Kapitel 7

18 2 0
                                    

Fast eine Woche verging, ohne das etwas besonderes passierte. Die Wunde an Thomas' Bauch verheilte und schloss sich, und er wusste, dass wahrscheinlich nicht mal eine Narbe davon zurückbleiben würde. Phil fiel jedoch auch auf, dass Thomas physischer Zustand sich zwar verbesserte, dafür aber sein psychischer zu leiden hatte. Er wirkte nervös, fahrig und fast paranoid und die Ringe unter seinen Augen wuchsen von Tag zu Tag. Phil merkte, wie erschöpfend es für Thomas war, unter der Gefahr zu leben, von O.R.I.O.N. erwischt zu werden, aber er traute sich nicht, ihn weiter danach zu befragen, aus Angst, dass es diesen noch mehr unter Stress setzen könnte. Sie sprachen wenig miteinander und verbrachten die Tage oft in anderen Teilen des Hauses, aus Angst, ein neues Gespräch zu beginnen. Phil trieb es fast in den Wahnsinn, weil er dadurch nur zusehen konnte, wie es Thomas immer schlechter ging und die Angst ihn zu überwältigen drohte, aber nichts dagegen tun konnte. Wenn er seinen Mut zusammen fasste und ihn fragte, ob alles okay war, log dieser nur, dass alles okay sei, oder wich der Frage aus. Phil erwischte sich inzwischen immer öfter bei der Frage, ob sie so überhaupt noch Freunde sein oder einander vertrauen konnten, oder ob die Sache mit Neuromind und Phantom sowie die Verfolgung durch O.R.I.O.N. ihre Freundschaft endgültig zerstört hatte. Er selbst hoffte, dass genau das nicht der Fall war. Aber was konnte er machen, wenn sie nicht miteinander redeten? 

An diesem Morgen saß Phil in der kleinen Gartenlaube, die den Rand ihres Gartens zierte und durch Bäume, die dicht nebeneinander standen und einen kleinen Wald bildeten, verdeckt und geschützt wurde. Er genoss diesen Frühlingsmorgen, der für die Jahreszeit schon fast ein bisschen zu warm, aber trotzdem noch angenehm kühl war, sodass man problemlos in T-Shirt und Jeans draußen sitzen konnte, ohne zu frieren oder zu schwitzen. Leises Vogelgezwitscher war zu hören, und als Phil still saß, konnte er ein paar Spatzen beobachten, die neugierig bis fast auf einen Meter Entfernung an ihn ran kamen und ihn mit schief gelegtem Kopf argwöhnisch betrachteten. An einem Morgen wie diesem konnte er schon fast den verrückten Thriller vergessen, in den sich sein Leben in den letzten Tagen verwandelt hatte. Stattdessen rauschten in leisen Wellen Erinnerungen an ihn heran, an die Kindheit, die er in diesem Haus verbracht hatte. Daran, wie er in diesem Garten gespielt hatte, daran, wie er mit sechs Jahren den Baum gepflanzt hatte, der in der Mitte der kleinen kleinen Wiese wuchs, und der in der Zeit seitdem beträchtlich an Größe gewonnen hatte. Der Garten war immer das gewesen, was er an seinem Haus am liebsten gemocht hatte. Er war riesig, und sicher für einen Erwachsenen eine ziemliche Ladung an Arbeit, doch für ein Kind war es ein einziges riesiges Abenteuer. Der Garten war nach all dieser Zeit noch ziemlich gut gepflegt, was daran lag, dass Phil dafür gesorgt hatte, dass obwohl das Haus über eine längere Zeit nicht bewohnt war, trotzdem regelmäßig ein Gärtner wie eine Putzfrau kamen, die für Ordnung sorgten und nach dem Rechten sehen sollen. Annassandra und ihr Sohn Nevio, hatten eben diese Jobs schon ausgeführt, als Phil noch ein Kind gewesen war, und waren gerne bereit, sich nach dem Tod seines Vaters um das Haus weiter zu kümmern. Phil hatte Annassandra bereits an seinem zweiten Tag geschrieben, dass sie für ein paar Tage wieder in dem Haus leben würde, worauf Annassandra darauf bestanden hatte, in der darauffolgenden Woche vorbei zu kommen, um im Haus für Ordnung zu sorgen. Phil überlegte, dass er Thomas vielleicht davon etwas sagen sollte, um zu verhindern, dass er Annassandra in seiner Paranoia und seinem Glauben, sie sei eine von O.R.I.O.N. etwas antun könnte, doch sie würde erst in drei Tagen vorbei kommen, und in diesem Moment war Phil einfach zu faul aufzustehen und überhaupt irgendwas zu tun. Er konnte es Thomas auch später sagen. Oder morgen. 

Dieser war, wie Phil vermutete, wahrscheinlich in der Bibliothek des Hauses, die Phil ihm am Abend des zweiten Tages gezeigt hatte. Dort hatte er die letzten Tage am meisten Zeit verbracht, sodass es inoffiziell schon fast zu seinem Territorium geworden war. Phil störte es nicht. Er hoffte nur, dass es seinem Freund bald besser gehen würde. Gleichzeitig machte er sich Vorwürfe, weil er nicht wusste, wie er Thomas nicht helfen konnte. Er konnte die Gefahr nicht ausschalten, genauso wenig, wie er Thomas seine Schwester zurückgeben oder das, was dieser durch gemacht hatte ungeschehen machen konnte, und das war es, was ihn selbst zerfraß. Er selbst hatte auch Angst davon, dass O.R.I.O.N. beim Haver-Anwesen aufkreuzen könnte, doch seine Angst war längst nicht so stark, so zerfressend wie die von Thomas. Außerdem glaubte Phil, dass sie schon irgendwie würden entkommen können. Notfalls durch Einsatz ihrer Kräfte. Er war ein Optimist, was das anging, wobei dies aber auch dadurch zu erklären war, dass das Einzige, was er nun über O.R.I.O.N. wusste, das war, was Thomas ihm erzählt, oder was er selbst in den beiden kurzen Treffen mit deren Männern auf dem Dach des Krankenhauses und in dem Hinterhof ihrer Wohnung mitbekommen hatte. Ein kleiner, gutgläubiger, diplomatischer Teil von ihm glaubte, dass O.R.I.O.N. gar nicht so schlimm war wie Thomas gesagt hatte und dass alles nur ein Missverständnis, oder über ein kurzes Gespräch mit O.R.I.O.N. zu lösen war. Der vernünftige Teil hielt zwar dagegen und argumentierte, dass allein die heftige Reaktion auf die Gefahr, von O.R.I.O.N. gefasst zu werden, die Phil an Thomas erkennen konnte plus die Tatsache, dass die Frau, die er in dem Hinterhof kennengelernt hatte, ohne Skrupel den Befehl gegeben hatte auf sie zu schießen, dagegen und für O.R.I.O.N.'s Gefährlichkeit sprach, aber immerhin war Phil's naive Seite diejenige, die ihn Nachts relativ gut schlafen ließ. Wobei das aber nur der Fall war, weil er sich weigerte, darüber nachzudenken, wie es in Zukunft weiter gehen sollte. Phil besaß zwar genug Geld, um zumindest über einen beträchtlichen Zeitraum nicht arbeiten zu müssen, jedoch wusste er nicht, was dann war. Wie lange konnten Thomas und er so leben? Damit sprach er nicht von ihrem Aufenthalt, was, abgesehen von ihrer Situation Thomas vorkommen musste wie ein Urlaub in einem Luxushotel, während es für Phil war wie eine Reise zurück in die Kindheit, nein, er sprach davon, wie sie unter der Situation damit leben konnte. Sie waren zwar relativ sicher in dem Anwesen, doch was war mit dem Rest? Waren sie beim Einkaufen sicher? Konnten sie sicher rausgehen? Würden sie sicher arbeiten oder studieren können, ohne das sie erkannt werden würden? In Angst zu leben war unglaublicher Stress, und Phil sah an Thomas, wie zermürbend dieser werden konnte. Wie lange würde es dauern, bis er genau so paranoid werden würde? Allein der Gedanke daran, dass irgendein Agent von O.R.I.O.N. gerade an seinem Computer saß und seine Spur verfolgte, bis schließlich die Adresse des Haver-Anwesens in leuchtend roten Buchstaben auf dem Bildschirm auf flimmerte, verließ ihn dazu, in Gedanken die Preise von Sicherheitssystemen und Fluchtfahrzeugen abzugleichen, sodass er sein imaginäres Gewehr nahm und diese Gedanken verscheuchte, bis sie sich wieder in die Tiefen seiner Amygdala verzogen hatten. Er seufzte leise. Verflixt. 

