.
Das einzigste was ich sah, waren unvorstellbare Massen Schnee, die in der Luft herumwirbelten.
>>Amon wo bist du?<< ,schrie ich gegen den Schneesturm an.
Unsicher, was ich jetzt tun sollte, suchte ich den Wald nach Zeichen ab.
Die Finsternis erschwerte mir meinen Weg durch den Wald und nur der Mond spendete mir Licht.
Wo ging es nochmal zurück zur Kapelle?

Als hätten die Bäume sich plötzlich verdreifacht, huschte ich irritiert herum und verlor schließlich die Orientierung.
Verdammt, Maddison!
Ich schalte mich selbst in Gedanken dafür, nie bei den Pfadfindern beigetreten zu sein.
>>Hallo?<< ,versuchte ich es verrückterweise und fragte in den Wald hinein.
Die schlauere Maddison in mir antwortete:
Ja klar, als ob gleich jemand hinter einem Baum hervorspringt und dir ein Navi in die Hand drückt. Wie blöd bist du eigentlich?

Mit großen Schritten wanderte ich weiter und hielt mich dabei an dicken Ästen fest, um nicht hinzufallen. Außerdem begannen nun wieder die Schnitte von den Vogelkrallen an zu brennen.
Während ich weiterlief, hielt ich mir die Seite und versuchte so den Schmerz zu lindern.

Wieder drehte ich mich um meine eigene Achse, um zurück zur Kapelle zu finden.
Aber egal wie oft ich es tat ...
ich sah doch nur Bäume, dunklen Himmel und überall große Schneeflocken.
Mit aufrichtiger Verwunderung stellte ich fest, dass ich es fertig brachte mit hohen Absätzen auf unebener Erde zu laufen.
...und das schon eine ganze Weile.
Wenn ich das Ally erzähle, würde sie mir kein Wort abkaufen.

Ally.
Ich hatte sie ganz vergessen.
Mittlerweile war es fast tiefste Nacht und ich hatte immer noch keine Ahnung, wo sie sein könnte.
Ein schlechtes Gewissen machte sich in mir breit und gab mir das Gefühl eine miese Freundin zu sein.
Doch dann rief ich mir wieder in Erinnerung, wer hier wen hat sitzen lassen.

Mit diesen Gedanken marschierte ich weiter und ... blieb an einem herausstehenden morschen Stück Zweig hängen.
Schmerzerfüllt keuchte ich auf und sah, wie sich das Holz genau in die Wunde an meiner Seite bohrte.

Angewidert zog ich es heraus und warf es zwei Meter von mir weg.
>>Scheiße...<< ,murmelte ich, als ich spürte, wie neues Blut aus der Wunde floss.
In diesem Augenblick war ich dankbar für die Dunkelheit, die mir den Anblick meiner aufgerissenen Haut ersparte.
Ein wenig humpelnd setzte ich meinen Weg fort und blieb wiederum an einer hohen Tanne stehen, die von viel Schnee bedeckt war.
Ich streckte die Hand danach aus, nahm mir einen Schneeball großen Haufen und packte ihn dann vorsichtig auf die Verletzung.
Seufzend genoss ich die angenehme Kühle auf meiner nackten Haut und schätzte den Moment, als der Schmerz kurz nachließ.

Der Schnee entzog mir das Brennen der Wunde und hinterließ einen sanften Druck.
Etwas, das sich anfühlte wie eine kühle Hand.

Und ich hätte schwören können, dass es auch eine war.

When It's Dark OutsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt