Kapitel 14

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Charlie war der erste, der sich aus der Starre, in der die anderen sich befanden, freikämpfte und aufstand. Er wusste anscheinend, wie man mit diesen "Kennenlernen-und-nicht-gleich-verfeindet-sein-Situationen" umgehen konnte, sodass er, anders als alle anderen, wusste, was er sagen konnte. Er ging direkt auf Phil und Thomas zu, blieb kurz vor ihnen stehen und betrachtete sie.  "Hi", sagte er dann. "Ich bin Charlie. Nur, um mich mal offiziell vorzustellen. Kennen tut ihr mich ja schon mehr oder weniger." Dabei lächelte er freundlich und offen,  sodass Phil ihm,  wenn er ihn nicht unter so problematischen Umständen kennengelernt hätte, sofort hätte vertrauen wollen.  "Stimmt, ich kenne dich", erwiderte Thomas mit einem leicht spitzen Unterton in seiner Stimme. "Ich hab dir ins Gesicht geschlagen." Charlie lachte. "Stimmt. Tut mir leid, dass das ganze so eskaliert ist." Phil stand daneben und beobachtete die beiden fasziniert. Irgendwas an Charlies Ausstrahlung schien dafür gesorgt zu haben, dass Thomas sich beruhigt hatte, sodass er nicht wie Phil erwartet hätte, irgendwas gemeines erwiderte. "Klingelt einfach beim nächsten mal.",  sagte er stattdessen. "Wird notiert.", antwortete Charlie grinsend. "Aber wie auch immer. Ich werde euch die anderen vorstellen. Ich bin mir sicher, dass Jonas euch ins kalte Wasser geworfen hat, was das angeht.", sagte er mit einem gespielt wütenden Blick auf Jonas, der aber durch ein leichtes Lächeln verraten wurde.  Dann zeigte er auf das braunhaarige Mädchen, welches bis zu dem Moment noch am wenigsten gesagt hatte. Sie war relativ klein und zierlich, saß im Schneidersitz auf dem Sofa und betrachtete sie mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen. "Das ist Daria, meine Schwester.", sagte Charlie, während er ihr kurz zu lächelte. " "Hey", sagte Daria kurz. Phil vermutete, dass sie entweder schüchtern oder von dem Streit zwischen Thomas und Kat eingeschüchtert war. "Hi", erwiderte er, wobei er darauf achtete, trotz der Mündigkeit und Genervtheit, die sich wegen des bereits sehr späten Abends in seinen Geist eingeschlichen hatte, freundlich zu wirken. Er hatte keine Lust darauf, noch mehr angefeindet zu werden. Ihn interessierte, wer die anderen waren, und im Gegensatz zu Thomas hielt er es langsam trotz des schlechten Startes für eine relativ gute Idee, erstmal zu bleiben, und der Gruppe vielleicht sogar beizutreten. Denn obwohl sie bisher einen ziemlich verrückten und nicht wirklich vertrauenswürdigen Eindruck gemacht hatten, hatte Phil das Gefühl, dass sie in der Gruppe sicherer sein würden, und dass es auch Thomas nicht schaden konnte, ein paar neue Freunde zu gewinnen. "Das...", fuhr Charlie fort, während er auf den Jungen mit den silberblonden Haaren zeigte. "...ist Felix. Der beste Hacker der ganzen Stadt und dazu mein bester Freund." "Ich bitte dich.", warf Felix ein. "Ich bin der beste Hacker der ganzen Welt. Außer, ihr findet jemanden, der genauso wie ich Computer mit seinem Geist steuern kann. Und selbst dann müsste der erstmal besser sein als ich." Er grinste überheblich, wobei sein Verhalten aber so von Selbstironie durchzogen war, das es gar nicht so selbstverliebt klang, wie er es gesagt hatte. "Warte mal", wandte Phil ein. "Dann hast du eben auch den Fernseher leise gemacht, oder? Ohne die Fernbedienung zu berühren, meine ich." "Jap", entgegnete Felix. "Ist ziemlich einfach." Zum Beweis ließ er den Fernseher angehen und dann einmal lauter und wieder leise werden, bevor er ihn wieder aus schaltete. "Wow", sagte Phil anerkennend. "Wie gesagt, einfach.", sagte Felix abwinkend, doch sein Grinsen verriet, dass er die Aufmerksamkeit genoss. "...Ja. Wie auch immer.", sagte Charlie, bevor er auf das blonde Mädchen neben Daria zeigte. "Das ist Anne. Sie ist unser Tor zur Welt." "Er übertreibt.", sagte Anne leise, die Aufmerksamkeit schien ihr im Gegensatz zu Felix nicht zu gefallen. "Ich kann mich nur teleportieren, mehr nicht." Dabei sah sie Phil und Thomas an und lächelte einmal kurz, bevor sie ihren Blick dem Boden vor sich zuwandte. "Und ganz oben...", sagte Charlie, wobei er auf die Rückenlehne des Sofas deutete, auf der das dunkelhaarige Mädchen saß. "...ist Adaine. Die vernünftigste von uns." "Was bei euch ja auch nicht besonders schwer ist.", kommentierte Adaine, bevor sie sich Phil und Thomas zuwandte. "Hi", sagte sie. "Hey", erwiderten Phil und Thomas, fast in einem perfekten Chor. "Super, jetzt kennt ihr alle", mischte sich Jonas lachend ein. "Naja, alle außer Cole. Aber Cole werdet ihr morgen oder so kennen lernen." "Und was genau soll das ganze hier jetzt?", fragte Thomas. Die Müdigkeit, die auch er langsam zu spüren bekam, sorgte dafür, dass er eher verwirrt als genervt klang. "Das Haus hier...", begann Jonas zu erklären. "...war zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch ein Internat. Ich hab es gekauft und umbauen lassen, sodass wir jetzt einen Ort haben, an dem wir, und Leute, die wie wir sind, zusammen sein können. Einen Ort, um Schutz zu suchen und Gleichgesinnte zu treffen." In seiner Stimme  lag eine seltsame Art von Enthusiasmus, die dazu führte, dass Phil sich unwillkürlich fragte, was ihn so motivierte, dass er so etwas großes für eine Handvoll Leute machte, die dieselbe Gefahr teilten, in der auch er sich befand. "Du besitzt das Ganze hier?", fragte Thomas skeptisch. "Du erwähntest doch, dass du in einem Restaurant arbeitest. Das muss ja ein richtiger Luxusschuppen sein." Jonas schüttelte mit dem Kopf. "Das ist nur ein ganz normales Restaurant, und ich bin nur ein einfacher Kellner.", sagte er. "Aber ich habe ein paar einfache Tricks angewendet, nach denen ich das Ganze fast umsonst bekommen habe." "Aber... das war ziemlich gemein.", warf Phil protestierend ein. Er dachte automatisch an den Menschen, der das Haus verkauft hatte, ohne einen Cent dafür zu kriegen, und nun dadurch vielleicht hoch verschuldet war, weil er das Geld gebraucht hätte. Jonas las seine Gedanken und grinste leicht grimmig. "O.R.I.O.N hat reiche Sponsoren", antwortete er. "Irgendwelche reichen Typen, die ihnen Geld zustecken, um zum Beispiel von den dort gefangenen Hellsehern die nächsten Lottozahlen zu kriegen. Es ist aufgebaut wie in einer Mafia. Und eben so einem Typen hab ich das Haus abgekauft." "Bist du verrückt?", mischte  Thomas sich entsetzt ein. "Die von O.R.I.O.N. sind nicht blöd, so etwas wird auffallen! Und sobald sie wissen, dass du es warst, haben sie dich, und mit dir alle anderen!" Jonas grinste. "Nein", antwortete er ihm dann. "Ich hab all seine Erinnerungen an das Haus gelöscht. Er weiß nicht einmal, dass er das Haus jemals besessen hat. Und da es, bevor er es renoviert hatte, ein ziemlicher Schandfleck war, den er von seiner Tante geerbt hatte, und für den er sich ziemlich geschämt hatte, musste ich mir auch keine zusätzliche Arbeit machen, indem ich von denen das Gedächtnis lösche, mit denen er darüber geredet hatte. Weil niemand außer ihm von der Immobilie wusste. Es war also das perfekte Verbrechen." "Trotzdem war es nicht richtig.", entgegnete Phil stur. Thomas unterdrückte ein Grinsen wegen der festen und edlen Moralvorstellungen, bei denen jeder Ehrenmann, jeder Klischeeprinz und jeder Ritter aus den Büchern, die Kinder lehrten, was Moral war, vor Neid bald seinen Gehrock verlieren würde. Jonas seufzte theatralisch und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Natürlich", sagte er. "Aber ich kann nicht immer die ethischen Vorstellungen eines Superhelden befolgen." "Häh? Superheld?",  wandte Charlie verwirrt ein. Jonas wurde blass. "Oh verdammt, tut mir leid.", sagte er verlegen an Phil gewandt. "Ich kann manchmal nicht unterscheiden, was ich von anderen weiß, und was andere wissen. Ich wollte jetzt nichts ausplaudern." Phil winkte ab. "Nein, ist schon egal.", sagte er. "Das Thema ist ja sowieso irgendwie gegessen." "Welches Thema?", hakte Charlie irritiert nach. Phil wechselte einen kurzen Blick mit Jonas und anschließend mit Thomas, bevor er schließlich seufzte. "Gut", sagte er, bevor er sich an Charlie wandte. "Also ich hab so ein Hobby.... und das hat ziemlich viel mit dem Bekämpfen von Bösem zu tun." "Was soll das heißen?", erwiderte Charlie verständnislos. "Etwa, dass du ein Held bist?" Phil zuckte mit den Schultern. "Ich selbst würde mich nicht so nennen, aber die Leute in den Nachrichten sprachen oft davon. Aber die übertreiben." Charlie sah starrte Phil perplex an und sah dann zu Jonas, dann wieder kurz zu Phil, bevor er sich hilfesuchend an Jonas wandte. "Er ist aber nicht der, oder?", fragte er. "Ähm... doch. Das ist Neuromind. Exakt der aus den Nachrichten." Charlie seufzte. "Okay, dann wird das jetzt peinlich." "Wieso?", fragte Phil verwirrt. "Na ganz einfach", antwortete Felix lachend in einem neckenden Singsang. "Weil Charlie ein Fan ist." "Ein Fan?", gab Phil verdutzt zurück. Charlie antwortete nicht, denn er hielt peinlich berührt die Hand vor sein Gesicht. Das wenige, das man von diesem noch sehen konnte, schien fast roter als seine Haare unter seinen Händen hervor. "Na klar", antwortete Daria, die sich vor Lachen auch kaum noch halten konnte. "Er hat sogar die Neuromind-Actionfigur." "Es gibt eine Action-Figur von mir?", entgegnete Phil, er wurde mit jeder Sekunde verwirrter. "Warte, das wusstest du nicht?", wandte Thomas ein. "Nein?", gab Phil zurück. "Ich wüsste auch nicht, dass ich jemals die Rechte an meinem Namen verkauft hätte." "Das interessiert niemanden. Der Name Neuromind gehört quasi der Allgemeinheit.", erklärte Felix. "Es wundert mich, dass du noch keinen Film bekommen hast." "Also mich wundert es, dass ich noch keine Action-Figur bekommen habe.", wandte Thomas gespielt empört ein. "Wieso? Bist du auch ein Held?", fragte Charlie, der jetzt weniger peinlich berührt als wieder total verwirrt war. Phil lachte. "Knapp daneben. Er ist eher das Gegenteil: Mein Gegenspieler." Jetzt sah Charlie geschockt und ehrfürchtig zu Thomas, der genervt die Augen verdrehte. "Jap, ich bin das Phantom.", sagte er. "Ich finde den Namen ziemlich bescheuert.", brachte Adaine ein. "Ich meine, Phantom of Death? Ernsthaft?" Thomas seufzte genervt. "Das waren die Nachrichten. Ich hatte mir selbst keinen Namen gegeben. Keine Ahnung, wer sich den ausgedacht hat." Adaine zuckte mit den Schultern. "Kann man wohl nichts machen.", sagte sie kurz.  "Warte mal. Ihr seid doch Feinde. Wieso seid ihr dann so... befreundet?", bohrte Charlie nach. "Lange Geschichte.", antwortete Thomas. "Aber die kurze Version ist: Wir sind Mitbewohner und Freunde und haben uns mehrere Jahre angelogen, was die Dinge angingen, die unsere Freizeit betrafen, um den jeweils anderen zu schützen, während wir die Alter-Egos des jeweils anderen bekämpft haben." "Wow", gab Charlie perplex von sich. "Erkennt man das nicht? Ich meine, ihr habt euch doch gesehen, während ihr gegeneinander gekämpft habt.", sagte Felix skeptisch. "Ich hab mich gut genug maskiert.", erwiderte Phil. "Ich weiß, dass Selbstjustiz strafbar ist, und dementsprechend habe ich vorgesorgt. Thomas hat sich mit der Hilfe seiner Kräfte unkenntlich gemacht. Er konnte mithilfe  von Illusionen sein Aussehen so verändern, dass man ihn bei bestem Willen nicht erkennen konnte. Außerdem haben wir beide meistens Stimmverzerrer getragen." Thomas nickte zustimmend. "Wow", sagte Charlie verwirrend. Anscheinend hatte sein gesamtes inneres Wörterbuch sich auf ein Wort reduziert. "Jap", sagte Thomas. "Ihr solltet vielleicht mal eine Paartherapie machen oder so.", sagte Adaine stirnrunzelnd. "So eine Art von Freundschaft klingt leicht... ungesund." "Ist es.", entgegnete Thomas, bevor er herzhaft gähnte. "Ihr seid müde." Jonas hatte entweder wieder ihre Gedanken gelesen, oder es war offensichtlich. Schließlich zeigte die marineblaue Uhr an der Wand schon 3:26 Uhr an. In ein paar Stunden würde schon wieder die Sonne aufgehen. "Vielleicht sollten wir morgen früh weiter reden.", sagte er dann, bevor er sich an Felix und Charlie wandte. "Ihr müsst dringend ins Bett." Charlie nickte, doch Felix sah ihn leicht sauer an. "Du bist nur ein paar Jahre älter als ich.", antwortete er schnippisch. "Und nicht mein Dad." "Ich weiß", erwiderte Jonas unbeirrt. "Aber jeder normaler Mensch sollte um halb vier Uhr morgens schon längst im Bett sein. Ihr also auch. Zeigt ihr Phil und Thomas auf dem Weg ihre Zimmer?"  "Klar", erwiderte Charlie sofort. Selbst Felix nickte und stand auf, bevor er prüfend zu Phil und Thomas sah. "Also", fragte er. "Nehmt ihr zwei Einzelzimmer? Oder das Doppelzimmer mit dem King-Size-Bett?"

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