Kapitel 17

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Als Thomas am nächsten Tag aufwachte, schien die Sonne bereits nervig hell in sein Zimmer. Wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass er und Phil sowieso nicht so lange bei den anderen bleiben würde und er immerhin nur die eine Woche, die er seinem Freund versprochen hatte durchstehen musste, hätte er die anderen nach Jalousien oder zumindest Vorhängen gefragt. Schließlich lag sein Zimmer in Richtung Osten, sodass es nicht einmal spät am Morgen, sondern gerade erst halb neun war. Thomas hatte nichts dagegen, gegen Mittag von der Helligkeit des Tages geweckt zu werden, aber der große, nervige Feuerball am Himmel sollte ihm nicht schon früh morgens auf den Geist gehen. Er seufzte leise, stand dann auf und streckte sich ausgiebig, bevor er sich einfach wieder rückwärts in sein Bett fallen ließ. Halb neun war viel zu früh, um sich schon mit den anderen abzugeben, und außerdem brauchte er nach dem von gestern Nacht noch ein wenig Zeit, um nachzudenken.
Bisher war Phil ihm als derjenige von ihnen beiden vorgekommen, der mit der Situation, in der sie beide sich befanden am wenigsten Probleme hatte. Er war davon ausgegangen, dass Phil höchstens sauer war, weil Thomas als Phantom gewalttätig gewesen war; aber weil sie die letzten Wochen mehr darauf konzentriert gewesen waren, nicht zu sterben oder auf dem Experimentiertisch eines O.R.I.O.N Mitarbeiters zu landen als darauf, das, was zwischen ihnen geschehen war, aufzuarbeiten, war es Thomas nie in den Sinn gekommen, das Phil vielleicht noch größere Probleme haben könnte mit dem,was zwischen ihnen stand, als er selbst.
Schließlich war Phil exakt derselbe wie Neuromind. Sie beide waren durch und durch gut, hilfsbereit und tapfer. Thomas selbst wusste nicht, inwiefern er das von sich sagen konnte. Das Phantom hatte ihm die Möglichkeit gegeben, Rache zu nehmen. Er bereute weder seine Taten noch hatte er ein schlechtes Gewissen wegen ihnen. Sein Ziel war es nicht, die Menschheit zu retten, oder irgendwie ehrenhaft zu handeln, er wollte nur die, die seine Schwester getötet haben, zerstören. Und jetzt, wo er das Phil zuliebe -zumindest für eine Zeit- aufgeben musste, wusste er nicht, wer er wirklich war. War er exakt wie das Phantom, so wie Phil wie Neuromind war? War Thomas der Medizinstudent und Mitbewohner von Phil nur eine Rolle? Konnte er überhaupt aufhören, Rache nehmen zu wollen? Schließlich schien es ihm wie der einzige Sinn seines Lebens, wie sollte es jetzt sein, wenn es nicht mehr so war? Und vor allem: Konnte er noch länger mit Phil befreundet bleiben, wenn er keine Ahnung hatte, wer er selbst war?
Thomas konnte es unmöglich sagen. Und eben das war es, was ihn verunsicherte. Wie sollte er sich zum Beispiel verteidigen oder stark sein können, wenn er keine Ahnung hatte, wie weit er im Extremfall gehen würde? Außerdem war das Phantom der Feind von Neuromind gewesen. Machte das Phil automatisch auch zu seinem Feind? Er hoffte es nicht, weil er Phil von ganzem Herzen als seinen Freund brauchte. Er brauchte ihn als den einzigen, dem er wirklich vertrauen konnte. Und das tat er immernoch, trotz dem, was passiert war. Thomas seufzte leise, als sein Kopf begann, sich in den Gedanken zu drehen bis ihm schwindelig wurde. Er schob all die Fragen und Zweifel in seinem Kopf gewaltsam beiseite und zwang sich, endlich aufzustehen.
Als er nach unten kam, saß Phil bereits bei den anderen. Natürlich tat er das, dachte Thomas sich, wobei er sich gleichzeitig dafür schalt, dass er so zynisch war. Schließlich war Phil der perfekte Frühaufsteher, der Traum eines Schwiegersohns und ein sozialer Schmetterling. Thomas spürte bei eben diesem Gedanken einen leichten Anflug von Neid. Selbst Kat, diese selbstgerechte, doppelmoralische Superzicke, bei der Thomas nicht müde wurde, sich passende Beleidigungen auszudenken, schien Phil's Anwesenheit wenigstens zu tolerieren, ohne ihn mit bissigen Kommentaren zu nerven. Sie alle saßen da, aßen Cornflakes oder Brot oder begnügten sich wie in Cole's Fall mit ein paar Weintrauben und einem Nutellaglas mit einem Esslöffel drin, und redeten über belanglose Dinge, als wären sie schon seit Jahren eine feste Clique aus Freunden. Als Thomas das Wohnzimmer betrat, gab Jonas gerade eine Geschichte zum besten, wie er bei seiner letzten Arbeitsschicht mit einem weiblichen Gast geflirtet hatte, indem er ihr ihren Cappuccino gebracht hatte, noch bevor sie ihn überhaupt bestellt hatte. 'Ziemlich gefährlich', dachte Thomas sich im Stillen. 'Schließlich hätte das Mädchen genauso gut eine Spionin von O.R.I.O.N gewesen sein können.' Jonas drehte sich zu ihm und grinste ihn an. Natürlich hatte er wieder Thomas' Gedanken gelesen. Was auch sonst? "Naja", begann Jonas seine Erklärung. "In ihrem Kopf stand nichts geschrieben von O.R.I.O.N. Nur etwas von 'Mein Freund hat mich verlassen und geht jetzt mit meiner besten Freundin.' Ich hatte Mitleid mit ihr. Und außerdem ist sowas gut fürs Trinkgeld." Thomas rollte genervt mit den Augen. "Ja, klar. 'N Morgen, übrigens. Gibt's Frühstück?" "Ich hab Brot, Aufschnitt, Müsli und so in der Küche stehen lassen, du kannst dir einfach was machen.", antwortete Charlie anstatt von Jonas, wobei er Thomas mit einem Anflug von Schüchternheit anlächelte. "Okay", sagte Thomas, bevor er in die Küche ging, und die dort sorgfältig aufgestellten Lebensmittel betrachtete. Anscheinend waren Jonas und seine Freunde wahre Vertreter der Theorie, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages sei, denn während Phil und Thomas immer wenn überhaupt die Pizza vom Vorabend oder eine Scheibe Brot zum Frühstück gegessen haben, konnte das hier fast einem Frühstücksbuffet eines fünf Sterne Restaurants das Wasser reichen. Nachdem Thomas drei verschiedene Müslisorten, verschiedenste Arten von Brot, sowie Käse und Aufschnitt für eine halbe Armee gezählt hatte, nahm er sich ein Chroissant und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er sich auf einen freien Platz zwischen den anderen setzte. "Wir haben gerade überlegt, wie es jetzt weiter gehen soll", brachte Phil ihn auf den Laufenden. "Okay, ich höre?", erwiderte Thomas. "Wir wollen O.R.I.O.N erst einmal beobachten", antwortete Jonas, bevor er sich empört an Kat wandte. "Ja, ich weiß, dass du sie am Liebsten gleich angreifen würdest. Aber erstens wären wir dann alle so gut wie tot, und zweitens musst du mich nicht deswegen gleich so nennen!" Kat hob unbeeindruckt eine Augenbraue. "Niemand zwingt dich, meine Gedanken zu lesen. Außerdem bringt es uns gar nichts, wenn wir O.R.I.O.N beobachten und dabei darauf warten, dass sie uns irgendwann einen nach den anderen abschlachten!" Kat wurde ziemlich laut, während sie sprach, dennoch schrie sie nicht. Trotzdem warf Charlie ihr einen unsicheren Blick zu, den sie aber gekonnt ignorierte. Felix verdrehte die Augen. "Klar", erwiderte Jonas ruhig. "Also willst du zum Beispiel auch Charlie kämpfen lassen? Wie soll er unsere Feinde denn umbringen? Mit seiner Niedlichkeit?" "Hey", warf Charlie empört ein. "Ihr kennt meine Kräfte. Ihr wisst, dass ich schon dazu fähig bin Leute umzubringen!" Sein Blick jedoch sprach eher davon, dass er schon fähig war, sich bei jeglicher Gefahr zitternd in eine Ecke zu verkriechen. "Das glaube ich gerne", sagte Jonas. "Nur hat O.R.I.O.N Mittel und Wege, unsere Kräfte quasi unschädlich zu machen. Ihr würdet mit Pistolen oder so kämpfen müssen, falls ihr eine Chance haben wolltet. Und ich glaube, nur wenige von euch hatten davon schonmal eine in der Hand." "Ach, aber du oder was?", fuhr Kat ihn an, wobei ihre Stimme vor Sarkasmus triefte. "Klar. 'Der gefährliche Jonas, bei Nacht Kellner, bei Tag Soldat im Krieg gegen irgendwelche Wahnsinnige, die uns wegen irgendeines Irrglaubens töten wollen'." Jonas warf ihr einen strengen Blick zu, ging jedoch nicht auf ihre Stichelei ein. "Ich will niemanden von euch sterben sehen", sagte er eindringlich. "Wir beobachten zuerst einmal nur, das ist mein letztes Wort."
Darauf wagte niemand zu widersprechen. Selbst Kat hielt zu den Mund, was Thomas als angenehme Abwechslung empfand. Stattdessen funkelte sie Jonas wütend an und versuchte, ihn mit seinen Blicken und winzigen, imaginären Messern zu töten. Das das nicht klappte, konnte man daran erkennen, dass Jonas sich trotzdem - und auch noch nach mehreren Minuten dieser Prozedur - bester Gesundheit erfreuen durfte. Widerwillig musste Thomas sich selbst eingestehen, dass er Kats Anliegen verstand. Schließlich war er derjenige gewesen, der O.R.I.O.N mehrere Male aggressiv angegriffen hatte. Es war schwer, bei einer solchen Gefahr einfach nichts zu tun und abzuwarten, oder zu "beobachten", wie Jonas es nannte. "Wie wollt ihr das anstellen? Also O.R.I.O.N beobachten?", wandte Phil ein, bevor Thomas selbst diese Frage stellen konnte. Er hatte das Gespräch belauscht, während er sich still im Hintergrund gehalten hatte und war froh, dass diese Gruppe wenigstens einen hatte, der besonnen und überlegt handelte, denn für Phil war die Idee eines vorschnellen Angriffs nicht nur völlig hirnrissig, sondern auch noch viel zu gewagt. Er hatte Thomas nicht dazu überredet, hier zu bleiben, nur damit sie nach wenigen Tagen getötet werden würden. "Hier komme ich ins Spiel", rief Felix theatralisch aus, während er stolz grinste. Dann wurde er wieder ernst, doch das freudige Glitzern in seinen Augen blieb. "Ich sehe mich in ihren Systemen um. Dort finden wir alles an Daten, Infos und Plänen, was wir brauchen." "...und du kannst uns sagen, was wir damit anfangen sollen.", fügte Charlie an Thomas gewandt hinzu. "Ich... kanns versuchen", erwiderte Thomas skeptisch. "Aber ihr wisst schon, dass ich kein O.R.I.O.N - Guru bin, oder? Ich weiß nicht alles über sie, nur weil ich ein paar Jahre lang auf ihren Experimentiertischen lag und danach eine kleine Rechnung mit ihnen offen hatte." "Trotzdem weißt du mehr als wir", erwiderte Jonas schlicht, wobei Phil jedoch bemerkte, dass Jonas, obwohl er bisher schon fast seltsam viel Blickkontakt mit anderen gehalten hatte, es nun vermied, Thomas direkt anzusehen. Dieser schien es nicht zu bemerken und seufzte. "Okay", sagte er dann. Phil war überrascht, das sein Freund nicht mehr zu kritisieren oder einzuwenden hatte. Aber vielleicht freundete er sich ja auch langsam mit der Idee an, bei den anderen zu bleiben. Felix klatschte in die Hände. "Gut", sagte er. "Ich könnte sofort anfangen. Tue es aber nur unter einer Bedingung."
"Nein, Felix", wandte Jonas mit einem genervten Seufzer ein. "Doch", widersprach Felix vehement. "Doch, man." Dann sah er die anderen nacheinander an, als wäre er ein Schauspieler, der gleich seinen Monolog vortragen und das Interesse der Zuschauer auf sich ziehen wollte, bevor er andächtig und mit gesenkter Stimme weiter sprach. "Wir, meine lieben Freunde, brauchen einen Teamnamen."
"Bitte nicht...", stöhnte Jonas genervt. "Also ich finde es cool", wandte Charlie grinsend ein. Selbst Kat lächelte bei dem Gedanken wieder ein wenig. "In den Filmen machen sie immer so eine coole Abkürzung mit den ersten Buchstaben der Namen.", begann Felix seine Überlegungen. "Das wäre bei uns dann... A.A.C.C.D.F.J.K.P.T" Dabei zeigte er nacheinander jeden, dessen ersten Buchstaben des Namens er gerade verwendet hatte. Die anderen konnten sich ein Lachen kaum verkneifen. "A.A.C.C.D.F.J.K.P.T?", wandte Adaine ein. "Wow. Dann sind wir zumindest schonmal in der Disziplin 'bescheuertster Name' besser als O.R.I.O.N." Felix zuckte nur mit den Schultern und grinste."Wie wäre es mit 'Jonas' Armee'?", wandte Charlie freudig ein. "Ihr seid alles, aber nicht meine Armee", erwiderte Jonas verstört. "Und außerdem hast du das von Harry Potter geklaut", fügte Kat trocken hinzu. "Das wissen die von O.R.I.O.N doch nicht. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass sie Dinge machen, die spaßig sind", verteidigte Charlie sich trotzig. "Wie wäre es mit 'Die-unglaublich-hübschen-und-interessanten-jungen-Leute-die-auf-keinen-Fall-von-Bastarden-wie-von-denen-von-O.R.I.O.N-getötet-werden-wollen'?", schlug Kat vor. "Das ist gut, aber etwas zu lang", widersprach Jonas. "Naja, wir können es ja abkürzen mit D.U.H.U.I.J.L.D.A.K.F.V.B.W.V.D.V.O.R.I.O.N.G.W.W", erwiderte Kat grinsend, während sie Felix einen neckenden Blick zuwarf. Dieser verdrehte zwar die Augen, konnte aber nicht verhindern, dass auch er grinsen musste. Phil beeindruckte nur, dass Kat es geschafft hatte, die Buchstaben so schnell aufzuzählen, ohne dabei durcheinander zu kommen.
Aber den anderen waren langsam die Ideen ausgegangen, sodass für eine kurze Zeit Schweigen entstand, indem alle fieberhaft überlegten. "'David's Defenders'", murmelte Anne schließlich leise. "Was?", fragte Felix. "'David's Defenders'", wiederholte Anne etwas lauter. "Wie kommst du denn darauf?", fragte Kat verwirrt. "Naja, wir müssen uns ja irgendwie gegen O.R.I.O.N verteidigen", erwiderte Anne schüchtern. "Und wer ist David?", fragte Phil. "Niemand", sagte Anne. "Aber unser Kampf erinnert doch ziemlich an David gegen Goliath. Ihr wisst schon, das aus der Bibel. Einfach weil O.R.I.O.N so mächtig ist und wir im Vergleich dazu relativ schwach erscheinen." "Der Name hat was", sagte Jonas anerkennend nach einer kurzen Stille. "Klingt gut", sagte auch Daria. "Wenn man es abkürzt, ist es eine Körbchengröße", fügte Cole grinsend hinzu, wofür er sich von Jonas einen strafenden Blick einfing, den er jedoch schulterzuckend abtat. "Dann ist es entschieden", verkündete Felix feierlich. "Von nun an sind wir 'David's Defenders'."

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