Kapitel 9

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Am nächsten Tag kam Annassandra zusammen mit ihrem Sohn vorbei, um im Haver Anwesen für Ordnung zu sorgen. Natürlich hatte Phil es völlig verschwitzt, Thomas davon zu erzählen, und eine dementsprechende Situation entstand auch, als es kurz nach dem Frühstück an der Tür klingelte. "Verdammt...", murmelte Thomas, Panik hatte Einzug in seiner Stimme gefunden. "Sie sind hier. Wir müssen hier weg!" Phil jedoch schüttelte mit dem Kopf. "Nein, müssen wir nicht. Das sind nicht die von O.R.I.O.N." "Ach?", erwiderte Thomas. Die Angst und Nervosität sorgten dafür, dass er gleichermaßen verwirrt und hektisch wirkte, was, zusammen mit der Entschlossenheit und der Bereitschaft, notfalls um sein und Phil's Leben zu kämpfen, in seinen Gesichtszügen ein explosives Gemisch bildete. "Woher willst du das so genau wissen?" "Erstens glaube ich, dass die von O.R.I.O.N. nicht hier klingeln und einfach reinstürmen würden. Zweitens ist das Annassandra zusammen mit Nevio." "Wer?" Phil hatte ein schlechtes Gewissen, weil er vergessen hatte, Thomas von den beiden zu erzählen. Und obwohl ein ganz kleiner Teil von Phil es irgendwie genoß, einmal mehr zu wissen, als Thomas, klärte er es schnell auf. "Du hast eine Putzfrau.", wiederholte Thomas skeptisch, als Phil seine Erklärung beendet hatte. "Ähm... Ja. Naja, sie ist eher unsere Haushälterin. Aber ja." "Das ist echt... dekadent." "Nein ist es nicht.", erwiderte Phil leicht genervt. "Wie soll ich mich denn alleine sonst um ein Haus von dieser Größe kümmern?" Thomas grinste. "Das Haus ist auch dekadent.", sagte er dann. Phil verdrehte nur die Augen, dann lief er zu der Haustür um Annassandra und Nevio die Tür zu öffnen.
Annassandra brachte Thomas von Anfang an dezentes, aber unverholenes Misstrauen gepaart mit gut dosierter Ablehnung entgegen. Das lag entweder daran, dass sie ihm wegen ihres Instinkts -der immer schon seltsam zuverlässig gewesen war- misstraute, oder daran, dass er ihr mindestens dieselbe Dosis Argwohn entgegen brachte. Auf jeden Fall war schon zu Beginn klar, dass die beiden wahrscheinlich nicht beste Freunde werden würden. Phil beobachtete, wie Annassandra Thomas jedes mal mürrisch fauchend wegscheuchte, wenn dieser im Weg stand und anschließend Dinge auf spanisch murmelte, die Phil trotz seiner fehlenden Spanischkenntnisse als nicht besonders nett identifizieren konnte. Auch Nevio war anzusehen, dass er Thomas nicht leiden konnte, sodass Phil es irgendwann aufgab und sich mitsamt etwas zu trinken und Thomas nach draußen verzog, während Annassandra und Nevio drinnen ihre Arbeit verrichteten. Der Garten musste sowieso nicht gepflegt werden an diesem Tag, weil Nevio erst beim letzten Mal den Rasen gemäht und die Pflanzen beschnitten hatte, sodass er Annassandra im Haus half. Das Wetter war ziemlich gut- die Sonne schien und die Hitze wurde von einem kühlen Wind abgeschwächt. Thomas und Phil gingen zu der kleinen Gartenlaube und setzten sich nebeneinander auf eine der Bänke. "Das ist eine gute Möglichkeit um zu reden, glaube ich.", sagte Phil, nachdem zwischen ihnen ein kurzes, aber immerhin nicht unangenehmes Schweigen entstanden war, in dem die beiden einfach nur die frische Luft genossen und nachgedacht hatten. Thomas zog eine Augenbraue hoch. "Worüber?", fragte er dann skeptisch. "Ich will mehr wissen", entgegnete Phil bestimmt. "Über dich, O.R.I.O.N, alles halt." Thomas atmete einmal tief durch, sein Blick verdunkelte sich. Die Erinnerungen an die Gefahr, die Verluste und den Schmerz, die er durch die Tage mit Phil erfolgreich verdrängt hatte, schienen zurück zu kehren. Trotzdem sah er nach einer kurzen Zeit Phil an und nickte. "Also, was willst du wissen?", fragte er. Phil musste nicht lange überlegen, er fragte gerade heraus, weil seine Neugier es ihm fast unmöglich machte, an Taktgefühl oder Anstand zu denken. "Was genau ist bei O.R.I.O.N passiert?", fragte er. "Was haben sie mit dir gemacht?" Gleichzeitig spürte er, wie in ihm eine neue Wut gegen O.R.I.O.N aufstieg. Er wusste kaum etwas über sie, aber gemessen an dem, wie Thomas auf den bloßen Namen reagierte, mussten es echt üble Typen sein. "Sie haben uns gefangen gehalten", begann Thomas. "Und dann Experimente mit uns gemacht. Erst einfache Physiologische Tests. Blutproben, Knochenmark-Proben und noch einige andere, dann Belastungstest. Für die Stressresistenz, Kondition und so weiter. Bis sie so gut wie alle Werte zu der Physiologie unserer Körper hatten. Und als das beendet war, begannen die Experimente zu unseren Kräften. Man hat ausprobiert, wie weit sie reichten, und wie man am besten dagegen ankämpfen konnte. Man hat getestet, wo unsere Schwachstellen sind, und bis zu welchen Punkt des Schmerzes wir uns wehren konnten, und-" "Okay, es reicht", unterbrach Phil ihn, der sich Thomas Schilderung unwillkürlich vorgestellt hatte und nun immer blasser wurde. Thomas lächelte leicht trocken, als hätte er so eine Reaktion von Phil's Seite aus erwartet, dann senkte er den Kopf. "Wie bist du da raus gekommen?", fragte Phil dann. Thomas sah ihn wieder an, diesmal mit einem entschlossenen, fast trotzigen Blick. "Wenn sie die Grenzen deiner Kräfte immer und immer wieder austesten, wirst du mit der Zeit stärker. Und ich habe geschafft, den Zuwachs meiner Kräfte geheim zu halten. Außerdem hat meine Schwester mir geholfen." Mit den letzten Worten wandte er den Blick ab und fixierte irgendwas in der Ferne, um Phil's Blick nicht begegnen zu müssen. Dieser seufzte, bevor er weiter fragte. "Was hat sie gemacht, um dir zu helfen?" Thomas antwortete nicht. Er hielt den Blick weiterhin fest nach vorne gerichtet, hatte die Hände ineinander verschränkt und drückte mit den Fingern der rechten Hand auf die Knöchel der linken, sodass diese leicht gebogen wurden und knackten. Phil wusste, dass das eine Angewohnheit von Thomas war, die er meistens tat, wenn er gestresst oder in Gedanken versunken war. Als Phil ihm ins Gesicht sah, bemerkte er, dass Tränen in dessen Augen schimmerten. "Tut mir leid.", sagte er betreten, weil ihn nun ein schlechtes Gewissen beschlich. "Ich wollte nicht so aufdringlich sein. Du musst es mir nicht sagen." "Nein, schon gut.", entgegnete Thomas schnell, aber etwas heiser. Er wischte sich einmal kurz über die Augen, bevor er weiter erzählte. "Sarah, meine Schwester war wie wir. Sie konnte Pflanzen wachsen lassen und ihnen sogar bestimmte Eigenschaften geben. Über die ganze Zeit, die wir da waren, hat sie eine Pflanze durch das Fundament des Gebäudes wachsen lassen, die in ihren Wurzeln ein explosives Gemisch produzierte. Als sie durch den Boden brach und das Gemisch in den Wurzeln explodierte, stürzte das Gebäude ein und ich konnte in dem Chaos entkommen." "Sie nicht?", fragte Phil weiter und Thomas schüttelte mit dem Kopf. "Sie hat aufgepasst, das die Explosion der Pflanze zwar eine Wand meiner Zelle aber nicht die Zelle selbst zerstören würde. Aber der Trakt in dem sie war ist komplett von Trümmerteilen begraben worden." Als Thomas' Erzählung beendet war, entstand eine lange Stille zwischen den beiden, in denen Phil keine Ahnung hatte, was er sagen sollte, während Thomas den Erinnerungen nach hing. "Das tut mir leid.", sagte Phil schließlich. Eine Floskel, die in einem Moment wie diesem zwar angemessen aber noch lange nicht genug war. Immerhin konnte er jetzt verstehen, warum Thomas so auf Rache an O.R.I.O.N aus war. Dieser zuckte leicht mit den Schultern, jedoch ohne Phil anzusehen. "Es ist lange her.", sagte er dann knapp. Phil wusste nicht, wie er darauf antworten sollte, also nickte er nur und seufzte. "Wie sieht es eigentlich mit deinen Kräften aus?", fragte Thomas dann interessiert. "Äh. Was?", entgegnete Phil perplex, der sowohl von dem Wechsel des Themas als auch von dem Änderung an Thomas' Stimmung von Trauer und Wut zu Interesse völlig verwirrt war. "Naja", begann Thomas. "Es bringt nichts mehr, den alten Dingen nachzuhängen. Wir sollten uns darauf konzentrieren, uns gegen O.R.I.O.N. verteidigen zu können." Dabei sah er hoch und Phil mit einem neuen Feuer im Blick an, der von der Entschlossen- und Verbissenheit sprach, mit der er für seinen Freund kämpfen wollte. "Okay, klar. Aber worauf willst du hinaus?" "Wo sind deine Grenzen?", fragte Thomas. "Ich meine bei deinen Kräften. Hast du sie schon mal wirklich bewusst trainiert?" "Naja...", entgegnete Phil verlegen. "Ich hab ein wenig damit rum gespielt. Und mit meinen Kämpfen gegen dich hab ich trainiert, schätze ich. Aber sonst... nein, wahrscheinlich eher weniger." "Okay...", erwiderte Thomas nachdenklich. "Willst du es hier versuchen?" "Was?", entgegnete Phil verwirrt. "Trainieren.", sagte Thomas einfach. "Mit mir." "Okay, was schlägst du vor?", fragte Phil. "Pfff, keine Ahnung." Thomas stand auf und sah sich suchend um, bis er einen kleinen Ast entdeckt hatte, der nicht weit entfernt an einem Baum gelehnt stand. "Hier", sagte er dann, während er darauf zeigte. "Heb den an." Phil seufzte. "Das ist einfach." "Ich weiß", erwiderte Thomas. "Aber wir können es danach immernoch steigern." Anscheinend überzeugt von diesem Argument nickte Phil, bevor er sich anschließend auf den Ast konzentrierte und ihn durch seine Kräfte mit Leichtigkeit in der Luft schweben ließ. Thomas nickte. "Und jetzt wirf ihn mir zu." "Zuwerfen?", wiederholte Phil zögernd. "Ja. Ich hab gesehen, dass du Dinge durch die Luft fliegen lassen kannst. Ich meine, einige hab ich selbst abbekommen.", fügte er mit einem Grinsen hinzu, sodass es mehr ein Witz als eine Anschuldigung war. "Der Ast ist klein genug, dass ich ihn fangen kann. Also wirft ihn." Phil zuckte mit den Schultern und warf den Ast, wobei er jedoch dessen Gewicht überschätzt,  sodass er ihn mit zu viel Kraft Wurf,  was wiederum dazu führte, dass er -anstatt in Thomas' Reichweite zu fliegen- über ihn hinweg segelte und anschließend an dem Baum hinter ihm abprallte, zur Seite flog und unweit von ihnen liegen blieb. "Mist.", murmelte Phil, der froh darüber war, dass er nicht so genau gezielt hatte, wodurch Thomas weder von dem Ast getroffen noch von ihm verletzt wurde. "Tut mir leid." Thomas aber grinste und wank ab. "Das war halb so schlimm. Also sind deine Kräfte stark, aber Feinmotorik ist bei dir noch nicht drin." "Wozu brauchte ich das auch bisher?", fragte Phil zerknirscht. Thomas zuckte mit den Schultern. "Also ich wüsste, was man feinmotorisch mit deinen Kräften anfangen könnte." Dabei lachte er leicht. Es war ein ehrliches Lachen, was seinem Gesicht wieder etwas Farbe verlieh. Phil hatte keine Ahnung, was Thomas mit der Bemerkung meinte, aber er ging davon aus, dass er es auch nicht wissen wollte. "Das heißt, du schlägst vor, dass wir das üben?" Thomas nickte. "Willst du es mit dem Ast nochmal probieren?" "Lieber nicht, ich hab eine bessere Idee." Mit diesen Worten stand Phil von der Bank auf, auf der er Bis zu diesem Moment gesessen hatte, und hob die Sitzfläche etwas an, sodass darunter ein kleiner Stauraum zum Vorschein kam, in dem mehrere Federbälle und die dazu passenden Schläger lagen. Phil holte sie hervor und sah Thomas fragen an, der jedoch reagierte skeptisch. "Federball?", fragte er. "Ja, wieso nicht?", entgegnete Phil. "Naja... Das spielt man auf dem Rasen. Den kann man vom Haus aus sehen. Und wenn Annassandra oder Nevio im falschen Augenblick aus dem Fenster sehen und einen schwebenden Schläger erkennen..." "Ach", unterbrach Phil ihn. "Die beiden wissen das." "Die... was?", rief Thomas überrascht aus. Phil zuckte verlegen mit den Schultern. "Annassandra und Nevio haben schon für uns gearbeitet, als ich ein Kind war. Und als ich als Teenager meine Kräfte entdeckt habe, musste ich doch etwas damit angeben." "A.... ha.", erwiderte Thomas langsam. "Wir können ihnen vertrauen.", versicherte Phil ihm. "Ja. Schon klar", sagte Thomas kurz, wobei er für sich behielt, dass er genau dass früher auch dachte. "Wollen wir jetzt spielen?", fragte Phil leicht ungeduldig. Er wusste schon jetzt, dass er nicht jede einzelne Kleinigkeit unter dem Aspekt von Thomas' Paranoia diskutieren wollte. Dieser nickte nur, dann gingen sie zusammen aus dem Waldstück raus auf die Wiese. Phil ließ den Schläger in der Luft schweben und versuchte, den Ball, den Thomas ihm zuspielte, zurück zu spielen. Anfangs schaffte er nicht einmal das, und selbst als er irgendwann den Dreh raus hatte, flog der Ball überall hin, aber nicht dahin, wo Thomas ihn erreichen konnte. "Irgendwas mache ich falsch", sagte Phil irgendwann frustriert. Thomas betrachtete ihn genau, dann nickte er. "Du versuchst, den Schläger über die falschen Bewegungen zu kontrollieren. Du hebst den Schläger, stößt ihn weg oder ziehst ihn zu dir ran. Dabei musst du deine Kraft so benutzen, als wäre es eine weitere Hand. Stell dir vor, dass du den Schläger hältst, und welche Bewegungen du ausführen musst, um den Ball zu treffen, okay?" Phil nickte. "Ich glaube, ich verstehe, wie du es meinst." Thomas lächelte. "Okay." "Aber woher weißt du sowas?", fragte Phil weiter. "O.R.I.O.N. hat auch die Kräfte von Telekineten getestet. Ich konnte das ein oder andere mal etwas aufschnappen.", erklärte Thomas knapp. In seinen Augen kehrte der vertraute Blick zurück, den er drauf hatte, wenn er O.R.I.O.N. erwähnte. Dann machte er einen neuen Aufschlag. Phil hatte Thomas' Tipp verinnerlicht und behandelte den Schläger, als wenn er ihn in der Hand hielt, doch dieses Mal schlug er am Ball vorbei. Mit der Zeit jedoch wurde er besser, sodass er nicht nur den Ball besser zu Thomas zurückschlagen konnte, sondern sich auch ein Spiel entwickelte, an dessen Ende Thomas vom Rennen ausser Puste war und Phil von der Konzentration Kopfschmerzen hatte. Sie spielten bis in den Abend hinein, obwohl Annassandra und Nevio das Haus längst verlassen hatten.

Als Phil an diesem Abend ins Bett ging, war er zufrieden. Nicht nur weil er im Training tatsächlich viel lernen konnte, sondern auch, weil Thomas vor allem auch durch das Spielen ruhiger und glücklicher und nicht mehr so nervös wirkte. Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war, doch schon wenige Stunden später wachte er davon auf, dass jemand über die knartschenden Dielen des Flures lief. Erst dachte er, dass Thomas es wäre, der zur Küche lief, um vielleicht etwas zu trinken, doch der Weg zur Küche führte nicht vom Gästezimmer wo Thomas schlief an Phil's Raum vorbei. Zudem sprachen noch zwei weitere Gründe gegen Thomas: Erstens waren es zu viele Schritte für einen einzelnen Menschen und zweitens konnte Phil zwar zugeben, dass Thomas durch seine Paranoia und sein Trauma durch seine Zeit bei O.R.I.O.N.  geistig nicht ganz gesund war, aber gleichzeitig war er sich auch sicher, dass Thomas keine Selbstgespräche führte. Und im Flur war eindeutig das Geflüster mehrerer Stimmen zu hören. 

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