Ein lautes Knarzen ertönte, als die Tür, die von der Küche in den Garten führte sich öffnete, und kurz darauf wieder geschlossen wurde. Phil konnte sie von hier aus nicht sehen, aber das Knarzen war laut genug gewesen, und er wusste, dass das die Einzige Tür des Hauses war die nicht fast geräuschlos zu ging. Thomas war also draußen. Phil hob überrascht die Augenbrauen. Das war nicht so wie die letzten Tage, und ließ Phil hoffen, dass Thomas' Zustand sich vielleicht verbessert hatte. Als Thomas wenig später durch die Bäume trat und auf Phil zu lief, wurde dessen Hoffnung in Luft auf gelöst. Thomas sah müde und erschöpft aus, seine Haare waren zerzaust und seine Hände, die nervös zitterten klammerten sich an den seitlichen Saum seines Shirts. Trotzdem lächelte er leicht, als er Phil sah. "Hey", sagte er dann. "Hi", erwiderte Phil. "Wie geht es dir?" "Gut", antwortete Thomas. "Die Wunde ist so gut wie verheilt." 'Das meine ich nicht', wäre wohl das gewesen, was Phil in diesem Moment am Liebsten erwidert hätte. Doch anscheinend schien Thomas nicht zu merken, wie erschöpft und nervös er auf Phil wirkte, denn er erschuf keine Illusionen um das zu überspielen, wie er es sonst getan hätte. Phil seufzte leise. "Okay", sagte er dann. "Aber ich denke, wir sollten noch einmal miteinander reden. Thomas nickte. "Deswegen bin ich hier. Um dich zu fragen, was du meinst, wie es weiter gehen soll. Und ich meine nicht im strategischen, was O.R.I.O.N. angeht." Phil ließ sich Zeit, um zu überlegen und die Worte in die richtige Reihenfolge zu setzen, bevor er antwortete. "Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Das Phantom ist eine Seite an dir, die ich kaum kenne. Die ich bekämpft habe. Die ich wegen der Taten, die du als dieser gemacht hast, nicht mag. Du führst deinen Krieg gegen O.R.I.O.N., den du unmöglich gewinnen kannst, und ich will ihn nicht mit dir führen. Aber du bist auch mein Freund. Du bedeutest mir etwas und ich will dich nicht verlieren. Ich will, dass du bei mir bleibst, aber wenn du das Nächste Mal versuchst, irgendeinen Stützpunkt von O.R.I.O.N. als Phantom in die Luft zu jagen, werde ich dich aufhalten. Nicht um dich zu bekämpfen, sondern um dich zu schützen, weil du sonst durch deinen Wunsch, Rache zu nehmen, umgebracht werden wirst." "Warte.", sagte Thomas nachdenklich. "Heißt das, dass du nicht wütend bist, wegen dem, was ich getan habe? Oder enttäuscht wegen dem, der ich bin?" Phil schüttelte mit dem Kopf. "Nein, ich denke nicht. Ich denke, ich kann deinen Rachefeldzug irgendwie... verstehen. Ich finde es nicht gut, glaub das nicht, denn du hat immer noch Menschen umgebracht, aber ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass ich an deiner Stelle anders gehandelt hätte." Thomas lächelte. Im Gegensatz zu dem Lächeln vor wenigen Minuten schien es jetzt ein wärmeres, breiteres Lächeln zu sein, was seinem Gesicht wieder etwas Farbe verlieh. "Ich hätte nicht gedacht, dass du es so einfach aufnimmst.", sagte er dann. "Ich bin sehr tolerant erzogen worden.", antwortete Phil scherzhaft, bevor er mit in etwas ernsthafterem Ton hinzufügte: "Außerdem können wir es uns bei dem, was ich bisher von dir über O.R.I.O.N. weiß nicht leisten, alleine dagegen zu kämpfen. Also...?" Mit dem letzten Wort streckte Phil Thomas die Hand entgegen. Dieser musterte Phil für einen winzigen Moment, bevor er schließlich grinste und sie ergriff. Phil nutzte diese Bewegung aus und zog seinen Freund in eine kurze Umarmung, bevor er ihn wieder losließ und ihm durch die Haare strubbelte. "Hey!", protestierte dieser lachend, doch Phil zuckte nur mit den Schultern und grinste, bevor er sich, gefolgt von Thomas, auf den Weg zurück zum  Haus machte.  

RoommatesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt