Bis zum letzten Atemzug

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Das Mädchen war am Leben.
Ihre großen, vom Wasser leicht getrübten Augen starrten mich an, als wäre ich die Sonderbare von uns beiden. Dabei wusste ich nicht, ob ich mich freuen oder aber ihre zum Leben erweckte Gestalt fürchten sollte.

Denn etwas war an ihr, dass mich erschreckte, auch wenn ich es nicht benennen konnte.
War es ihr steifer Körper, der vor mir regungslos im Wasser schwebte? Ihre zerrissenen Klamotten, wovon der aufgequollene Stoff um ihre Gestalt waberte und lebendiger wirkte als sie selbst?
Waren es ihre dunklen Haare, die im starken Kontrast zu ihrer kalkweißen Haut standen?
Oder waren es doch ihre versteinerten Gesichtszüge, die frei von jeglichen Emotionen, mir starr zugewendet waren?
Vermutlich gehörte das alles dazu und noch weit mehr.

Mein Blick glitt über sie und verhakte sich mit ihrem, der sich nach wie vor auf mich richtete.
>>Ich werde so wie du.<<, formte ich mit meinen tauben Lippen, lautlos für alle Ohren.
Ihre Augen blieben jedoch wo sie waren.

Ich hatte mehr Angst vor der Halbtoten, als vor dem Moment an dem der verbliebene Sauerstoff in meiner Lunge aufgebraucht sein würde und mein Albtraum in schreckliche Realität überging.

Und so kam es, dass ich mich nun schon zum zweiten Mal innerhalb 24 Stunden mit dem Gedanken an den Tod einließ.
Meinem Tod.

Kaum, dass diese Worte in meinem Kopf Gestalt annahmen, schoss plötzlich die Hand des Mädchens vor und kam erst kurz vor meiner Wange zum Stillstand.
Zarte, winzige Wellenschübe trafen auf mein Gesicht, prallten daran ab und flossen wieder in alle Richtungen davon.
Eine Weile war ich blind von den kleinen Wirbelstürmen, die von der Bewegung des Mädchens herrührten, doch schon sah ich ihr helles Gesicht, das die Dunkelheit um uns in Schach hielt.
Genauso wie sie jetzt aussah, wirkte sie geisterhafter denn je.
Nur noch ein verblasstes Abbild ihrer einstigen Erscheinung.

Sie erinnerte mich daran, dass ich gestern noch an Halloween auf den Straßen Rosewyns unterwegs war und es mir zur Aufgabe machte Angst und Schrecken zu verbreiten, wie jedes andere verkleidete Wesen auch.

Gestern.
Es kam mir vor wie Jahre. Als würden Ally und mich Jahre trennen.
Derweil trennte uns die Ewigkeit und in diesem Fall war die Ewigkeit der Tod.
Bliebe mir doch nur genügend Zeit, um sie zu betrauern, aber selbst das war mir in diesem Leben nicht bestimmt.

So war es schließlich das Geistermädchen mit ihren langgliedrig ausgestreckten Fingern, die sich meinem Gesicht gefährlich nah entgegen reckten und mich erstarren ließen.
Als wüsste sie längst, was ihre Nähe bei mir auslöste, verzogen sich ihre bläulichen Lippen zu einem höhnischen Grinsen, was ihr Gesicht in eine schreckliche Fratze verwandelte.

Panik erfasste mich und ich strampelte mit hektischen Bewegungen rückwärts, in der Hoffnung ihren gräulichen Klauen entkommen zu können, bevor sie mich in ihren Griff schloss.
Ich merkte, wie ich während meinen stummen Schreien Wasser schluckte und es meine Lunge zum Rebellieren brachte.
Die Gewissheit, dass dieser Atem mein letzter sein würde, schürte die Angst in meinem Bauch.
Und aus irgendeinem Grund hörte ich in meinem Kopf eine Stimme, mit denselben Worten, die mich auch in meinem Traum begleitet hatten:
>>Lebe Maddison.<<

In der Ferne schoss bei dem Klang der Stimme ein Lichtstrahl durchs dunkle Wasser und wüsste ich es nicht besser, hätte ich das Licht für eine Sternschnuppe gehalten, die vom Himmel gefallen war und sich in den Tiefen des Gewässers verirrt hatte.

Aber da grub das Mädchen schon ihre Fingerkuppen in mein Handgelenk und versetzte mir eine quälende Welle des Schmerzes, die in meinen Körper glitt wie das Gift einer Schlange und nach und nach die tickende Uhr der Organe in meinem Inneren ausschaltete.
Die Kreatur verschwand ohne mein Bemerken, ließ mich in der ausbreitenden Stille des Todes allein.

Doch das letzte was ich sah, war nicht etwa die unendliche Schwärze des Sees.
Es war die Farbe des Winters, die mir entgegenblickte.

>>Mein Nachtmädchen.<<, waren die letzten Worte, die ich je hören sollte.

Ich verlor mein Bewusstsein im selben Augenblick in dem auch die Stimme in meinem Kopf erstarb.

When It's Dark OutsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt