10.

1.7K 133 7
                                    

In der Schule sprach mich Alexis an, ein Mädchen aus meiner Klasse, die soviel ich wusste, Western ritt.

,,Hast du echt Kiara getroffen? Wie ist sie so in echt? Du bist ja mit ihr ausgeritten.",
das Mädchen mit dem blonden Bobschnitt hatte augenscheinlich vor der Klasse auf mich gewartet.

,,Jep, hab ich. Sie ist ganz nett, ein bisschen verwöhnt, würd ich sagen, aber sie ist cool.", gab ich als Antwort und ging mit ihr zusammen zu meinem Platz in der zweiten Reihe.

,,Hast du schon das Video gesehen? Ich schick dir mal den Link.", sagte sie noch, bevor unser Klassenlehrer den Raum betrat.

~

Nach der Schule fuhr ich noch kurz zu einem Blumenladen und kaufte einen bunt gemischten Strauß Frühlingsblumen und eine Packung Pralinen bei Edeka. Ich hoffte einfach, dass sie Annie schmecken würden.

Im Stall konnte ich sie nachher nicht auffinden. Ich legte die Sachen mit einer kleinen Grußkarten auf ihren Spind in der Sattelkammer, auf dem ein großes Bild ihres Pferdes Goldstern prangte.

Heute Nachmittag hatte Papa Wondy im Anhänger wieder mit ins Münsterland genommen. Er hatte geschäftlich dort zu tun und brachte sie bei Oma vorbei.

An Ostern hatten wir beide -Oma und ich- die Idee, Wonderwoman von einem ihrer Zuchthengste decken zu lassen.

Sie hatte eine gute Abstammung und war schon acht, außerdem hatte sie soweit ich wusste schon ein Fohlen gut auf die Welt gebracht.

Ich würde bis zum Sommer noch Turniere mit ihr gehen, man konnte Schwangere Pferde bis einem Monat vor dem Geburtstermin reiten, hatte ich irgendwo gelesen. Soweit wollte ich es dann aber doch nicht kommen lassen. Ich hatte vor, mir gut vorzubereiten und das Fohlen, wenn es einmal da war, zusammen mit Omas Fohlen ans Meer zu schicken.

Das war eine ihrer Angewohnheiten: die frischen Fohlen kamen für ein Jahr auf die Nordseeinsel Spiekeroog, wie sie an der Meeresluft aufwachsen konnten, bis sie dann zum langsamen Anreiten wieder aufs Gestüt kamen.

Finello hieß der glückliche Hengst, der der Vater des Fohlens sein sollte. Er war ein dunkelbrauner und stammte von Wolkentanz II. ab, der wiederum mit Desperados, dem Erfolgspferd von Kristina Bröhring-Sprehe, verwand war.

Sie sollte, wenn sie denn aufgenommen hätte, in zwei Tagen wieder hier sein, dann konnten wir normal weiter reiten.

~

Nach den Hausaufgaben (die ich heute ausnahmsweise im Reiterstübchen machte) ging ich auf die Tribüne, um Marie bei ihrer Einzelspringstunde zuzusehen.

Die blonde ritt Dollar, sie galoppierten an der langen Seite entlang, in der Mitte standen ein paar Gymnastikreihen bestehend aus Oxern und Kreuzen.

,,Das trainiert die Schnelligkeit und Flexibilität der Vorhand!", erklärte Marius Badberg.

,,Komm mal hier durch. Lass ihn einfach reingaloppieren - dann liegen alle Stangen passend!"

Marie nickte unter dem schwarzen Helm und lenkte den Falben in die Kreuz-Reihe.

Er sprang sicher und flüssig und wurde mit einem Klopfen belohnt.

Mir wurde es etwas langweilig und ich beschloss, mir den Vlog von Kiara anzuschauen, dessen Link mir Alexis hatte zukommen lassen.

Sie hatte schon über einhunderttausend Abonnenten auf YouTube - ganz schön viele, wie ich fand.

Das Video war toll geschnitten und an manchen Stellen mit passender Musik unterlegt. Die Szene, in der ich kam, wirkte auf mich total surreal.

,,Eva. Ich heiße Eva.", ahmte ich meine Stimme nach. ,,Bond. James Bond.", setzte ich hinterher und kichert leise.

Und genau in dem Moment passiert es. Ich hörte einen Schrei, das klappern von Stangen und einen dumpfen Aufprall.

Ich sah nach unten in die Halle: meine Schwester lag gekrümmt vor Schmerz am Boden. Dollar stand schnaubend über ihr. Marius rannte herbei.

,,Ruf einen Krankenwagen! Verdammt nochmal, Eva, schnell!", schrie er und ich fackelte nicht lange und wählte die 112. 

In der Zeit, in der der Notarzt kam, trug Marius Marie auf die unterste Tribünenstufe. Ich hatte sie mit Abschwitzdecken ausgelegt, damit sie nicht so hart lag.

,,Kannst du reden? Wieviel Finger zeige ich?", fragte ich, doch Marie starrte mich nur stumm an. Ihre Augen waren auf, der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben.

,,Wie ist es genau passiert?", wollte ich leise wissen.

,,Dollar hat den letzten Sprung verpasst. Er ist stehen geblieben, seitlich ausgebrochen und sie ist links rüber gefallen. Der Fuß ist irgendwie hängengeblieben und die würde ein paar Meter gegen die Bande geschleift. Zum Glück war er da schon im Schritt.", sagte er sachlich, ohne den Blick von meiner Schwester zu wenden.

,,Glück im Unglück.", flüsterte ich und streichele ihren Arm. Sie hatte nur eine dünne Übergangsjacke angehabt und keine Protektorenweste.

~

,,Ein ausgeprägtes Schädel-Hirn-Trauma und ein Rippenbruch.", sagte der Chefarzt in der Klink, nachdem er von seinem weißen Klemmbrett aufgesehen hatte.

,,Glück im Unglück.", meinte auch er. ,,Ohne Helm und wäre das Pferd die letzten Meter, wo sie schon mitgeschleift wurde, schneller als Schritt gegangen, dann wäre das nicht so glimpflich ausgegangen."

Mamas Augen waren gerötet. Marie lag mit einem Verband und Schläuchen im penibel sauberen Krankenzimmer auf der Intensivstation.

Wir saßen draußen auf der Bank im Flur und konnten sie durch ein Fenster sehen. Es roch übel nach Chemikalien und mir wurde ein bisschen schlecht.

,,Wie lange wird es dauern?", fragte Mama mühsam beherrscht.

,,Können meine Kollegen noch nicht sagen. Wir werden Sie benachrichtigen. Und jetzt bitte ich Sie hinauszugehen. Marie braucht Ruhe - wir haben die Sache im Griff. Wenn Sie wüssten, wie oft sowas passiert!"

Mama nickte verständnisvoll und ich stand auf. ,,Rufen Sie mich bitte sobald sie möglich an. Wir kommen morgen nochmal vorbei und bringen ihr frische Klamotten mit. Danke."

,,Tschüss, kümmern Sie sich gut.", sagte ich und schüttelten dem Mann mit der glänzenden Glatze die Hand.

,,Auf Wiedersehen, Familie Lindström.", sagte der Arzt freundlich und wir gingen zum Auto.

Mama sagte die Fahrt über kein einziges Wort. Sie schluchzte leise und wischte sich immer wieder die Tränen aus den Augen.

~

,,Ich will nicht mehr reiten. Nie wieder.", sagte Marie am nächsten Tag, als wir um das Krankenbett versammelt standen.

,,Nie wieder? Auch nicht auf Tosca, Calle oder Blacky?", halte Mama ungläubig nach.

Meine Schwester nickte. ,,Ganz sicher. Ich habe genug."

Wir diskutierten noch ein bisschen länger, aber Maries Entschluss stand fest: nie wieder in den Sattel.

Wir waren traurig. So eine Talentverschwendung! Mama hielt es für eine kurze Phase. Sie würde sich Leute suchen, die Maries Pferde reiten würden, bis sie wieder zu sich kam.

Ich jedoch war mir nicht so sicher ob es mir eine Phase war. Nach einen schlimmen Sturz vor zwei Jahren hatte ich auch nicht mehr reiten wollen. Ich hatte abends lange im Bett geweint, weil ich wusste, dass ich es ohne Pferde nicht aushalten würde, weil ich eh meinen ganzen Tag mit ihnen durch Oma, Mama und Marie konfrontiert war.

Ich hatte ernsthaft überlegt aufzugeben, aber das war keine Option. Ich hatte mir gesagt, dass ich wieder reiten würde. Der Rest würde sich ergeben.

Und so war es auch gekommen: ein halbes Jahr später war ich beim Burgpokal in Nürnberg mitgeritten, hatte zwar nicht gewonnen, war aber mitgeritten.

Manchmal muss man sich zu Dingen zwingen vor denen man Angst hat, wenn der erste Schritt geschafft war, ging es weiter und am Ende war man dann irgendwie doch froh, dass man sich fürs weitermachen entschieden hatte.

We are Dancer Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt