Kapitel 11

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Es dauerte ziemlich lange, bis Thomas endlich aufwachte. So lange, dass Phil sich Sorgen machte. Mal abgesehen davon, dass er in der Küche, in die die anderen ihn und Thomas gesperrt hatten, sowieso nicht viel anderes machen konnten. Er seufzte leise. Wenigstens hatten die Leute, die Thomas und ihn entführt hatten, ihn nicht an einen Stuhl gefesselt oder so. Er konnte sie außerhalb der Küche reden hören, doch selbst als er das Ohr an die Tür legte um zu lauschen, konnte er nichts von dem verstehen, was sie sagten. Phil lief nervös in dem Raum hin und her, während er die Schränke nach irgendetwas durchsuchte, was ihm etwas nützen könnte, falls er sich gegen ihre Entführer würde verteidigen müssen. Blöderweise wusste er nicht einmal mit wem er es zu tun hatte. Dieser Charlie hatte offenbar Selbstheilungskräfte, das dunkelhaarige Mädchen konnte Leute über Berührungen ausschalten, so wie sie es mit Thomas gemacht hatte, und er hatte keine Ahnung, was der Rest der Truppe konnte. Vielleicht war ja alles an potentieller Waffe nichts gegen das, was die konnten. Sie waren alleine so schon in der Überzahl, große Chancen hatte er also nicht, jedenfalls nicht ohne seine Kräfte. Er sah zu der Manschette an seinem Handgelenk, sie funkelte leicht unter dem Neonlicht der Küche, und sah fast aus wie ein billiges Modeschmuck-Armband, das man mit einem einfachen Ruck abreißen konnte. Das dem nicht so war, merkte er erst, als er versuchte, es abzureißen. Das dünne Band ließ sich nicht durchreißen, und schnitt sich nur in seine Haut als er daran zog, sodass er diese Methode schnell aufgab. Auch mit dem Messer, das er in einer der Schubladen gefunden hatte, konnte er dem silbernen Band nichts antun. Genervt und frustriert pfefferte er das Messer auf die kleine hölzerne Arbeitsplatte, bevor er sich kurz durch die Haare fuhr und anschließend damit fortfuhr, die Küche zu durchsuchen. "Was machst du da?", fragte Thomas, als er endlich aufgewacht war. Phil drehte sich um und betrachtete ihn. Er hatte sich etwas aufgerichtet und saß nun an die Wand gelehnt auf dem Küchenfußboden und massierte sich seine Schläfe, während er leise vor sich hin grummelte. "Ich durchsuche bloß die Schränke nach... keine Ahnung. Waffen.", entgegnete Phil. Thomas lächelte leicht sarkastisch. "Wenn hier Waffen wären, die denen was ausmachen, würden wir wohl eher von ihnen fort gehalten werden. Und das besorgt mich schon etwas, schließlich haben sie die Küchenmesser einfach hier gelassen.", damit sah er auf das Messer, was Phil hatte auf der Arbeitsplatte liegen lassen. Dieser reagierte genervt, weil Thomas ihn mit seiner blöden Logik schon wieder blöd dastehen ließ. Außerdem hatte er allen Grund, sauer auf Thomas zu sein. Schließlich hatte er ihm schon wieder etwas verheimlicht. "Schon klar.", sagte er knapp, doch er konnte es sich nicht verkneifen, hinterher zu fragen, wie es Thomas ging. Blöde Besorgnis. "Wie geht's deinem Kopf?" "Beschissen", murmelte Thomas. Phil seufzte. "Und das ist jeden Mal so? Jeden Mal, wenn du deine Kräfte benutzt?" Dabei erinnerte er sich an die Worte, die das blauhaarige Mädchen über Thomas gesagt hatte. Schließlich hatte er auch keine andere zuverlässige Quelle. Thomas erzählte ihm sowas ja nicht, obwohl er sein bester Freund war. Langsam fragte Phil sich, was Thomas ihm noch verschwiegen haben mochte. Irgendwann würde noch rauskommen, dass er der Sohn von irgendeinem Alienpräsidenten war, oder dass er in Wirklichkeit für die Regierung von Kanada arbeitete. "Ja, kann man so sagen. Manchmal schlimmer, manchmal weniger schlimm.", antwortete Thomas. "Und du hast es nicht für nötig gehalten, mir das irgendwann mal zu sagen?", fragte Phil aufgebracht. Thomas sah kurz zu ihm, bevor er den Blick wieder von ihm abwendete. "Ich rede da nicht gerne drüber." "Klar, gute Idee.", erwiderte Phil sarkastisch. "Stattdessen erfahre ich das von irgendeinem blauhaarigen Mädchen, das mitten in der Nacht mit ihrer komischen Clique mein Haus stürmt und uns entführen will." "Das konnte ich ja wohl kaum vorhersehen!", konterte Thomas. "Ach nein? Naja, du hättest dir aber denken können, dass es irgendwie irgendwann ans Licht kommen wird! Und dabei hätte dir vielleicht in den Sinn kommen können, dass ich sowas vielleicht lieber von dir wissen will als durch einen blöden Zufall oder von Einbrechern! Verdammt, Thomas, du bist mein Freund. Und das gehört genau zu der Art von Geheimnissen, die Freunde sich erzählen!" Eigentlich hatte Phil erwartet, dass Thomas irgendwas entgegen halten würde, um im Recht zu bleiben, stattdessen aber sah dieser ihn nachdenklich an, bis er schließlich nickte und den Blickkontakt brach. "Du hast recht.", sagte er dann leise. "Es ist bloß... ich war mächtig, weißt du? Ich konnte so gut wie alles was ich nur wollte. Und dann kam die Zeit bei O.R.I.O.N. Mit ihren Experimenten und Tests." Während er sprach verzog sich sein Gesicht vor Schmerz an die Erinnerung. "Und irgendwann... keine Ahnung, entschieden sie, dass es gut wäre, meine Kräfte wegzumachen. Das war irgendwann nach meinem dritten oder vierten Fluchtversuch. Sie haben mich in so einen Raum gesteckt, mit einem anderen Typ, der dann diese Mauer in meinen Kopf gesetzt hat. Zuerst waren meine Kräfte ganz weg. Ich konnte nichts gegen O.R.I.O.N tun, egal was sie mir angetan haben. Wann immer ich es versucht habe, tat es weh. Ziemlich." Mit diesen Worten legte er scheinbar unbewusst die rechte Hand an seine Schläfe und seufzte leise, bevor er Phil fest ansah und weitersprach. "Aber ich hab es weiter versucht. Wieder und wieder, bis es irgendwann geklappt hat. Zumindest ein wenig. Nach all meinen Versuchen ist das Licht das einzige, was mir geblieben ist." Dabei lächelte er trocken. Phil nickte. "Und davon kommen die Kopfschmerzen?", hakte er nach. "Ja", sagte Thomas, bevor er die Beine vor die Brust zog, die Arme auf die Knie legte und den Kopf auf ihnen abstützte. Phil kniete sich vor ihn auf den Boden und betrachtete ihn. Wie so oft die letzten Tage kam sein Freund ihm seltsam fremd vor. Es war, als wäre der alte Thomas, Phil's ehrgeiziger, humorvoller, bester Freund, der immer für ihn da gewesen war, wenn er ihn gebraucht hatte, durch eine neue, dunkle, gebrochene und verzerrte Version getauscht worden. Und Phil wusste keinen Weg, wie er ihm helfen sollte, geschweige denn davon, dass er nicht wusste, wie er mit der ganzen momentanen Situation umgehen sollte. Jedes Mal wenn er dachte, er wüsste jetzt alles über ihn, kamen neue, noch dunklere Geheimnisse ans Tageslicht, die Phil's Sicht von Thomas wieder in ein völlig neues Licht rückten. Konnte man jemandem wie Thomas unter solchen Umständen überhaupt vertrauen? Phil wusste es nicht, aber wenn er sich Thomas so ansah, verflog seine Wut und seine Enttäuschung, dass er ihm so viel verschwiegen hatte. Stattdessen setzte sich an diese Stelle das Verlangen, dass er ihm irgendwie helfen wollte, und die wilde Entschlossenheit, dass er ihm irgendwie helfen würde. Phil seufzte leise. "Thomas...", sagte er dann. Dieser hob den Kopf und sah ihn aus müden Augen an, doch bevor er fragen konnte, was los sei, griff Phil nach seinem Arm und zog ihn zu sich in eine Umarmung. Thomas, der das von allem als letztes erwartet hatte, zuckte vor Schreck etwas zusammen, entspannte sich dann aber und lehnte den Kopf an Phil's Schulter. "Wir schaffen das schon. Irgendwie...", sagte Phil leise, obwohl es ihm wie eine leere Phrase vorkam. "Wir kriegen diese Blockade daraus, besiegen O.R.I.O.N, werden mit diesen Typen fertig..." Damit deutete er in Richtung der Küchentür, hinter der immernoch Stimmen zu hören waren. Thomas löste sich etwas von ihm, bevor er ihn zweifelnd ansah, anschließend aber lächelte. "Okay", antwortete er. "Aber verschweige mir nicht noch mehr Dinge.", bat Phil. "Von jetzt an, sind wir ehrlich zueinander, versprochen?" "Versprochen.", erwiderte Thomas. "Gut." Phil grinste, bevor er aufstand und wieder die Küchenschränke durchsuchte. "Irgendwo hab ich sie doch gesehen...", murmelte er dabei. "Was?", fragte Thomas irritiert. Phil sah bloß zu ihm und grinste, und machte ihm damit verständlich, dass er seine Antwort erst bekommen würde, wenn er gefunden hatte, wonach er suchte. Danach wandte er sich wieder den Schränken zu und durchwühlte sie, bis er schließlich triumphierend eine Tafel Schokolade hoch hielt. "Da ist sie ja." Dann drehte er sich zu Thomas um und warf sie ihm zu. Dieser fing sie reflexartig auf, bevor er seinen Freund irritiert ansah. "Du klaust Schokolade aus der Küche, in der wir gefangen gehalten werden?" Phil zuckte nur mit den Schultern. "Für deine Kopfschmerzen." Thomas grinste, bevor er die Packung öffnete und sich ein Stück heraus brach. "So viel kriminelle Energie hatte ich dir gar nicht zugetraut." "Naja, technisch gesehen, bestehle ich die, die uns entführt haben. Die sind kriminell, und ich mache etwas kriminelles gegen sie. Und minus mal minus ergibt plus, also bin ich streng genommen nicht kriminell. Ich würde mich sogar als recht rechtschaffen bezeichnen." Thomas seufzte und tat so, als wäre er genervt, obwohl sein leichtes Lächeln ihn verriet. "Das war der schlechteste Wortwitz, den ich jemals gehört habe. Außerdem ergibt deine Theorie keinen Sinn." Phil lachte leicht und wollte gerade etwas gespielt Empörtes erwidern, als die Tür sich plötzlich öffnete und jemand eintrat. Thomas schnellte hoch stellte sich schützend vor Phil, und sah seinen Gegenüber mit dem Blick aus Wut und Entschlossenheit an, den er sich extra für den Moment aufgehoben hatte, an dem er seinen Entführern begegnen würde. Die Gestalt, die vor ihm stand, und die Thomas wegen ihrer relativ kleinen, hageren Gestalt fast für einen Jungen gehalten hätte, wenn ihr Gesicht nicht im Schein der Küchenlampe älter ausgesehen hätte, lächelte und sah ihn fasziniert an, was Thomas wiederum verwirrte, weil er darin nicht die Spur Bosheit fand, die er bei Entführern erwartet hätte. "Hi", sagte der Fremde dann knapp. Ein kurzer Moment entstand, in dem die drei Personen in dem Raum sich betrachteten, und jeweils auf den ersten warteten, der etwas sagen würde. Thomas ließ den Fremden nicht aus den Augen, er schätzte ihn auf sein Alter, höchstens ein oder zwei Jahre älter als ihn, kastanienbraune Locken fielen ihm in hellblaue, intelligente Augen, mit denen er Thomas förmlich zu durchbohren schien. "Okay" Thomas brach das Schweigen als Erster. "Hi. Oder so, was auch immer. Ich denke, so schnell werde ich die Antwort nicht bekommen, wenn ich nicht frage, also tue ich es jetzt: Wieso-", begann er, doch sein Gegenüber unterbrach ihn. "'...um alles in der Welt meint ihr, uns mitten in der Nacht zu entführen?'" Thomas sah ihn geschockt an. "Ähm...Hast du gerade-", mischte Phil sich ein, doch der Fremde unterbrach ihn wieder. "'...ernsthaft seinen Satz beendet?' Ja, habe ich.", er grinste, bevor er sich wieder Thomas zuwandte. "Nein, das war kein Glück. Ich habe exakt jedes Wort gesagt, was du sagen wolltest. Und sowas ist kein Glück oder?", er sah Thomas an, als würde er ihm zuhören, während er redete, bloß mit dem Unterschied, dass dieser kein Wort gesagt hatte. "Ach, das ist ganz einfach", sagte er dann, während er mit der rechten Hand eine Bewegung machte, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. "Ich lese deine Gedanken, und spreche das aus, was du sagen wolltest. Ach ja, und ich bin Jonas. Schön, euch kennen zu lernen." 

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