19. Domen - Innsbruck - Day Off

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„Wir danken Ihnen also, Mr. Jensen und natürlich Ihrem Team von Ford, dass Sie uns den heutigen Nachmittag ermöglichen und freuen uns, auf ein unterhaltsames, aber auch lehrreiches Fahrtsicherheitstraining", schüttelte Goran dem kleinen untersetzten Mann mit der dicken altmodischen Hornbrille, die seine Augen wie Käfer wirken ließen, die Hand. Mr. Jensen der sich im mittleren Alter befand, lächelte ihnen schüchtern entgegen. „Und bevor ich Ihnen jetzt das Feld überlasse noch einige kurze Anmerkungen zum heutigen Tagesplan."

Domen, der angestrengt lauschte und versuchte, sich auf Gorans Worte zu konzentrieren, rieb sich über die müden Augen. Es fiel ihm schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Denn seit gestern hatte er das Gefühl, das Leben zog an ihm vorbei und er fühlte sich wie ein Zuschauer, der aus der Ferne alles beobachtete. Fühlte sich unangenehm fest in Watte gepackt. Nur ab und an, drang ein Fetzen zu ihm vor. Begleitet vom Rauschen in seinen Ohren, wenn sein Puls anstieg. Das Gefühl von einer unsichtbaren Macht mitgerissen zu werden gegen die er nichts unternehmen konnte.

Sie waren vor knapp einer Stunde im Hotel in Innsbruck angekommen und beinahe sofort hatte Goran sie ins Konferenzzimmer zitiert, um den heutigen Tagesplan zu besprechen. Den Tagesplan für ihren freien Tag, wohlbemerkt. Irgendwie hatte Domen sich unter „frei" ein bisschen was Anderes als Goran vorgestellt.

„Nachbesprechungen heute für alle mit mir gleich im Anschluss, einzeln natürlich, sprecht euch ab, wer zuerst will. Domen, Andrej erwartet dich gleich im Anschluss in Raum 002. Einfach den Gang runter über die Brücke, durch das kleine Foyer und dann scharf nach links. Für dich wird es dann morgen die Nachbesprechung geben", fuhr Goran fort und zum ersten Mal an diesem Tag wurde Domen hellhörig.

„Wieso denn erst morgen?", verlangte er misstrauisch zu wissen. War ja nicht so, dass er das Springen gewonnen hatte, dachte Domen fast automatisch und bereute es beinahe sofort wieder. Daniel tauchte vor ihm auf. Lächelnd. Auf dem Weg zum Podium. Sein Puls stieg an. Mühsam riss er sich von dem Bild los. Zwang sich, sich wieder ganz auf Goran zu konzentrieren.

„Du bist gut gesprungen, Junge. Da waren nur ein paar Kleinigkeiten. Es reicht völlig aus, wenn wir uns morgen vor der Quali damit befassen", erwiderte Goran sachlich und beobachtete besorgt, wie Domens Gesicht sich verfinsterte.

„Und woher soll ich dann wissen, auf was ich beim Training heute achten soll?", verlangte er von seinem Trainer zu wissen, in einem Tonfall, der deutlich zeigte, dass er glaubte, Goran habe nicht mehr alle Sprungschuhe im Schrank. Immerhin hatte er vor, seinen Tag im Kraftraum auch sinnvoll zu nutzen.

„Ahja, deine Frage bringt mich gleich zum nächsten Punkt: Keiner von euch wird heute auch nur eine Zehe über die Schwelle des Kraftraumes setzen-"

„WAS?!", entwich es Domen entsetzt und zog damit alle Blicke auf sich.

Goran ignorierte den Einwurf und fuhr fort: „-und Nejc nicht mal wegen Imitationsübungen anhauchen. Regeneration ist das Zauberwort des heutigen Tages. Entspannen. Wir haben erst Halbzeit. Ich will, dass ihr heute mal ein bisschen runterkommt und euch den Großteil des Tages anderen Dingen als dem Springen widmet. Morgen legen wir dann mit neuer Energie wieder los. Sieht da jemand ein Problem?"

Ja, allerdings! Er sah eins. Was sollte das? Hatte Goran etwa zu lang an den Räucherstäbchen von Andrej geschnüffelt?! Völlig erstarrt vom Trainingsverbot saß Domen auf seinem Platz. Das würde er nicht aushalten, wenn er nicht trainieren durfte. Panik machte sich breit, die Domen versuchte, irgendwie wieder in den Griff zu bekommen, während er sich zwang ruhig auf seinem Platz zu sitzen und den Kopf zu schüttelten.

Zufrieden nickte Goran. Er wusste, dass es genau das Richtige für sein Team, vor allem aber für Domen war. Der jüngste Prevc Spross war zwar nicht unbedingt bekannt für seine ausgeglichene Persönlichkeit, aber so angespannt wie in den letzten Tagen hatte er ihn noch nie gesehen. Langsam fragte er sich, ob die Tournee mit ihrem ganzen Rattenschwanz an Erwartungen, Enttäuschungen, Presse und dergleichen nicht vielleicht doch etwas viel für einen Siebzehnjährigen waren. Allein deswegen war es ihm wichtig, dass Domen seine Arbeit mit Andrej fortsetzte. Er wollte nicht riskieren, einen zweiten Rok Benkovič zu erschaffen.

Tief durchatmend starrte Domen auf den Tisch vor sich und ließ sich tiefer in seinen Stuhl gleiten. Er brauchte etwas zu tun. Etwas, das über Augen zu machen und sich in Blei zu verwandeln hinausging, so viel war klar. Die Stunde bei Andrej würde sowieso schon nervenaufreibend genug werden, wieso musste Goran ihm seinen einzigen Lichtblick am heutigen Tag nehmen, dachte Domen verzweifelt, als sich eine Hand unerwartet in sein Blickfeld schob. Desorientiert starrte er in Cenes Gesicht, der ihn stirnrunzelnd anstarrte. „Sag mal, ist alles klar bei dir?"

„Bestens. Was soll sein?", murrte Domen gereizt, während in seinem Hinterkopf automatisch der Film startete, den er seit gestern Abend praktisch in Endlosschleife sah, der nur schwer zu stoppen war. Daniel direkt vor ihm. Seine blaugrünen Augen, die ihn hoffnungsvoll angesehen hatten, bevor er seine Lippen auf die seinen gelegt hatte und einmal durch Domens geordnete Welt gewirbelt war. Domen wurde heiß und kalt, wenn er daran dachte und verdrängte entschieden die Bilder des letzten Abends. Nervös sah er Cene an, hoffte dass er nichts bemerkt hatte. Es beunruhigte ihn zutiefst, dieses Gefühl, dass die Erinnerung in ihm auslöste. Er konnte darüber nicht nachdenken. Er musste es einfach ignorieren.
Irgendwann würde es sich von allein wieder legen. Hatte Cene ihn gerade etwas gefragt?

„Was ist jetzt?" - „Was soll sein?", fragte Domen und würde seinem Verlangen gern nachgeben, sein Hirn mit der Tischplatte zu bearbeiten, nur damit es ruhe gab. Normal. Er wollte sich normal benehmen und sich nicht auch noch für die nächste Fahrt in die Klapsmühle vordrängeln.

„Du benimmst dich so komisch", beäugte Cene seinen jüngeren Bruder misstrauisch.

„Das sagt ihr doch ständig. Domen, jetzt benimm dich nicht so kindisch. Kannst du dich nicht einmal zurückhalten, Domen? Mit dir kann man sich nirgends blicken lassen. Musstest du das jetzt unbedingt sagen?", äffte er seine Brüder nach. Er konnte jetzt niemanden gebrauchen, der sich neugierig nach seinem Befinden erkundigte. Nicht, wenn er sich selbst gerade so erfolgreich dagegen wehrte.

„Noch komischer, meine ich. Immerhin hast du heute das Frühstück ausgelassen, das verpasst du doch nie", wunderte Cene sich leise.

„Und dann war er heute schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Ganz ohne mein Zutun", mischte sich Anže ein, der ihr Gespräch belauscht hatte.

„Was?!?", überrascht sah Cene zwischen den beiden hin und her, als Goran sie kurz warnend ansah, bevor er sich wieder Jensen zuwandte, der ihnen die spezielle Technik der Autos, mit denen sie am Nachmittag unterwegs sein würden, vorführte.

„Und wo ich so drüber nachdenke... du warst heute sogar der erste am Auto", bemerkte Cene.

„Ja, hat meine Taschen verstaut ohne zu murren...", trötete Anže ins selbe Horn und beide starrten sich an, als hätten sie soeben das Bernsteinzimmer gefunden. Domen dagegen sah demonstrativ zu Jensen, der nervös an seiner Krawatte zupfte, während er auf irgendwelche technischen Zeichnungen an der Wand zeigte, als Cene eine Hand auf seine Stirn legte. Wütend schlug er sie weg.

„Krank ist er nicht. Also, Bruderherz: Wieso so vorbildlich?", stieß Cene ihm seinen Ellenbogen in die Seite.
„Vielleicht will er nächstes Jahr mehr Weihnachtsgeschenke. Dem Weihnachtsmann wird sein ungezogenes Verhalten kaum entgangen sein", kicherte Anže leise.

Vielleicht war er aber auch nur ein kleiner Feigling, schallte es plötzlich durch Domens Hirn und die Worte prallten von seiner Schädelwand wie der Ball eines Flipperspiels. Veranstalteten einen riesigen Lärm. Wurden zu undeutlichem Getöse.

Unmerklich schüttelte er seinen Kopf, um den Ansturm auf sein Hirn zu stoppen und drehte sich zu Cene und Anže, die immer noch über seine seltsame Verwandlung diskutierten. „...-klich, da geht es um Frauen?!", zweifelnd runzelte Anže die Stirn und betrachtete Domen kritisch, wie ein Wissenschaftler seine Versuchsratte unter dem Mikroskop.

„Oder aber, ich dachte, es sei förderlicher Goran nicht weiter zu reizen", mischte sich Domen wieder in die Unterhaltung ein, die eine unangenehme Wendung genommen hatte. Cene sollte seine dämlichen Theorien bloß für sich behalten. Er hatte ja gesehen, wo das hinführen konnte, dachte er unbehaglich.

WALDMÄDCHEN, schoss es ihm durch den Kopf ohne dass er es verhindern konnte. Sein Herz setzte für einen Moment aus, holte in der nächsten Minute den verpassten Schlag wieder ein. Sein Puls fuhr Achterbahn.

„Sicher, das erklärt auch die unbändige Freude über die Erlaubnis zum Chillen", bemerkte Anže sarkastisch. Stumm nickte Cene neben ihm und ließ Domen nicht aus den Augen. Er hatte eine Ahnung, was sein Bruder mit sich herumschleppte, immerhin hatte er den sehnsüchtig-nachdenklichen Blick, der dem Ehepaar Freund gegolten hatte, noch nicht vergessen.

„Man kann eben nicht alles auf einmal haben", murmelte Domen, zuckte gleichgültig mit den Schultern. Möglichst lässig lehnte er sich zurück und wandte sich von seinen beiden Teamkollegen ab. Jensen war immer noch dabei, durch seine mit liebevoller Langeweile ausgestatteten Folien zu klicken und so sehr er auch versuchte, sich auf den Vortrag zu konzentrieren, Jensen konnte das dumpfe Dröhnen in seinem Kopf nicht vertreiben.

Unsicherheit. Banges Warten. Grün. Blätter im schwachen Licht. Papier in seiner Hand. Zweifel. Unbarmherzig zog es ihn in einen Strudel, voller Bruchstücke aus Bildern und Gefühlen, die seinem übermüdeten Geist entwischten und sich in den Vordergrund drängten.

Verzweifelt nach Halt suchend, ließ er seinen Blick durch den Raum gleiten, spielte mit dem Stift in seiner schwitzenden Hand, atmete tief durch. Versuchte irgendetwas zu finden, dass es aufhören ließ. Damit er sich einreden konnte, es wäre alles wie immer.

Er betrachtete Jurij und Jernej, deren Augen beim Anblick der Ausführungen und Bilder der Präsentation glänzend leuchteten. Für die beiden Motorsportfans hätte man keine bessere Freizeitbeschäftigung finden können.

Anže und Cene hatten sich wieder ihrem Vier-gewinnt Spiel zugewandt. Rechts gegenüber von ihm saß Peter. Er malte ganz in seinen Gedanken versunken mit seinem Fingernagel irgendwelche Linien auf den Tisch. Wirkte zerknirscht. Seine Lippen hatte er fest aufeinandergepresst, die Augenbrauen zusammengezogen. Seine Nase unzufrieden gerümpft. Domen fragte sich, was ihn so beschäftigen könnte, dass er den Ausführungen nicht folgte. Normalerweise sog Peter doch jedes Wort auf, dass auch in noch so uninteressanten Kontexten fiel. Domen dachte darüber nach, wie Peter es über sich brachte, selbst den größten Zeitverschwendungen, Interesse entgegen zu heucheln.

Da sah Peter zu ihm auf. Was, formte er lautlos mit seinen Lippen und starrte ihn an. Domen schüttelte mit dem Kopf. Nichts. Es war nichts. Alles in bester Ordnung. Wie sollte es auch sonst sein?

Seufzend starrte Domen auf seine Uhr. Noch knapp zwanzig Minuten, dann sollte er bei Andrej antreten.
„...damit wären wir dann so weit durch und wir können auch gleich mit der ersten Analyse anfangen. Sucht euch aus, wer beginnt", verkündete Goran und beendete damit ihr Meeting. Erleichtert seufzten Cene und Anže neben ihm auf, die jeden Millimeter ihres einzigen Blattes inzwischen aufgebraucht hatten.
Während sich Jurij gleich freiwillig als erster meldete, ging der Rest schwatzend zur Tür. Nur Domen ließ sich Zeit, spürte, wie alles in ihm sich verspannte, während er durch den Türrahmen auf den Gang starrte.
Langsam setzte er sich in Bewegung. Gern hätte er in diesem Zimmer gewartet bis er zu Andrej musste, doch Nejc, ihr Co-Trainer sah ihn warnend an. Dabei hatte er noch nicht einmal daran gedacht, über das Kraftraumverbot zu diskutieren. Sie konnten sich schließlich schlecht den ganzen Tag vor der Tür postieren und da der Bereich für Hotelgäste frei zugänglich war...

Domen trat durch die Tür. Tat langsam einen Schritt nach dem anderem. Beichtete. Sein schwerer Atem musste für jeden deutlich hörbar sein. Verlor den Faden. Zwei Männer neben ihm. Im Anzug. Diskutierend. Schrie frustriert seine Unzufredenheit heraus. Auf der Linken Seite. Den Flur runter, am Ende des Ganges eine Frau. Telefonierend umherlaufend. Trieb Daniel in die Enge. Ohne Rücksicht. Rechts schwarze Joggingjacken. Die Nordamerikaner. Lachend. Forderte Vertrauen ein. Weiter hinten rot-graue Jacken. Ein Pärchen. Händchenhaltend. Seine Hand an Daniels Wange. Weiche Haut unter seinen Fingern.

„Scheiße! Musst du mich so erschrecken?!"

Besorgt blieb Peter stehen, der seinem Bruder eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, weil dieser offenbar so in Gedanken versunken war, dass er ihn nicht gehört hatte. „Ist alles klar bei dir? Hast du mich nicht gehört?"

„Ich ähm... war abgelenkt", gab Domen zu, bevor er weiterlief. Er konnte nicht hier im Gang herumstehen, wo sich alle aufhielten.

„Jetzt warte doch mal!", rief Peter ihm hinterher und beeilte sich, seinen Bruder wieder einzuholen. „Dein Gespräch mit Daniel ist wohl nicht so gut gelaufen, was?"

Weil du es bist. Wut. Verständnislosigkeit. Du bist es Butterprinzessin. Überraschung.

„Ähm...es... ist kompliziert", antwortete Domen und bemühte sich nach allen Kräften, seine wild herumwirbelnden Gedanken- und Gefühlsfetzen von sich zu schieben. Sich auf Peter zu konzentrieren, der direkt neben ihm stand. Seinen Mund bewegte. Etwas sagte. „Entschuldige, was?"

Beunruhigt packte Peter seinen Bruder am Arm, zog ihn das kleine Foyer, in dem sich eine Bar mit mehreren Sitzecken befand. Führte ihn in eine abgeschottete Ecke. „Was ist da los bei dir und Daniel? Du bist so unkonzentriert. Fahrig", starrte er seinen Bruder an. „Steckst du in Schwierigkeiten? Oder Daniel?"

„Was? Nein. Nichts. Ich...hab einfach nur schlecht geschlafen. Anžes hat sich benommen wie ein Sägewerk zur Hochsaison", antwortete Domen ausweichend und starrte die Wand an.

„Aber wenn du in irgendwas verwickelt bist-" –

„In was soll ich denn verwickelt sein?!" –

„Oder irgendetwas anderes vor sich geht-" –

„Hast du zu viele Horrorfilme gesehen?", unterbrach Domen seinen Bruder nervös. Er hatte Angst, dass er etwas ahnte. Dass er hinter Daniels Geheimnis gekommen war. Er hatte es keinem erzählt, aber wenn sie irgendwer gesehen hatte? Panisch sah er sich um. Niemand schien sich für sie zu interessieren.

„Du weißt genauso gut wie ich, dass es hier um viel mehr geht. Krankhafter Ehrgeiz, der Wunsch sich zu beweisen und Verzweiflung haben schon ne Menge Menschen dazu getrieben, Dummheiten zu machen", antwortete Peter finster und ein Schatten schlich sich auf sein Gesicht.

„Was willst du andeuten?", flüsterte Domen angriffslustig.

„Ich will gar nichts andeuten Ich wollte nur sagen, dass wenn irgendetwas ist, ich da bin", ruderte Peter zurück. Ihm war einfach nicht wohl bei dem Gedanken, dass es etwas gab, dass Domen so voll und ganz vereinnahmte. Ihn nervös machte. Das ließ bei ihm alle Alarmglocken schrillen. Und er hatte Sorge, dass das für alle beteiligten in einer Katastrophe enden könnte. Er wollte die zahlreich vorhandenen Möglichkeiten nicht einmal denken, aber von Doping bis Magersucht spukten gerade sehr viele Szenarien in seinem Hirn herum. Und Domen redete ja nicht.

„Schon klar, wenn ich jemanden zum Taschentücher reichen brauche, bist du der erste, der es erfährt, Pero", murmelte Domen immer noch sauer auf seinen Bruder. Er war sich sicher, dass er wusste, was gerade in dessen Hirn vor sich ging und er konnte es einfach nicht fassen, dass er diese Möglichkeiten in Bezug auf Daniel auch nur in Betracht zog. Deswegen beschloss er, den Fokus ihres Gesprächs ein wenig zu verschieben: „Was ist mit dir?"

„Was soll mit mir sein?" –

„Über was hast du da vorhin so angestrengt nachgedacht?", wollte Domen wissen und bemerkte zum ersten Mal an diesem Tag die dunklen Ringe unter den Augen seines Bruders.

„Nur...Ach, nicht so wichtig. Du, ich muss los. Hab Mina versprochen, sie noch vor dem Mittag anzurufen", ließ Peter ihn stehen.

Ungläubig sah Domen ihm nach. Dabei blieb sein Blick an einem Spiegel hängen, der ihm direkt gegenüber hing. Erstarrt landete sein Blick in Daniels Augen, die ihn unsicher musterten. Domen schluckte. Sein Mund brannte. Waldmädchen. Butterprinzessin. Ein Geheimnis. Ein Kuss. Schock. Starre. Ruhe. Sturm. Laut. Leise. Lauf. Bleib. Gebrochene Versprechen. Bedauern. Lauf! Tu es nicht. Bitte! Lauf! Lauf! LAUF!

„Nicht müde! Mama böse", rannte ein kleiner Junge in den Raum. Holte Domen aus seinem Strudel wieder zurück in die Realität. Sperrte das Chaos wieder in die hinterste Ecke seines Gehirns. Automatisch richtete er sich ein Stück auf, straffte die Schultern, wandte seinen Blick ab. Ignorierte die aufsteigende Übelkeit in seinem Magen. Er wusste, was er hier tat. Sah es an Daniels Reaktion, der leicht zusammenzuckte und sich ebenfalls abwandte. Aber Domen konnte einfach nicht anders. Er überließ sich ganz seinem fast übermächtigen Fluchtinstinkt. Nur der Gedanke, keine Aufmerksamkeit erregen zu wollen, hinderte ihn daran, nicht die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen.

Tosen begleitete ihn den ganzen Weg zu Andrej. Sein Puls hämmerte nervös in den Ohren, bildete ein Duett mit seinem Atem, während seine schweißnassen Hände zitternd dirigierten. Ohne anzuklopfen betrat er den Raum 002, schlug die Tür hinter sich zu.

Fahrig fuhr er sich durch die Haare. „Scheiße!", schrie er in die Stille und schlug mit seiner Faust gegen die Wand. Wieso hatte er das getan? Er wusste es nicht. Tief durchatmend versuchte er, seinen Körper dazu zubringen runterzufahren. Aber er schaffte es einfach nicht. Nicht so. Er musste sich anders abreagieren. Irgendetwas tun, dachte er, als sich die Tür öffnete und Andrej den Raum betrat. Überrascht starrte er Domen an.

„Du bist heute aber pünktlich", begrüßte er Domen, nachdem er kurz auf seine Uhr gesehen hatte.

„Können wir dann loslegen?", überging der junge Slowene die Bemerkung, verschränkte seine Arme und starrte seinen Mentaltrainer ungeduldig an.

„So viel Motivation hat man doch gern", grinste er ihm entgegen. Andrej war sich natürlich bewusst, dass das nichts mit Motivation zu tun hatte, allerdings war er heute viel zu gut gelaunt, um sich von einem unausgeglichenen Teenager provozieren zu lassen. „Dann wollen wir mal. Bitte nach dir", rückte Andrej seinen Schal zurück und hielt Domen die Tür auf.

„Was wird das?!", fragte er entsetzt. Sie blieben nicht hier? Er musste wieder raus?

„Vorausgesetzt, dass du dich heute noch bewegst, Mentaltraining. Und nachdem wir festgestellt haben, dass geschlossene Räume dich eher unruhig werden lassen, versuchen wir heute einfach mal etwas anderes. Also: Hopp Hopp", klatschte Andrej ungeduldig in die Hände.

Mit einem flauen Gefühl im Magen setzte Domen sich in Bewegung. „Was genau beinhaltet denn deine neue Methode?" Er musste sich ablenken. Musste zuallererst schnellstens hier raus, wenn sie schon nicht in dem Zimmer bleiben konnten. Weg von den unzähligen Möglichkeiten Daniel zu begegnen.

„Ach, das wird dir gefallen. Und heute ist genau das richtige Wetter dafür", traten sie gemeinsam aus der Eingangstür des Hotels heraus. Domen war sich dabei gar nicht sicher, ob ihm das wirklich gefallen würde. Erleichtert atmete Domen auf, als sie das Hotel hinter sich ließen. Hatte das Gefühl, einen Teil seiner Last verloren zu haben. Trotzdem hielt er seinen Blick gesenkt, während Andrej sich wegen des Wetters überschlug und jedes Detail der Landschaft kommentieren musste. Erst als die Betonstraße sich in einen ungepflasterten Feldweg verwandelte, sah Domen auf.

Diesmal kam das Rauschen nicht aus seinem Inneren. Tosend fuhr der Wind durch die Zweige, die sich unter seiner Kraft bogen. Selbst die Stämme hatten dem nichts entgegenzusetzen und beugten sich ächzend und knarrend, während es unter den Baumkronen ruhig blieb. Nichts deutete auf die Kräfte hin, die hoch über den Baumwipfeln an den Zweigen zerrte. Beinahe hysterisch lachte Domen auf. Wohin hätten sie auch sonst gehen sollen?

„Ich dachte mir, wir nutzen deine Affinität zum Wald und zapfen so die Energien direkt an", erklärte Andrej stolz und verließ den Feldweg. „Das sollte uns bei den folgenden Sitzungen helfen."

Waldmädchen.

Auf Autopilot geschlaten, folgte er Andrej, der sie immer tiefer hineinführte, während der junge Slowene versuchte zu verdrängen, dass sie im Wald waren, was angesichts der Zweige und Sträucher gr nicht so einfach war. Er richtete seinen Fokus fest auf den Boden. Ein Bein nach dem anderen. Nur darauf konzentrierte er sich, dann würde er die nächste Stunde schon irgendwie überleben, dachte er verbittert und schluckte die Wut, die sich langsam in ihm aufbaute hinunter.

„Das ist doch perfekt, oder was sagst du?", zufrieden stoppte Andrej nach einer Weile auf einer kleinen Lichtung.

„Wenn du meinst", zuckte Domen lustlos mit den Schultern, bemühte sich darum, möglichst unbeteiligt zu wirken. Nicht auszuflippen und seinem Unterbewusstsein, dass verflucht hinterhältig war und jede Schwäche ausnutzte, nicht das Ruder zu überlassen.

„Konzentrieren wir uns auf die Energie des Waldes. Die Ruhe und den Frieden", begann Andrej mit einer komischen Singsang Stimme, die Domen laut aufschnaufen ließ. Fehlte nur noch der Vollmond und die Anleitung für den nächsten Regentanz, dachte er, während Andrej die Hände ausgestreckt hielt, irgendetwas erfühlte, wie er es nannte, und sich schließlich auf einem Baumstamm setzte. „Wir suchen uns einen Platz in der Mitte des Gleichgewichts. Lassen uns fallen in dieses harmonische Paradies, machen es uns bequem-"

„-auf dem kalten harten Boden", murmelte Domen und ließ sich widerwillig auf den Boden plumpsen.

„Wir lassen unsere Anspannung los. Unsere Sorgen und werden ruhig. Die Atmung passt sich dem gleichmäßigem Hin- und Herschwanken der Bäume an", fuhr Andrej fort und hielt seinen Blick in die Ferne gerichtet, während Domen sich fragte, ob Goran vielleicht heimlich einen Exorzismus bei ihm durchführen lassen wollte. Unruhig zappelte er mit seinem Bein und zerbrach ein paar kleinere Zweige, die in seiner Reichweite lagen, mit den Fingern, um so der Stille zu entkommen. „Und auch das Herz beginnt im Gleichklang mit der Natur zu schlagen."

„Während die Haut anfängt zu kompostieren und aus den Ohren Blätter sprießen", brummte Domen, dessen Nerven kurz davor waren, aufzugeben.

„Hör mal, ich weiß, dass du nur hier bist, weil Goran es so will, aber vielleicht schiebst du mal all deine Vorurteile beiseite, springst über deinen Schatten und versuchst es mal ernsthaft, Domen", bemerkte Andrej und zeigte durch seinen Tonfall deutlich, für wie erwachsen er ihn hielt.

„Ich hab keine Vorurteile", giftete er zurück und verschränkte seine Arme. „Das hier ist nur nichts für mich. Ich brauch das nicht zum Springen, im Gegensatz zum Krafttraining."

„Woher willst du das wissen? Du hast es doch nicht einmal versucht!", widersprach ihm Andrej, während er seinen Haarzopf löste, um ihn anschließend wieder festzusammenzubinden.

„Bin ich unsichtbar, oder was? Was glaubst du, wieso ich hier sitze? Ich habe versucht, Kontakt mit dem Wald aufzunehmen, leider keiner unter diesem Anschluss erreichbar. Was soll ich da bitte machen?", fragte Domen verzweifelt. Er wollte hier weg. Er konnte das nicht. Er hatte sich geirrt. Nicht zum ersten Mal. Nur dieses Mal, wusste er es besser. Er hätte gar nicht erst herkommen dürfen.

„Zunächst mal ein bisschen Geduld aufbringen und nicht gleich aufgeben. Du redest ja auch nicht gleich mit jedem-" –

„Pff!" –

„-und dann einfach mal loslassen. Du bist so verkrampft, das habe ich dir das letzte Mal schon gesagt. Lass den Dingen doch einfach mal ihren Lauf. Geh in dich. Lass es fließen und chill mal ein bisschen", riet Andrej dem Jungen, während er seine Arme im Takt mit seiner Atmung hob und senkte. Domens Unruhe ließ ihn kalt. Da musste er jetzt durch. Irgendwann musste er sich mit sich selbst auseinandersetzen. Er konnte nicht ewig so weitermachen.

„Fließen lassen?! Du weißt schon, dass wir nichts rauchen dürfen?!", platzte es ungläubig aus Domen heraus.

„Fließen lassen", nickte Andrej bestätigend. „Sieh mal: du warst derjenige, der gesagt hat, dass er zum Entspannen in den Wald geht. Versuch dir dieses Gefühl in Erinnerung zu rufen. Sieh dir deine Umgebung an, sie kann dir dabei helfen, deine Mitte zu finden", erklärte Andrej ihm.

Aber das war doch davor gewesen! Jetzt war danach.

„Okay, versuchen wir es anders: Was siehst du?"

Daniel. „Bäume."

„Ich bin zutiefst beeindruckt. Was noch?"

Daniel, der ihn besorgt musterte. Daniel, der rannte. Daniel, der ihn mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten konfrontierte. Daniel, der glücklich mit Tannenzapfen um sich warf. Daniel, der unsicher vor ihm stand. Daniel, der ihn enttäuscht ansah. „Ne Menge grün", antwortete Domen flüsternd.

„Weiter?"

Tief atmete Domen durch. Andrej hatte die Augen geschlossen, saß wie ein kleiner Buddha vor ihm. „Was siehst du noch, Domen?"

Daniel, der stark war. Daniel, der überall war. Daniel, der half. Daniel, der mit allem klarkam. Daniel, der die Probleme aller abfing. „Baumrinde, die allem trotzt. Überall." – „Okay, weiter."

