10. Im Schatten des Feuers

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Er folgte ihm mit den Augen. Steine lösten sich unter den Schritten des Mannes. Sie waren nicht groß, doch trotzdem eine Gefahr. Es genügte ein einzelner Stein, der an der falschen Stelle losgetreten wurde und der Berghang würde nachgeben. Gegen einen Steinschlag wäre er machtlos. Jeder einzelne Mann, der bereits an dem steilen Hang sein Glück versuchte würde begraben werden unter tausenden Tonnen von Stein und er würde es nicht verhindern. Wie auch? Er besaß nicht viele Gaben. Er konnte mit Hilfe von Magie die Luft um ihn herum und Flüssigkeiten erwärmen, sowie Dinge schweben lassen. Doch nicht einmal sein geistiges Auge reichte weit. Höchstens in einem Umkreis von fünfzig Metern. Er war außerordentlich begabt darin Spuren zu verfolgen, aber es war keine richtige Gabe. Seine Magie half ihm dabei, aber sie verlieh ihm nicht die Fähigkeit irgendetwas in weiter Ferne zu sehen, es war nur ein vages Gefühl, das ihm die Richtung wies und bemerkenswert gute Augen, die nie irgendwelche Spuren in der nahen Umgebung übersahen. Aber bei einem Steinschlag? Nein, da würde ihm seine Magie nicht weiterhelfen können. Er konnte nur beten, dass die Götter gnädig waren und der Hang nicht nachgab. Piro sah, wie der Mann den Halt verlor und abzustürzen drohte. Er ruderte mit den Armen, versuchte sich am kalten, kantigen Sten festzuklammern, doch es gelang ihm nicht. Seine Füße rutschten auf den losgetretenen Steinen ab und er fiel. Er überschlug sich, Steine wirbelten durch die Luft, seine Haut wurde aufgerissen und er schrie. Dann war es still. Reglos, mit zerschmetterten Gliedern lag er inmitten eines Steinhaufens am Fuße des steilen Hangs. Die anderen Männer blickten betroffen hinab. In manchen Gesichtern konnte Piro Trauer erkenne, in anderen Angst oder Gleichgültigkeit, es war nur ein einzelner Mann gewesen, niemand besonderes, niemand der wichtig war und dann gab es noch Gesichter die erleichtert blickten, da sich keine Lawine gelöst hatte, doch die schlimmsten waren die, die lächelten. Fanden sie das komisch? War es erheiternd mit anzusehen wie ein Mann in den Tod stürzte? Piro spuckte angeekelt aus. Er verabscheute diese Männer für ihre kranke Denkensweise. Für ihn gab es nichts Erheiterndes daran einem Mann beim Sterben zuzusehen. Es war normal, dass Menschen starben, durch Zufall oder durch die Hand eines Anderen. Auch er selbst hatte schon viele Männer getötet, doch er fand es nicht lustig und verspürte auch keine Befriedigung dabei. Es gehörte zu seiner Arbeit, doch es war nicht gerade ein Punkt der ihm Spaß machte.
„Weiter!" brüllte ein rothaariger Mann, der ebenfalls dabei war an den Felsen hinab zu klettern. Alle anderen gehorchten und setzten ihren Abstieg vorsichtig fort. Piro wusste, dass er nicht mehr lange warten durfte, sonst würde er als Feigling dastehen und das durfte nicht passieren. Die Männer bewunderten ihn, weil er ein Magier war und er durfte in ihrem Ansehen nicht sinken. Er trug Roben, die ihn machtvoll aussehen ließen und einen „Zauberstab". Keiner der Männer wusste, dass es so was wie Zauberstäbe in Wirklichkeit gar nicht gab. Sie kannten zu viele Märchen und Legenden, die erfunden waren. Und sie wussten auch nicht, dass er in Wahrheit schwach war. Er war nur ein guter Schauspieler. Einmal hatte ein Krieger ihn angegriffen. Mühsam war er ihm ausgewichen und hatte all seine Magie eingesetzt um die Luft so sehr zu erhitzen, dass der Mann einige leichte Verbrennungen davongetragen hatte. Piro hatte dann nur noch so tun müssen, als ob es für ihn eine leichte Übung gewesen wäre und niemand hatte je wieder gewagt ihn herauszufordern.
Behutsam machte sich Piro an den Abstieg. Mit Magie festigte er den Boden und verhinderte so, dass sich Steine lösten. Wenigstens für das reichte seine Kraft. Stück für Stück kletterte er hinab. Er musste die Männer beeindrucken, doch er wusste nicht wie. Es war an der Zeit ihnen einmal wieder zu zeigen, dass er ein waschechter Magier war. Er konzentrierte sich und ließ seinen Stab neben sich schweben. Würde das reichen? Er bezweifelte es. Die Männer würden ihn auslachen, wenn sie bemerkten wie ungeschickt er sich am Hang festklammerte und wie langsam er vorwärts kam, sie würden erkennen wie schwach er war und ihn umbringen. Sie hassten es getäuscht zu werden und sie hassten es ihm zu gehorchen. Und sie hatten ihm oft gehorcht... Sehr oft. Er hatte ihnen viele Aufgaben zugeteilt, die er eigentlich selbst hätte erledigen müssen. Er hatte sich nie Freunde gemacht. Unvorsichtig suchte er nach Halt und griff in eine glitschige Flechte. Er versuchte sich festzuhalten, doch seine Finger rutschten ab. Er verlor das Gleichgewicht und löste sich von der Wand. Er sah wie sich die Steine immer weiter von ihm entfernten, nur noch seine Füße befanden sich an der Wand. Sein Oberkörper kippte nach hinten und er fiel. Er wollte Schreine, doch er konnte nicht. Er fühlte Holz an seinen Fingern und griff zu. Es war sein „Zauberstab", der neben ihm schwebte und er klammerte sich an ihn. Er spürte wie seine Magie nachließ. Er würde sich nicht mehr lange in der Luft halten können. Schnell ließ er sich nieder sinken. Zu schnell nach seinem Geschmack. Noch hatte er genügend Magie um den Fall zu verlangsamen, doch es würde nicht mehr lange dauern und aus dem kontrollierten Fall würde ein Absturz mit tödlichem Ende werden. Kurz entschlossen zog Piro seine Magie zurück. Er fiel und fiel. Er schrie und kurz bevor er landete setzte er seine restliche Magie ein um sich abzubremsen. Er landete schmerzhaft auf einem Knie. Die eine Hand, die sich an den Zauberstab klammerte, über seinen Kopf erhoben und mit der anderen stützte er sich ab. Aus seinem Schrei wurde ein Lachen und Zitternd richtete er sich auf. Er setzte ein breites Grinsen auf, obwohl er am liebsten geweint und geschrien hätte. „Hah, so geht das!" Lachte er und tat so als ob das Ganze beabsichtigt gewesen wäre. Beeindruckt scharten sich die Männer um ihn. Sie hatten nur gesehen, wie er rasend schnell an seinem Zauberstab hängend hinab geflogen war und dann unverletzt landete. Seine Robe hatte majestätisch im Wind geflattert und es war nicht zu erkennen gewesen, dass Piro vor Angst fast gestorben wäre. Sein Schrei war zu einem Lachen geworden und jeder der Männer war davon überzeugt, dass es sich um einen Freudenschrei gehandelt hatte. Piro war ein Held. Er war ein halber Gott. Er war majestätisch. Er war ihr Zauberer, ihr Magier, ihrer allein. Er gehörte zu ihnen. Sie zweifelten nicht mehr daran, dass er einer ihrer Anführer war. Er war ihr Held. Nur ein Held konnte einen solchen Flug machen und unverletzt überstehen. Er hatte Magie benutzt, na und? Trotzdem war er wie ein Gott geflogen und hatte keine Angst gezeigt. Piro genoss es bewundert zu werden. Die Angst war vergessen. Die Männer würden nie wieder daran zweifeln, dass er mächtig war. Sie würden ihm gehorchen ohne Fragen zu stellen und er würde das ausnutzen. Der Rothaarige kam auf ihn zugeschritten. Die Männer machten ihm respektvoll Platz und Piro ließ sich auf die Knie fallen. Er hatte ganz vergessen, dass er nicht der wirkliche Anführer der Männer war. Der Rothaarige war es und Piro war ihm zu Gehorsam verpflichtet. Vor einigen Wochen hatte Ylon Piro vor mächtigen Magiern gerettet. Er hatte ihn freigekauft und seit damals musste Piro ihm dienen. Die Magier hätten ihn umgebracht und Ylon hatte er sein Leben zu verdanken. Ylon hatte einen Zauberer gesucht, der ihm bei der Suche nach einem Jungen und einem Mädchen half und war zu befreundeten Magiern gegangen, die ihm Piro verkauft hatten. Die Mächtigen hatten einen Bann über Piro gelegt. Er würde Ylon solange gehorchen bis dieser ihn freigab und er würde seine Macht nicht gegen Ylon einsetzen können. Das war der Preis für sein Leben gewesen und so feige wie Piro war hatte er angenommen. Nur Ylon wusste, dass Piro schwach war, doch er hielt es vor seinen Leuten geheim. „Master, kann ich etwas für Euch tun?" fragte Piro und erhob sich.
„Hast du die Spur des Grafen gefunden? Oder noch besser die des Jungen?"
„Der Graf ist nach Karopin gegangen und deshalb vermute ich, dass auch der Junge dort war. Ich konnte seine Spur jedoch nicht finden, da er durch die Berge gegangen ist. Die Zwerge müssen ihm geholfen haben. Andererseits wäre er nicht in den Berg gelangt."
„Ich weiß. Finde heraus ob der Junge hier war. Wir sind die letzten drei Tage extra durch die Berge geklettert, weil du gesagt hattest du hättest gespürt, dass der Junge dort gewesen war. Ich habe zwei Männer deswegen verloren, ich würde es sehr bedauern wenn du dich getäuscht hättest und er gar nicht hier war."
„Er war hier, Master. Ich kann es fühlen. Wenn wir nach Karopin gehen, kann ich Euch auch sagen ob er dort war. Versprochen Master."
„Das will ich auch hoffen."
„Vertraut mir Master. Ich werde ihn finden. Ich kann ihn spüren. Er war hier. Ganz sicher." Das stimmte sogar. Scill war hier gewesen. Piro konnte es nicht direkt spüren, doch all seine Sinne deuteten darauf hin.
„Gut, gehen wir nach Karopin."

Das DrachenamulettWo Geschichten leben. Entdecke jetzt