Kapitel 1

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Es war ein langer Tag für Neuromind gewesen. Aufstehen um 6, danach Frühstück, fertig machen und ab zur Arbeit. Zu der Arbeitsstelle, wo ihn alle nur als Phil kannten. Wo alle, wie der gesamte Rest der Welt, nicht wussten, dass er in Wirklichkeit Neuromind der Superheld war, der mit seinen telekinetischen Kräften fast täglich die Welt vor dem grausamen Phantom of Death beschützte. Das Phantom of Death war ein besonders böser Bösewicht, wie Neuromind fand, denn er war unglaublich schlau und gerissen und konnte zudem noch das Licht manipulieren und damit die verrücktesten Illusionen erzeugen, die Neuromind schon des öfteren fast bis an den Wahnsinn getrieben hatten. Niemand hatte je das Gesicht des Phantoms gesehen, da er es immer mit Illusionen verdeckte, sodass seine Gesichtszüge ständig in Bewegung schienen, und man sein Aussehen nie ganz in Worte fassen konnte. Nichtmal seine Stimme konnte man ganz erkennen, denn auch diese veränderte er, wenn er sprach. Diesen Bösewicht hatte er also nun jeden Tag zu bekämpfen, und das auch noch, ohne dass die anderen aus seinem normalen Leben seine geheime Identität erkannte. Zu diesen Leuten gehörte auch Thomas, sein bester Freund und Mitbewohner. Wenn dieser herausfinden würde, dass Phil in Wirklichkeit ein Superheld war, wäre er in Gefahr.  Das Phantom  würde Thomas benutzen, um Neuromind aus der Reserve zu locken. Denn Neuromind wusste, dass er eine Schwäche hatte - und das war Thomas. Bloß war es schwer, seine geheime Identität vor ihm geheim zu halten, denn Phil wurde bei dem Kampf gegen das Phantom schon das ein oder andere verletzt. Thomas konnte ihn dank seines Medizinstudiums verarzten, doch natürlich wollte er auch wissen, was mal wieder mit Phil passiert war. Genau deswegen musste er ein Meister der Ausreden sein. Da wurde er einmal von einer Bande Teenager angefallen, das Andere Mal hatte er einen Fahrradunfall, und sogar eine Treppe war er schon heruntergefallen. Doch Thomas war nicht dumm, und so musste Phil immer befürchten, bald aufzufliegen. 

So war es auch an diesem Tag. Nach seiner Arbeit musste er zu einer entlegenen Fabrik, in der das Phantom schon wieder seine üblen Machenschaften plante. Es gab einen Kampf um Leben und Tod, in dem Phil eine Platzwunde über der rechten Augenbraue und mehrere blaue Flecken davon getragen hatte. Die blauen Flecke waren erst einmal egal, aber die Platzwunde musste verarztet werden. Immerhin hatte es sich gelohnt, denn er konnte nicht nur den üblen Plan des Phantoms vereiteln, sondern er konnte ihn auch ernsthaft - und vielleicht sogar lebensgefährlich durch eine Stichwunde in der Bauchgegend  - verletzen. Das Phantom konnte zwar fliehen, doch bereits morgen würde Phil die Verfolgung aufnehmen, und der Bösewicht würde seine gerechte Strafe endlich erhalten. "Was hast du schon wieder angestellt?" "Hm?", Phil fiel aus seinem Tagtraum und sah Thomas an, der dicht vor ihm saß und gerade die Wunde an seiner Stirn mit einem kleinen Stück Stoff abtupfte, um sie zu reinigen. Phil zuckte zurück, um den Schmerz, der ihm durch diese Berührung durchfuhr zu entkommen, doch Thomas hielt ihn fest. "Halt still", zischte er leise. "Sonst wird's nur noch schlimmer. Also, was ist passiert?" Phil zuckte mit den Schultern und richtete den Blick weg von Thomas auf den Fernseher im hinteren Teil des Zimmers, wo gerade über Neurominds neue Heldentat berichtet wurde. Das simulierte Verlegenheit, die man bei einer Ausrede, wie Phil sich ausgedacht hatte, empfinden musste, und machte es gleichzeitig einfacher, seinen besten Freund zu belügen. "Ich hab als ich heute durch die Stadt gelaufen bin auf mein Handy gesehen und bin gegen eine Laterne gelaufen." Thomas hielt inne und sah Phil an, bevor er laut loslachte. "Das meinst du nicht ernst." Phil nickte. "Doch, nicht besonders geschickt." "Das kann man wohl sagen.", gab Thomas zurück. "Hör zu. Ich will zwar Arzt werden und profitiere - was Übung angeht - ziemlich von deinen Verletzungen, aber leg es bitte nicht ständig drauf an." Phil grinste. "Geht klar." Dann betrachtete er Thomas genauer. "Was ist eigentlich mit dir?", fragte er dann. "Was soll mit mir sein?", erwiderte Thomas. "Du bist ziemlich blass. Also krank blass. Und du hast Augenringe. Willst du im Horrortheater mitspielen?" Thomas lächelte leicht. "Nein, ich hatte bloß einen echt anstrengenden Tag. Die Vorlesung von Herrn Müller war die reinste Qual, ich muss bis übermorgen eine Hausarbeit schreiben, die ich garantiert niemals schaffen werde, und dazu hab ich mir etwas eingefangen. Bin also echt K.O." "Oh verdammt", antwortete Phil, der plötzlich ein schlechtes Gewissen hatte, sich zusätzlich noch von Thomas verarzten zu lassen, wenn der eigentlich viel besseres zu tun hatte. "Soll ich dir irgendwie helfen? Nochmal zur Apotheke gehen? Dir eine Suppe kochen? Herr Müller zu Hause aufsuchen und ihm einen Arschtritt verpassen?" Das letzte Angebot brachte Thomas zum Lachen. "Nein danke", sagte er dann, während er begann, die Sachen, die er gebraucht hatte um Phil zu verarzten, zusammen zu packen, bevor er aufstand, um sie zurück ins Badezimmer zu bringen. Zumindest versuchte er aufzustehen, doch er taumelte, und wäre gefallen, wenn Phil nicht im richtigen Augenblick aufgesprungen wäre, um ihm zu stützen. "Hey, ist wirklich alles okay?", fragte er Thomas besorgt, doch dieser nickte nur. "Die Erschöpfung.", sagte er leise. "Es war wirklich ein sehr harter Tag. Ich brauche nur Ruhe." "Wenn du meinst", entgegnete Phil, während er Thomas mit einer Mischung aus Besorgnis und Skepsis betrachtete. "Ich bring dich erst einmal zum Sofa." Damit trug Phil seinen Freund zu dem grauen Sofa, welches zusammen mit dem Couchtisch, der viel Platz für etliche Chipstüten und Colagläser besaß, beide durch etliche Filmnächte geleitet hatte und legte ihn dort hin, bevor er sich neben ihm an die Kante setzte. "Sicher, dass ich nicht irgendwie einen Krankenwagen rufen soll oder so?", fragte Phil, der sich in dieser Situation völlig unbeholfen fühlte. Thomas war in dieser Beziehung der Arzt, nicht er. "Nein, nein.", antwortete Thomas schnell. "Ich... es geht schon wieder. Ich brauche nur Ruhe. "Okay...", erwiderte Phil. Er wollte gerade zu einer weiteren, bestimmt genauso unbeholfen klingenden Frage ansetzen, als ihm ein leichtes Flackern auffiel, das Thomas umgab. Es sah aus, wie in den Filmen, wenn Leute weggebeamt wurden, nur dass dies hier echt war. Ungläubig blinzelte er ein paar Mal und versuchte seinem Gehirn einzureden, dass er nicht nur eine Platzwunde, sondern auch eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte, doch das Flackern wurde immer stärker und stärker. Sprachlos sah Phil mit an, wie sein Freund flackerte, und als das seltsame Spiel endlich nachgelassen hatte, wirkte Thomas verändert. Er schien noch kaputter und blasser, als wäre er kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und ein mit Blut durchtränkter Verband wand sich um seinen Bauch. Erschrocken sprang Phil auf, während die Erkenntnis sich in seinem Geist breit machte. Dabei stieß er eines der Gläser um, die noch auf dem leeren Tisch standen. Es fiel um und rollte auf die Tischkante zu. Phil fing es auf, doch damit verriet er sich, denn er benutzte aus Reflex, und wahrscheinlich, weil er wegen der gesamten Situation nicht wusste, ob er in Panik verfallen oder was er sonst tun sollte, anstelle seiner Arme seine Kräfte, sodass das Glas für einen winzigen Moment in der Luft schwebte, bis es wie von Geisterhand bewegt sich zurück auf den Tisch bewegte. Als Phil endlich realisierte, was er getan hatte, hoffte ein winziger Teil in ihm noch, dass Thomas es eventuell nicht gesehen haben könnte, der jedoch sofort vernichtet wurde, als er sich umwandte und Thomas sah, der ihn mit einer seltsamen Mischung aus Schock, Angst und Trauer im Blick anstarrte. Eine halbe Ewigkeit verblieben die beiden so, niemand wusste, was er tun oder sagen sollte, und beide hatten Angst vor dem, was der Andere als nächstes tun oder sagen würde. Thomas schließlich erwachte als Erster aus seiner Starre, indem er sich nervös auf die Lippe biss, bevor er tief durchatmete. Sein Blick wandelte sich von der vorherigen, seltsamen Mischung zu einer neuen neuen Mixtur von Gefühlen, die Phil nicht ganz entschlüsseln konnte. "Also", seufzte Thomas schließlich. "Ich schätze, das macht es etwas einfacher. Hallo, Neuromind." Phil spürte das Entsetzen in ihm, und er hatte keine Ahnung, was er von dieser Situation halten sollte, doch auch er holte tief Luft, bevor er schließlich antwortete. "Hallo, Phantom."

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