Daniel, der ihn resigniert anstarrte. Daniel, der unglücklich war. Daniel, der ein Geheimnis mit sich herumschleppte. Daniel mit einer Maske.
„Angeknackste morsche Äste."

Der Wind frischte auf, eine Böe drang bis zu ihnen auf den Boden vor, irgendwo schrie ein Vogel und Domen wurde von der seltsamen Stimmung mitgezogen. Hinein in einen Strudel seiner Erinnerungen, die sich hochschaukelten. Rede mit mir, Daniel. Du solltest dich glücklich schätzen, Menschen um dich zu haben, die sich Sorgen. „Eine Futterkrippe. Leer gefressen."

In denen er sich verlor. Seinen Puls in die Höhe trieben. Waldmädchen. Sie waren sich fast immer im Wald begegnet. Wieso hatte er nichts gemerkt? Was hatte er getan? Wie sollte das jemals wieder werden? Was kann so gigantischen Ausmaßes sein, dass es auf keinen Fall aus dem Wald kommen soll? Zur Not werde ich dich eben zu deinem Glück zwingen, Lahmarsch und eines Tages wirst du mich küssen wollen, so dankbar wirst du mir sein. „Ein Vogelnest. Auf dem Boden. Verweht vom Wind."

Daniel hatte seine Welt aus den Angeln gehoben. Ähnlich wie dieser Sturm heute, der über Nacht noch an Geschwindigkeit aufnehmen sollte. Faszinierend und beängstigend zugleich mit verheerender Wirkung zog er alles in seinen Bann. Setz einmal im Leben alles auf eine Karte. Ich biete mich hier als Versuchsobjekt an. Ich werde auch nicht davonrennen. So schrecklich kann das gar nicht sein. „Ein Fuchsbau. Düster. Geheimnisvoll."

Aber es ging nicht. Überall sah er den Norweger, der ihn mit seinen traurigen Augen anstarrte. Ihn stumm um Verzeihung bat. Angst vor seiner Reaktion hatte. Domen, lass mich erklären! Ich- es tut mir leid, wirklich!, hatte Daniel gefleht. Du kannst nicht einfach so resigniert dastehen und nichts tun! Du solltest aufhören, alles in dich reinzufressen, denn falls du es nicht merkst, es macht dich total kaputt, hatte er ihm wütend vorgehalten. Es tut mir leid, ich wollte nicht einfach so über dich herfallen. „Vogelfedern. Eine Menge davon auf dem Boden. Dämlicher Vogel."

Wut stieg in ihm auf. Auf alles und nichts. Er sah sich in seiner Umgebung um, die so allgegenwärtig von Daniels Präsenz schien. Dabei so ruhig und still vor ihm lag. Harmonisch. Durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Und er? Er saß hier neben diesem Irren, der sich als nächster Dalai-Lama aufführte. „Ende. Sind wir dann fertig?", funkelte er Andrej an, der aus seinen Gedanken hochschreckte und seelenruhig auf seine Uhr sah. Es war inzwischen fast eine Stunde vergangen.

Er wollte nicht hier sitzen, mit diesen ganzen Gefühlen von denen er nicht wusste, woher sie kamen, und über sein Leben nachgrübeln. Jetzt war er voll mit allem. All diesen Eindrücken und Gefühlen. Was sollte das?! Er wollte Springen! Er wollte in die Luft, sich vom Wind tragen lassen und sich auf nichts weiter, als seinen Körper konzentrieren müssen.

„Ist doch gar nicht so schlecht, wenn man sich mal drauf einlässt, oder?", grinste Andrej ihn allen Ernstes von seinem scheiß Baumstamm Elfengleich entgegen.

Wütend sah er Andrej an. Nicht schlecht?! Er würde es keine Sekunde länger hier aushalten. Unter den wachsamen Blicken von Andrej klopfte er sich den Dreck von den Hosen und sprang auf: „Und was hat es mir jetzt gebracht?!"

„Klarheit über das, was dich beschäftigt? Die Möglichkeit, dich mit etwas auseinanderzusetzen", antwortete Andrej ruhig. Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass Domen mit bebenden Schultern vor ihm stand. Er hatte Domen in den letzten Tagen beobachtet, sich überlegt, wie er einen Zugang zu ihm bekam. Er hatte die Veränderung in den letzten Tagen bemerkt, auch wenn er keine Ahnung hatte, was dessen Ursache war. Aber das musste er auch nicht. Seine Aufgabe war es, Domen Strategien zur Verfügung zu stellen, um Probleme fixieren und lösen zu können. Dazu gehörte eben auch, nicht alles durch Sport zu kompensieren und das hatte er heute definitiv geschafft, auch wenn Domen das Ergebnis nicht passte.

„Mein Fokus lag auch vorher schon klar auf dem Sport, Andrej. Dazu brauch ich diesen Hokuspokus nicht", verschränkte Domen die Arme. Wieso hatte es nicht so bleiben können?!

„Es geht auch nicht um den Sport, Domen, sondern um dich", wandte Andrej ein und brachte damit endgültig das Fass zum überlaufen.

Hier geht es gerade aber nicht um mich! Sondern um dich!

Doch, Domen. Hier geht es um dich. Nur um dich.


Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und seine Beine trugen ihn zuverlässig und ganz automatisch zurück ins Hotel. Er fuhr auf direktem Weg in den Keller. Wenn er noch länger in diesem rastlosen Zustand verbringen würde, würde er durchdrehen.

Zielstrebig betrat Domen den Raum, der Dunkel vor ihm lag. Erleichtert niemanden angetroffen zu haben, betätigte er den Lichtschalter und lief zielstrebig auf das Laufband zu. Und dann begann er zu rennen. Er rannte so schnell er konnte. Hatte er in den letzten Tagen zu irgendeiner Zeit überhaupt etwas anderes getan? Sein Leben war zu einem endlosen Wettlauf mutiert. Das alles war nur Daniels Schuld!

Wütend steigerte er sein Tempo. Wieso hatte Daniel etwas gesagt? Seinetwegen hatte er in den letzten Tagen keine Ruhe gehabt! Seinetwegen eckte er überall an! Seinetwegen musste er sich verstecken! Seinetwegen ließen ihn die Geister aus dem Wald nicht los! Waren überall. Quälten ihn mit Bildern, um die er nicht gebeten hatte. Seinetwegen fühlte er sich wie eine billige Kopie seiner selbst. Seinetwegen musste er laufen!

Schwer atmend stieg Domen vom Laufband und steuerte die Tür an, die ihn zu den Hanteln und Gewichten bringen würde. Gefangen in seinem Tunnel stieß er die Tür auf und blieb überrascht stehen, als er realisierte, dass er nicht ganz so allein war, wie er gedacht hatte.

„Was machst du denn hier?", schallte es gleich zweimal durch den Raum. Einmal vorwurfsvoll. Einmal wütend.

Stumm starrten sie sich in die Augen, bevor der älteste der beiden Brüder seine Langhantel auf den Boden fallen ließ. Das dumpfe Geräusch des Aufpralls schallte durch den Raum.

„Weiß Goran, was du hier treibst?", fragte Domen angriffslustig.

„Dasselbe könnte ich dich fragen", antwortete Peter finster und wandte sich ab.

„Was denn? Keinen Anpfiff? Kein Vortrag? Jetzt enttäuschst du mich aber", stichelte Domen. Der Zug mit Endstation Katastrophe ohne Zwischenhalt nahm Geschwindigkeit auf und Domen ließ sich von diesem Gefühl treiben. Völlig von seiner ziellosen Wut vereinnahmen, die ein Ventil brauchte.

Peter sah seinen Bruder an. „Was ist los mit dir?"

„Mit mir? Du fragst mich, was los ist? Du bist so ein Heuchler", stieß Domen verächtlich aus. Dabei wurmte es ihn noch mehr, dass Peter dastand und sich nicht provozieren ließ. Sich nicht wehrte. Wo war sein Kampfeswille? Du kannst nicht einfach so resigniert dastehen und nichts tun! „Macht es Spaß, mir Vorträge zu halten? Den Musterspringer zu spielen und alle hinters Licht zu führen? Ja?"

„Wieso bist du so wütend?" -

„Bist du taub?!" Setz einmal im Leben alles auf eine Karte. Ich biete mich hier als Versuchsobjekt an. Ich werde auch nicht davonrennen. So schrecklich kann das gar nicht sein. - Es tut mir leid, ich wollte nicht einfach so über dich herfallen!

„Nein, aber ich nehm dir nicht ab, dass du deswegen", zeigte er auf sich und die Sportgeräte, „gerade völlig ausflippst."

„Wieso sollte ich deswegen nicht wütend sein?! Du predigst doch scheinheilig absoluten Gehorsam, nur um dich bei der nächstbesten- Au! Was soll das?!", empört starrte er seinen Bruder an, der ihm soeben eine Packung Taschentücher ins Gesicht geworfen hatte.

„Daniel." -

„Jetzt lenk nicht von deiner Unfähigkeit ab", verschränkte Domen die Arme. Setz einmal im Leben alles auf eine Karte. Ich biete mich hier als Versuchsobjekt an. Ich werde auch nicht davonrennen. So schrecklich kann das gar nicht sein.
-
Es tut mir leid, ich wollte nicht einfach so über dich herfallen!


„Das sagt ja genau der Richtige. Du bist sauer auf Daniel, nicht auf-"

„Ich bin nicht wütend auf ihn!", schrie er Peter an, der nichts verstand. „Es kotzt mich an, dass du- Hör auf damit!", aufgebracht wehrte er ein weiteres Geschoss ab, indem er es auffing und wütend zu Peter zurückschoss, der nicht weniger Reaktionsschnell war.

„Nein! Ich lass mich von dir nicht zum Sündenbock für deine Probleme machen, Domen. Irgendwas treibt dich um, aber das bin nicht ich! Ich kann nichts dafür, dass Daniel jetzt sauer auf dich ist und-"

„Daniel ist aber nicht sauer auf mich! Und genau das ist das Problem", schrie Domen unbeherrscht hinaus, während Peter überrascht erstarrte. „Er sollte es nämlich sein. Er hat allen Grund dazu. Jede nur mögliche Ausrede. Und was macht er!? Fängt an, sich bei mir zu entschuldigen! Bei mir! Dabei hab ich scheiße gebaut! Ich hab gesagt, es wäre okay. Ich hab ihn angelogen. Direkt ins Gesicht."

Und das obwohl er geahnt hatte, was mit Daniel los war. Wie sonst waren Jay und der Weihnachtsmensch zu erklären, die ständig vor seinem geistigen Auge aufgetaucht waren. Tief in seinem Unterbewusstsein hatte er es gewusst. Wie auch nicht?! Waldmädchen... er war ständig im Wald gewesen. Immer. Und immer war Daniel an seiner Seite gewesen. Aber er hatte seine Scheuklappen ja nicht tief genug ins Gesicht ziehen können, weil er gewusst hatte, dass er damit nicht klarkommen würde. Und dann war er ihm zufällig im Treppenhaus begegnet, hatte Daniel starr vor Schreck angesehen, der Domen mit den Augen verzweifelt angefleht hatte. Und er hatte dagestanden und einfach nichts mehr gewusst. Nur, dass er nicht konnte.

„Ich war derjenige mit dem Messer, nachdem ich ihn tausendmal versichert habe, dass es okay ist. Ich bin der Ar- WÜRDEST DU JETZT BITTE AUFHÖREN, MIT DIESEN SCHEIßDINGERN ZU WERFEN?! WAS SOLL DAS?!"

„Was das soll? Das frage ich dich! Wieso fragst du nicht nach Taschentüchern, wenn du sie brauchst, du Idiot?!", fuhr Peter seinen Bruder fassungslos an. Fassungslos, weil er heute Morgen nicht gemerkt hatte, wie schlecht es ihm ging. Fassungslos, weil Domen lieber alles zu Kleinholz verarbeitete, statt zu reden.

„Hä?" –

„Wenn ich Taschentücher brauch, bist du der erste der es erfährt, Pero", äffte er Domen nach und sah ihn anklagend an.

„Sagt ja genau der Richtige. Kurze Frage: Galt das Kraftraumverbot nicht für alle?", fragte Domen unschuldig nach und Peters Gesicht verfinsterte sich.

„Na dann halt dich mal besser dran, Bruderherz", bemerkte Peter trocken und bückte sich, um seine Joggingjacke von der Bank aufzuheben. Stumm sah Domen dabei zu, wie Peter seine Sachen packte. Die Stille hüllte ihn ein und seine ganze Wut verpuffte. Er konnte wieder klar denken. Wusste, was plötzlich, was ihn umhertrieb. Und jetzt war da nur noch Enttäuschung. Er war enttäuscht von sich selbst. Hätte nie gedacht, dass er mal zu diesen Menschen gehören würde.

„Was ist los mit dir, Pero?" Er wollte wenigstens irgendetwas richtigmachen.

„Goran findet, dass meine Sprünge wieder besser laufen. Dass wir auf dem richtigen Weg seien", begann er resigniert zu erzählen. „Aber ich weiß, dass es nicht so ist. Ich tappe nach wie vor im Dunklen. Alle wollen helfen. Denken sich immer neue Sachen aus und ich schaffe es nicht. Wieder und wieder versage ich. Garmisch war... Glück... oder was auch immer, aber keine Verbesserung, Domen. Ich weiß nicht, wie lange ich das so noch aushalte."

„Was willst du jetzt tun?" -

„Ich weiß es nicht. Ich würde gern eine Pause einlegen. Weg von dem ganzen Zirkus. Kopf abschalten, aber es fühlt sich an, als würde ich kapitulieren", gab Peter geknickt zu.

„Was sagt Goran dazu?", wollte Domen wissen und setzte sich neben seinen Bruder auf die Hantelbank.
„Ich habs ihm nicht gesagt. Ich schätze, ich ertrage einfach keine weiteren enttäuschten Blicke", gestand Peter und Domen wusste nur allzu gut, wie es seinem ältesten Bruder gerade ging.

„Ja, aber du weißt doch selbst am besten, was gut ist. Bringt doch nichts, so weiter zu machen, wenn du das Gefühl hast ne Pause zu brauchen."

„Ich weiß. Ich schätze, ich drücke mich nur davor, weil ich insgeheim immer noch hoffe, dass morgen der Tag ist, an dem ich es endlich schaffe", seufzte Peter und starrte aus dem Fenster.

...

„Hast du schon einmal jemandem was versprochen, ich meine etwas wirklich Wichtiges und es dann gebrochen? So richtig mit Messer im Rücken? Obwohl du nie gedacht hättest, dass du mal zu diesen Personen gehören würdest?", fragend sah Domen seinen Bruder an.

„Ähm...ich schätze, ich darf nicht fragen, um was es da konkret geht?" –

„Da schätzt du richtig", bestätigte Domen und ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er an den Kuss und Daniels Geständnis dachte. Beschämt schloss er die Augen, als er an seine Reaktion dachte. Er hatte sich benommen, wie Daniel es wohl schon geahnt hatte. „Ich keine Ahnung. Ähm... nehmen wir an, Daniel hat jemanden umgebracht. Aus purer Notwehr, es ging um sein Leben, ja? Und er schleppt dieses Geheimnis mit sich rum. Du merkst wie ihn etwas belastet, drängst ihn, es zu erzählen, versprichst zu helfen und dass es nichts gibt, was dich erschüttern kann. Irgendwann gibt er dann nach, erzählt dir von dem Mord und in deinem Kopf legt sich ein Schalter um. Du benimmst dich genauso, wie er es vorausgesagt hat...Echt fies." Was für eine Untertreibung.

„Ähhh... keine Ahnung. Ich meine, es sollte erlaubt sein, schockiert zu sein... das ist menschlich, oder? Wenn wir in die Enge getrieben werden, wir Angst haben oder unbekanntem gegenüberstehen, holen wir die Messer raus. Urinstinkt, sozusagen. Aber die Frage ist doch: Wie beurteilst du den ähm... Mord heute? Mit etwas Abstand?", stellte Peter die alles entscheidende Frage. Grübelnd starrte Domen auf seine Finger.

Dachte an seine Erkenntnisse aus dem Wald, die plötzlich irgendwie Sinn ergaben. „Er hatte keine andere Wahl. Es... sollte okay sein. Ich hab völlig übertrieben...ich meine, ich sollte ein Freund sein. Irgendwie damit klarkommen und nicht... Messerschwingend durch die Gegend laufen... aber scheiße... Ich weiß einfach nicht...", versuchte Domen seine Gedanken zu ordnen. Er war sich sicher, dass Daniel seine Entschuldigung annehmen würde. Obwohl er ihn so verletzt hatte. Obwohl er es nicht verdiente.
Was ihn aber wesentlich mehr Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass er nicht wusste, ob er damit klarkommen würde, dass Daniel schwul war und auf ihn... stand. Das war es, was ihn zurückhielt. Warum er es nicht über sich brachte, normal mit Daniel umzugehen, vor ihm wegrannte und damit das Messer munter weiter in den Rücken des Norwegers trieb. Er wollte ihn nicht noch einmal enttäuschen. Das ging einfach nicht.

Daniel hatte ihn also...geküsst. Es war seltsam es zu denken. Fühlte sich noch komischer an. Schickte Schauer durch seinen Körper. Und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte oder warum das so ein rotes Tuch für ihn war. Er war zwar nicht schwul, aber eigentlich sollte es doch kein Problem sein, Daniel nett auf diese Tatsache hinzuweisen und dann irgendwie weiterzumachen.

Wieso fühlte es sich also so komisch an, wenn er darüber nachdachte? Was war da los?

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Ihr Lieben, ich melde mich mal wieder persönlich. Wieso? Das liegt an der Machart des Kapitels. Ich hab mal ein bisschen experimentiert und bin mir unsicher, was das Ergebnis angeht. Es würde mich einfach freuen, wenn ihr mir diesbezüglich vielleicht ein kurzes Feedback geben könntet, was ihr dazu meint. Man kann es allein immer so schwer einschätzen.

In diesem Sinn euch noch ein frohes Wochenende/schöne Woche.

liebe grüße

zaara

Hello HurricaneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt