25. Domen - Innsbruck - Tag der Qualifikation

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Daniel Andre Tande (22) fliegt um den Gesamtsieg bei der Vierschanzen-Tournee. BILD nannte ihn nach seinem Neujahrs-Erfolg von Garmisch das „Muttersöhnchen", weil er noch bei Mama Trude in Kongsberg (80 Kilometer von Oslo) wohnt.

Vor sich hin kichernd hielt Domen sein Handy in der Hand und überflog den Artikel, den er beim Zeit totschlagen gefunden hatte. Er saß vor dem slowenischen Container im Springerlager. Den allgemeinen Trubel um ihn herum versuchte er so gut es ging auszublenden. In Kürze würde die Qualifikation beginnen. Von Daniel selbst hatte er allerdings noch nichts gesehen.

Die sympathische Norwegerin verrät: „Ich habe vor jedem Sprung Angst. Wenn er oben auf dem Turm losfährt, kann ich eigentlich nicht hinschauen. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten und mache mir fast in die Hose."
Als ihr „guter Junge" in Garmisch siegte, flossen die Tränen in Strömen. „Ich bin zur Zeit die stolzeste Mama Norwegens. Er wollte aber schon mit zwei Jahren von einer Zehn-Meter-Schanze springen und weinte, wenn ich es ihm nicht erlaubt habe."


Das waren doch mal andere Einblicke in Daniels Charakter, dachte Domen kichernd. Er hatte ja schon viel bei dem Norweger erlebt, vermutlich sehr vielmehr als die meisten anderen Springer hier, aber einen trotzigen Daniel, der wütend mit den Füßen auf den Boden stampfte, weil er es nicht schaffte, seinen Willen durchzusetzen? Kichernd versuchte er sich vorzustellen, wie Mama Trude wohl auf die Anfälle ihres Sohnes reagiert haben mochte, während er gedankenversunken auf das Bild der beiden starrte, dass über dem Artikel zu sehen war. Wahrscheinlich war sie Weihrauchwedelnd angekommen, so lang bis Daniel zu benebelt gewesen war, um zu wissen, was er überhaupt gewollt hatte. Daniel hatte viel von seiner Mutter geerbt, fand Domen. Die wunderschönen liebevollen warmen hellgrünen Augen, die einfach jeden in ihren Bann zogen und trotzdem manchmal so verloren wirkten. Das warme offene ansteckende Lächeln mit Lippen, die-

„Grinsekatze verschluckt?" -

„Musst du dich so anschleichen?!", schloss Domen ertappt die offenen Browserfenster auf seinem Handy. Böse funkelte er Anže an, der sich neugierig zu ihm heruntergebeugt hatte, um zu sehen, was dem Slowenen dieses Lächeln aufs Gesicht gezaubert hatte.

„Also? Was lächelst du so vor dich hin?", setzte er sich begierig nach dem neuesten Klatsch neben den Slowenen und versuchte einen Blick auf den Bildschirm des Handys zu erhaschen.

„Darf man nicht einmal mehr Lächeln?", gab Domen patzig zurück.

„Siehst du? Genau deswegen muss man doch fragen." –

„Häh?", verwirrt starrte Domen seinen Zimmernachbarn an, dessen Gedankengängen er mal wieder nicht folgen konnte.

„Naja, jetzt bist du wieder normal. Also Typ Brummbär-"

„Gar nicht wahr! Ich bin immer fröhlich! Ich grinse ständig!", widersprach Domen empört.

„Pfff, in deinen Träumen vielleicht, wenn du mal wieder Peter um die Ecke gebracht hast, aber sonst sehe ich dich eher selten bis nie grinsen", entgegnete Anže ernsthaft.

„Ja kein Wunder...gibt ja auch nichts zu Lachen, wenn du anwesend bist. Meistens ist es ein- Hey! Nein", lachte Domen, der sich gegen die Kopfnuss von Anže wehrte. Mit ihrem Gealber zogen sie belustigte Blicke von Halvor, Clas und einem Kameramann auf sich, die direkt gegenüberstanden und gerade ein Interview für ihren Social Media Kanal gaben.

„Dann fass dir mal lieber an die eigene Nase, Mr Grumpy. Du wirst also verstehen, wenn ich jetzt davon ausgehen muss, dass irgendjemand seiner Grinsekatze nachtrauert. Man kann nicht früh genug mit Schadensbegrenzung beginnen...", brachte der ältere Slowene ungerührt hervor. Dabei hatte der ältere Slowene diesen forschend-wissenden Ausdruck in den Augen, den Cene schon den ganzen Tag hinter ihm hergetragen hatte.

„Dann fang mal lieber bei dir an, bevor... wie, war ihr Name doch gleich? Ila?" –

„Iva." – „Bevor Iva sich nach entsprechenden Therapien umsieht und merkt, was für einen Vollidioten sie sich da geangelt hat", stachelte Domen, doch zu seiner Überraschung ließ sich Anže davon nicht aus der Ruhe bringen.

„Hab nie behauptet, dass sie das nicht weiß", erwiderte Anže mit einem in die Ferne gerichtetem Lächeln, das Domen als leicht grenzdebil einordnete.

Daniel mochte ihn, obwohl er manchmal so ein Vollidiot war, blitzte es in Domens Gedanken auf und war so schnell wieder weg, wie es aufgetaucht war. „Aha", antwortete Domen irgendwie überfordert und beobachtete die Finnen am anderen Ende des Weges, die bereits wieder dabei waren, ihre Sachen zu packen. Er hatte keine Ahnung, was er mit dieser Aussage jetzt anfangen sollte. Abermals glitt sein Blick zum norwegischen Container, der ruhig vor ihnen lag. Nur die Schatten, die durch die Fenster zu sehen waren, verrieten, dass sich jemand darin befand.

„Okay, jetzt mal Grinsekatze aus dem Sack: Was ist mit Grumpy Domen passiert?", lehnte Anže sich zu ihm herüber, was prompt dazu führte, dass Domen rot im Gesicht wurde. „Oder sollte ich besser fragen, wer dir passiert ist?"

„Kann man nicht einfach mal so gut gelaunt sein? Oder muss ich dafür erst bei dir nen Antrag stellen?", blockte Domen wütend ab. „Außerdem hab ich gerade durch die neue Bildergalerie von Oberstdorf geklickt. Die haben mal wieder im Archiv gekramt. Super Einstellungen! Scheiße, ich will endlich fliegen", erklärte Domen entschieden, konnte seinen Blick aber partout nicht bei Anže halten. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt, obwohl es dazu doch eigentlich keinen Grund gab. Niemand kannte Daniels Geheimnis.
Und Anže besaß sicherlich keine telepathischen Fähigkeiten, wo er es doch am Morgen nicht einmal fertigbrachte, zwei gleiche Socken anzuziehen.

„Wie konnte ich auch was anderes erwarten?", verdrehte Anže die Augen und stand wieder auf. Erleichtert atmete Domen aus. „Du solltest deine Prioritäten wirklich überdenken. Aber was rede ich da eigentlich? Du bist ja noch ein halbes Kind", tätschelte er dem Slowenen bedauernd die Schulter, der sich murrend seinem Griff entzog.

„Ich bin kein halbes Kind! Mein geistiges Alter beläuft sich mindestens auf 60, im Gegensatz zu gewissen anderen", funkelte er Anže erbost an.

„Für einen Grumpy ist das höchstens Vorschulalter", triezte Anže den jungen Slowenen weiter und sah belustigt dabei zu, wie sich dessen Augenbrauen unheilvoll zusammenzogen. Er wusste, dass er es viel zu sehr genoss, den jüngeren auf die Palme zu bringen. „Und lass dir eines gesagt sein: Wenn du wirklich schon so alt wärst, wie du behauptest, dann wüsstest du, dass dieser spezielle Blick anderen Dingen vorbehalten bleiben sollte", setzte Anže vielsagend hinterher.

„Besorg dir ne Brille", sprang Domen auf, schulterte seinen Rucksack und seine Skier, die hinter ihm gegen den Container gelehnt gestanden hatten. Das war ihm jetzt echt zu blöd. Er hatte sich auf einen Wettkampf vorzubereiten. Außerdem wollte er im Notfall da sein, sollte Daniel ein wenig Ablenkung gebrauchen. Übertriebene Nervosität war in ihrer Sportart der sichere Tod. Das wusste jeder. Und genau das machte es auch so schwierig.

Grummelnd und mit seiner Laune am Tiefpunkt lief er zum Schanzenturm. Jetzt hatte er nicht mal auf Daniel warten können, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Immerhin waren sie nacheinander an der Reihe, da hätte es sich einfach angeboten zusammen den Weg anzutreten. Kurz warf er einen Blick auf den kleinen Bildschirm im Lager, um den einige Springer und Betreuer herumstanden, als er vorbeilief. Gerade sprang Sakuyama, der für diese Bedingungen einen eher schlechten Sprung ablieferte.

Als von der Schanze in den Aufenthaltsraum der Springer oben auf den Schanzenturm geblendet wurde, blieb Domen stehen. Im Hintergrund von Noriaki Kasai konnte er sowohl Stjernen als auch Fannemel ausmachen, von Daniel fehlte allerdings jede Spur. Vielleicht war er ja noch beim Kaffeetrinken mit seiner Mutter. Zumindest hatte dieser Artikel behauptet, dass er das vor den Springen immer tat.

Vor dem Aufzug, der ihn auf den Schanzenturm bringen würde, blieb er stehen und drückte auf den Knopf. Er sah nach oben, während er wartete. Der gigantische Adlerkopf sah majestätisch über die Stadt hinweg, als würde ihn das alles nichts angehen, als wüsste er, dass es mit ihm sowieso niemand aufnehmen konnte. Den würde garantiert niemand nerven, wenn er spontan beschließen würde, zum Leben zu erwachen, dachte Domen, als der Aufzug plingend verkündete, dass er einsteigen konnte.
Ungeduldig wartete er, dass sich die Türen endlich schlossen. Vielleicht war Daniel doch schon oben und er hatte ihn nur nicht sehen können. Immerhin hatte die Fernsehkamera keinen 360 Grad Winkel, dachte er, als sich ein paar Skispitzen zwischen die schon fast geschlossenen Aufzugtüren schoben.

„Scheiße, ich bin wirklich spät dran!", fluchte Severin Freund in ungewohnter Manier, als er den jungen Slowenen in seinem gelben Trikot erblickte, sich leicht außer Atem gegen die Wand lehnte und die Augen schloss.

Verwundert sah Domen zu dem Deutschen, der leicht blass um die Nase wirkte. Er dachte an das Gespräch, dessen Zeuge er unfreiwillig geworden war. Das Formtief schien dem Deutschen wirklich stark zuzusetzen und inzwischen schlaflose Nächte bescheren. Dann dachte er an Daniel. Was tat man in so einer Situation eigentlich? Fieberhaft dachte Domen nach, während sich die Stille im Aufzug unaufhaltsam ausbreitete.

„Eigentlich bin ich heute nur mal pünktlich", purzelte es schließlich aus ihm heraus, weil ihm einfach nichts Besseres einfiel. Er würde Daniel garantiert eine große moralische Stütze sein, Eine Stütze, an der sich hervorragend ein Seil aufbaumeln ließ dachte Domen genervt. Severin nickte lediglich und sie setzten ihre Fahrt im Aufzug in einvernehmlichem Schweigen fort.

Daniel war die erste Person, die ihn als eigenständiges Individuum wahrgenommen hatte. Der ihn nicht ständig mit seinem Bruder verglichen hatte, dachte Domen, als sich endlich die Fahrstuhltüren öffneten. Er durfte das nicht versauen.

Nervös und doch voller Vorfreude betrat der Slowene den Aufenthaltsraum der Skispringer und ließ seinen Blick suchend durch den Raum gleiten. Obwohl er es ja schon geahnt hatte, war er enttäuscht, als er feststellte, dass von Daniel noch jede Spur fehlte. Frustriert ließ er sich auf den freien Stuhl neben Peter fallen, der nur kurz zu ihm aufblickte und sich dann sofort wieder in seinen Tunnel begab.

Eine Weile widmete Domen seine Aufmerksamkeit dem großen Bildschirm auf dem sie das Springen verfolgen konnten, bevor er nachdenklich wieder zur Tür starrte. Springer kamen und gingen. Daniel war jedoch nicht dabei. Dann nahm er wieder die große Uhr gegenüber in sein Blickfeld. Seine Finger wanderten unruhig über die Lehne des Stuhls. Daniel war jetzt allmählich wirklich spät dran, was ihm ganz und gar nicht ähnlich sah. Hatte Alex ihn zurückgehalten für ein paar letzte Anweisungen? Oder einer der Assistenztrainer? Hatte er technische Probleme? Beunruhigt wanderte sein Blick wieder zur Tür. Nichts. Da tat sich nichts! Ungeduldig sprang er auf, begann sich zu strecken und zu dehnen, nur um sich davon abzuhalten selbst loszulaufen und zu sehen, was los war.

„Was?", fragte Domen seinen Bruder, der ihn erneut misstrauisch beäugte.

„Nichts... du... zappelst", brachte Peter schließlich hervor, als würde das alles erklären.

„Du meinst, ich halte meine Gelenke warm", gab Domen ungerührt zurück, als sich die Tür des Aufenthaltsraumes öffnete und Daniel den Raum betrat. Erleichtert stieß er ein Seufzen aus und folgte dem Norweger mit seinen Blicken in der Hoffnung, Daniel würde kurz zu ihm herübersehen und ihm eines seiner Lächeln schenken. Stattdessen hielt Daniel den Blick gesenkt und setzte sich in eine Ecke etwas abseits vom Geschehen. Dass Fannemel finster zu Daniel aufgesehen hatte, bevor er den Raum durch die andere Tür, die auf den Sprungturm führte, verließ, bemerkte Domen nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu fragen, wieso Daniel ihm nicht wenigstens einen kurzen Blick zugeworfen hatte. Enttäuscht rutschte der Slowene tiefer in seinen Sitz.

„Schon wieder Krach im Paradies?"

„Was? Nein!", wandte sich Domen überrascht seinem Bruder zu, den er völlig vergessen hatte und konnte es nicht verhindern, dass einmal mehr eine leichte Röte seine Wangen emporkletterte. „Alles in Ordnung." Glaubte er. Daniel war während der Probedurchgänge schon so seltsam abweisend gewesen. Das musste die Nervosität sein und wenn selbst Peter auffiel, dass Daniel sich seltsam benahm...

„Sicher? Irgendwie...ich weiß nicht... Ich meine, was ist das bei euch?", fragte Peter argwöhnisch, der den unsicheren Blick seines Bruders bemerkte hatte, und starrte zu Daniel hinüber.

„Lass das!", zischte Domen und hätte Peter gern persönlich dabei geholfen, seinen Kopf neu auszurichten. „Wir sind hier nicht im Zoo!" Und noch mehr ungewollte Aufmerksamkeit war mit Sicherheit das Letzte, was der Norweger gebrauchen konnte.

„Schon gut! Jetzt krieg dich wieder ein", zischte Peter peinlich berührt und nickte Macej Kot zu, der sein Gespräch mit Piotr Zyla unterbrochen und verwundert zu ihnen herübergeschaut hatte. „Geht es immer noch um den ähm... das Tötungsdelikt?"

„Nein. Der ist vom Tisch. Freispruch sozusagen. Akte geschlossen. Trauma überwunden", wies Domen Peters Vermutung energisch zurück. „Alles bestens." Oder? Wenn er sich Daniel so ansah, dann beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Dasselbe, das ihn schon heute Vormittag und heute Mittag heimgesucht hatte. Aber Daniel hatte ihm versichert, dass nichts war. Nur die Nerven. Es ging hier immerhin um einen möglichen Sieg bei der Tournee, eine der Prestigeträchtigsten Wettkampfserien ihrer Sportart überhaupt. Genau. Das hatte nichts mit ihnen zu tun. Mit ihrer Freundschaft.

„Egal was es ist, das dort", deutete Peter auf den Fernseher, „ ist, glaube ich, gerade nicht sehr förderlich."

Domen, der seine Aufmerksamkeit verlagerte, sah gerade noch die letzten Flugmeter von Anders Fannemel, der bei knappen 114 Metern landete und mit stoischer Miene ausfuhr.

Beklommen saß Domen auf seinem Stuhl und wusste, dass das das Letzte war, was Daniel jetzt mit flatternden Nerven gebrauchen konnte und wenn er eine Bestätigung gewollt hätte, dann hätte ihm eigentlich sein eigener kurzer privater Blick zum Norweger gereicht. Stattdessen flimmerte eine Großaufnahme von Daniel über den Bildschirm. Der Kameramann im Aufenthaltsraum hielt auf den Norweger um seine Reaktion auf den Sprung von Anders einzufangen. Gequält lächelte dieser in die Kamera und versuchte einen unbeschwerten Eindruck zu hinterlassen. Doch stattdessen sah Domen, wie Daniel stocksteif auf seinem Platz saß, seine Fingerknöchel, die sich am Sitz festgekrallt hatten, weiß hervortraten und das Grinsen dem eines psychotischen Clowns ähnelte.

Dieser dämliche Wichser, schoss es Domen wütend durch den Kopf, noch während er aufstand, um sich ausversehen mit Absicht zwischen Daniel und die Kamera zu stellen. Den irritierten und wenig amüsierten Blick von Peter, bekam er dabei gar nicht mit. Zielstrebig schob der junge Slowene sich vorwärts, doch noch bevor er die Kamera erreichte, wechselte die Einstellung erneut und der Fokus des Fernsehbildes lag wieder da, wo er Domen nach hingehörte: bei Fannemel.

Damit stand Domen plötzlich ziellos im Raum. Getränke, Wage, Daniel, ging er seine Möglichkeiten in Blitzgeschwindigkeit durch. Schon im nächsten Moment fragte er sich, warum er eigentlich erst überlegen musste. Warum er so tun sollte, als wolle er nicht zu Daniel. Auch wenn seine Konfrontationstherapie schon erstaunliche Früchte trug, wie er fand, hatte er manchmal das Gefühl, sich doch nicht von der Stelle bewegt zu haben. Aber das war wohl ganz normal. Er konnte immer noch schwer einschätzen, wo bei ihnen die Grenzen lagen. Deswegen hatte heute Vormittag auch dieser Stuss über Silje seinen Mund verlassen. Da hatte er sich vor auf ihn einstürmenden Gedanken kaum retten können. Alle hatten zu der Frage geführt, wieso er überhaupt wissen wollte, wie Daniel gemerkt hatte, dass er schwul war. Konnte ihm ja eigentlich völlig egal sein. Doch egal, wie sehr er es sich einredete, irgendeine falsch verkabelte Schaltzentrale in seinem Gehirn sagte ihm, dass es wichtig war. In letzter Zeit, verstand er sich manchmal selber nicht mehr. Was er allerdings wusste, war, dass Daniel sich jetzt nicht mit seinen abnormen Befindlichkeiten befassen sollte.

„Lahmarsch", setzte er sich, entschlossen seinen Denkapparat abzuschalten, neben Daniel und grinste diesen betont unbeschwert an.

„Prevc", nickte Daniel ihm zu und Domens Grinsen rutschte ein Stück in sich zusammen.

Domen wusste gar nicht, was ihm mehr zusetzte. Sein neuer Spitzname, der klang als wären sie entfernte Bekannte aus einem früheren Leben oder dass Daniel sich sofort wieder abwandte. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte Domen auf den Bildschirm. Tat so, als würde er das Geschehen verfolgen. Dann hielt Domen die Stille nicht mehr aus: „Ist dir eigentlich bewusst, dass der Begriff Skispringen völlig irreführend ist?"

„Häh?"

Ja, Domen konnte Daniels Verwunderung verstehen. Er hatte auch keine Ahnung, wieso er das jetzt zum Besten gegeben hatte. Aber es war allemal besser, als diese stillschweigende Anspannung vorher zwischen ihnen. „Naja, technisch gesehen oder soll ich sagen, physikalisch gesehen, befinden wir uns doch stets in einem Prozess des Fallens", erklärte Domen, erleichtert, dass Daniel sich nicht gleich wieder abwandte, sondern ihm sogar ein kurzes Lächeln über die Lippen huschte.

„Ich hätte dich ja nicht für einen Streber gehalten, Prevc", erklärte Daniel überrumpelt. Wieso erzählte der Slowene ihm das?
„Ich bin eben vielseitig", erklärte er großspurig.

„Wenn du das sagst", brummte Daniel angesichts Domens Lächeln, das nicht wirklich ihm gehörte, betrübt. Hatte Anders in Bezug auf Domen Recht?

Erneutes belastendes Schweigen stand zwischen ihnen. Unruhig rutschte Domen auf seinem Stuhl herum. Er wollte Daniel nicht in seiner Konzentration stören. Und er wirkte tatsächlich gestört. Was Domen eigentlich verstehen müsste. Kurz vor einem Wettkampf. Es sollte ihm nichts ausmachen. Entschlossen, Daniel die nötige Ruhe zu geben, wandte Domen sich ab.

Spring konzentriert. Denk an deine Arme. Kein Rudern. Diese Schanze erfordert Geduld. Das hatte Goran zu ihm gesagt. Er schloss die Augen. Saß auf dem Balken, bereit seinen Ablauf durchzugehen, dann flackerte das Bild. Daniel. Im Wald. Auf einer Lichtung. Sonnenlicht spielte mit seinem blonden Haar. Schmetterlinge umrundeten den Norweger, als alles dunkel wurde. Krähen kreisten über den Kopf des Norwegers. Ratten krochen flink durchs Unterholz. Schatten versperrten immer wieder die Sicht. Schoben sich zwischen sie. Domen lief. Trieb sich vorwärts, während der Norweger wieder von ihm wegdriftete. Sich nach dem rettenden Anker umsah. Er musste schneller sein. Er war zu langsam. Zu weit weg. Dunkle Giganten schossen urplötzlich aus dem Boden. Verzweifelt sah Domen sich um. Hatte keine Ahnung, was hier passierte, als ein Ast ihn packte. Wind peitschte ihm durch seine Haare. Höher immer höher wuchs der Baum, holte aus und schoss Domen über die Baumwipfel hinweg in die Ferne. Er brannte. Versuchte zu entkommen. Der Erdboden kam näher, er schoss durch Zweige hindurch, direkt auf Daniel zu. Daniel, der an einen Baum gelehnt stand. Ihn nicht bemerkte. Vertieft in den Kuss war mit einem schwarzhaarigem Jungen. Panik erfasste den Slowenen. Er wollte das nicht. Was passierte hier? Er musste-

„Hatschi!" - „Gesundheit!"

Erschrocken fuhr Domen hoch. Sein Puls rauschte in seinen Ohren, als würde er immer noch fliegen. Herrgott, er würde sich gleich eine Schanze hinunterstürzen und war so konzentriert wie ein Flummi auf LSD, rief er sich selbst zur Ordnung. Verbannte seinen Tagtraum in die hinterste Ecke, wo er hingehörte.

„Danke!", schniefte Stefan Kraft, nahm seine Skier und ging nach draußen. Auch Daniel neben ihm war aufgestanden, hatte sich bereits seinen Helm und die Brille übergezogen, und lief auf seine Skier zu.

Wieso wollte er allein gehen? Hastig setzte sich Domen sein Zeugs auf. Außer ihnen beiden saß keiner mehr im Raum. Daniel schulterte seine Skier. Domen fummelte mit zittrigen Fingern an seinem Helmverschluss herum. Daniel drehte sich um. Domen zwängte seine verschwitzten Finger in seine Handschuhe. Daniel stand vor der Tür, die Hand an der Klinke-

Scheiß drauf! „Daniel?", rief Domen hastig und der Norweger stockte.

„Ja?"

Einen Herzschlag lang setzte für Domen die Zeit aus. Einen Herzschlag lang, rasten seine Gedanken, waren voll von Daniel. Voll von seinem Kuss, der ihn lähmte. Alles in Besitz nahm. Voll von dunklen bedrohlichen Wäldern. Dann zwang er sich, seinen Kopf wieder einzuschalten. Sich zu beruhigen. Sich in Erinnerung zu rufen, dass es okay war. Dass es nur ein Kuss gewesen war, der ihrer Freundschaft nicht weiter im Weg stand. Oder? Bestimmt.

„Ist- Ähm... Ist alles okay? ... Bei dir?" Zwischen uns?

Angespannt starrte er Daniels Rücken an. Sah, wie er sich aufrichtete. Und dann, zu Domens Erleichterung, nickte. „Ja, alles klar. Die Nervosität. Das übliche eben. Viel Erfolg, Prevc."

Prevc. Tief atmete er durch. Alles okay. „Na, dann. Dir auch, Lahmarsch", erwiderte er und band seine Schuhe zu. Er war viel zu paranoid. Die machten ihn alle völlig irre, dachte er, als die Tür ins Schloss fiel und er allein mit seinem grummelnden Magen zurückblieb.

Seine Skier auf den Schultern ging er nach draußen. Eisiger Wind und strahlender Sonnenschein empfing ihn. Der Stadionsprecher tönte mäßig begeistert von unten herauf. Michael Hayböck schien nur einen passablen Sprung gezeigt zu haben. Er stellte sich in die Reihe der wartenden Springer. Daniels Anzug wurde gerade überprüft. Dann war er mit er Materialkontrolle an der Reihe. Er wartete, bis Michael Neumayer seine Arbeit erledigt hatte. Maciej Kot stieß sich ab und der Stadionsprecher zollte dem Polen Respekt. Der Sprung musste besser gewesen sein, als der des Österreichers.

Als Marus Eisenbichler sich auf den Balken setzte, wandte Domen seinen Blick ab. Geduld. Gefühl. Keine Paddel. Es war alles in Ordnung. Kein Grund so angespannt zu sein. Daniel war lediglich nervös. Es hing für ihn viel von seinem Auftreten ab. Psychologie, rief er sich in Erinnerung. Blieb mit seinem Blick an Daniel hängen, der abwesend nach unten starrte und eindeutig vor sich hin grübelte. Steile Denkfalten zierten seine Stirn.

„Was hältst du von Skyfall, Mr. Möchtegern Agent Lahmarsch? Statt des plumpen Skispringens", lehnte er sich über Daniels Schulter, der sich erschrocken zu ihm umwandte.

„Klingt ausgefallen", war alles, was Daniel angesichts Domens Nähe, die ihn völlig unvorbereitet traf, einfiel. Stefan Kraft, rutschte auf den Balken. Gleich war Daniel selbst dran.

„Nur ausgefallen? Ich bitte dich! Großartig. Paradiesisch. Beeindruckend. Das sind passende Attribute", empörte sich Domen und fragte sich, was er da eigentlich tat. Daniel musste ihn für völlig gestört halten. Lauter Jubel drang zu ihnen nach oben.
Anfeuerungsrufe für den starken Österreicher. Daniel legte seine Skier auf den Boden. Stefan Kraft stieß sich ab. Daniel stieg in die Bindung. Kletterte auf den Balken. Noch lautere Begeisterungsrufe drangen zu ihnen nach oben, inklusive der Versicherung des Stadionsprechers, dass Stefan soeben den bisher besten Sprung des Tages abgeliefert hatte.

Domen richtete seinen Anzug. Beobachtete nervös wie Daniel, seine Brille zurechtrückte. Er ging noch einmal in die Hocke, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Daniel atmete noch einmal tief durch. Die Ampel sprang auf grün. Domen stieg in seine Sprungski und wartete angespannt darauf, dass der Norweger sich abstieß. Hoffte, dass es ein guter Sprung werden würde. Alex senkte die Fahne. Daniel ließ los. Ohne zurückzublicken.

Dann war Domen an der Reihe. Wartete darauf, dass er endlich seinen Kopf abschalten konnte, abschalten musste, um ganz auf sein Gefühl zu vertrauen, dass so wichtig war, um gute Sprünge zu zeigen. Er brauchte kein Lächeln. Daniel hatte genug mit sich selbst zu tun. Es war nicht wichtig. Wieso war es ihm wichtig? Goran senkte die Fahne. Erleichtert stieß Domen sich ab.

Kalter Fahrtwind wehte ihm ins Gesicht. Belebte seine Sinne. Er fokussierte die Kante, als ihm bewusstwurde, dass er gar nicht auf Daniels Ergebnis geachtet hatte. Scheiße, schoss es ihm durch den Kopf, als er zum Sprung ansetzte, weil er es nicht mehr erwarten konnte. Weil sein Gefühl ihm sagte, dass er jetzt springen musste. Voller Vertrauen auf sein Gefühl stieß er sich ab. Lehnte sich nach vorn, ließ sich vom Wind auffangen. Tragen. Dann suchte er seine Position. Bemerkte, dass es sich komisch anfühlte. Dass er es wieder einmal nicht einordnen konnte. Richtete seine Schultern aus, lehnte sich immer weiter zwischen seine Ski. Sah den Erdboden einmal mehr viel zu zeitig näherkommen. Wusste, dass er es wieder nicht geschafft hatte.

Unzufrieden mit sich und allem landete er. Den Telemark setzte er gar nicht erst. Der Anpfiff, den er später von Goran kassieren würde, war ihm schlicht egal. Während er ausfuhr, versuchte Domen einen Blick auf die riesige Ergebnistafel zu erhaschen.
Herauszufinden, ob es Daniel besser ergangen war. Platz... fünf, wenn er das richtig erkannt hatte. Auf jeden Fall einstellig, seufzte er erleichtert gegen den Fahrtwind. Dummerweise bemerkte der Slowene dabei zu spät, dass er zu stark abgebremst hatte, vornüber in den Schnee klatschte und dabei versuchte, seine Talfahrt noch irgendwie zu stoppen. Doch es ging unaufhaltsam abwärts, erst in der Sohle kam er zum Stehen, schnallte seine Skier ab und nahm gezwungenermaßen die Treppen nach oben. Seine Skibrille behielt er auf, zwang sich zu einem verkrampften Lächeln und einem gemäßigten Schritttempo, obwohl er am liebsten schnellst möglichst verschwunden wäre. Nur keine Schwäche zeigen.

Oben angekommen stand Peter immer noch neben dem Ergebnismonitor. Er hatte sich bereits umgezogen, den Rucksack auf den Schultern. Die Skier auf dem Rücken, bemerkte er gar nicht, dass er Stefan und Maciej die Sicht versperrte. Domen lief an seinem älteren Bruder vorbei, zerrte sich in Blitzgeschwindigkeit seine Sachen vom Leib, um sich eine wärmende Jacke anzuziehen. Was war nur los mit ihm, dass Daniel ihn dermaßen aus dem Gleichgewicht brachte?

„Vielleicht solltest du die Gelegenheit am Ablauf mal nutzen, um ein Gespräch mit Michael Neumayer zu führen", tauchte Nejc, der slowenische Co-Trainer, ungebeten neben ihm auf und reichte Domen die Jacke.

„Ich weiß, ich wollte nur-" –

„-deine Unkonzentriertheit wettmachen. Was war los mit dir? Dein Timing war nicht gut, du hast mal wieder die Sportart verwechselt und die Paddel ausgepackt, vom Rest will ich gar nicht erst reden", begann Nejc aufzuzählen und Domen versuchte ruhig zu bleiben. Er wusste, dass es seine Schuld gewesen war. Er war nur so...unruhig.

„Ja, ich...mir hat irgendwie das Gefühl gefehlt. Ich hab meine Position nicht finden können, irgendwie gegen alles gearbeitet...", beschrieb er den Sprung und dabei noch ganz nebenbei seine momentane Gefühlslage. „Das war einfach...vom Absprung weg... Mist."

„Besser hätte ich es nicht beschreiben können, aber beim heiligen Skisprunggott, fang nicht an, den Telemark wegzulassen. Wertungsrichter sind Gewohnheitstiere. Das kostet dich irgendwann entscheidende Punkte", beendete Nejc seine kleine Schimpftirade. Domen war sich sicher, dass auch Goran später noch eine für ihn parat hatte. Es grenzte allein schon an ein Wunder, dass er unbemerkt an Peter vorbeigekommen war. „Dein Glück, dass Ito momentan nicht zu den stärksten zählt. Und jetzt pack zusammen. Abfahrt in zwanzig Minuten."

„Alles klar", nickte Domen ergeben. Gerade hatte er Daniel in der Menge entdeckt. Er gab Silje ein Interview. Lächelte sie an. Fuhr sich in einer selbstbewussten Geste durch seine weichen Haare und lehnte sich dabei lässig an seine Ski. Entschlossen lief Domen zu den beiden hinüber. Er musste jetzt einfach sichergehen, dass Daniel nur nervös war.

„Winnie Pooh Junior heute hast du dir aber keinen Honigtopf verdient", begrüßte Silje den Slowenen gespielt streng, die ihn bereits vor Daniel entdeckte.

„Von wegen. Die Honigweintrauben heute Morgen waren doch ganz klar eiskalte Berechnung. Kein Wunder, dass es die Erdanziehungskraft heute so leicht hatte", scherzte er mit der Blondine und wandte sich Daniel zu. „Vielleicht hab ich deine finsteren Welteroberungspläne doch unterschätzt."

„Ich hab dich gewarnt", erwiderte der Norweger knapp.

„Ja, unser Daniel hier hat es faustdick hinter den- Verdammt, da ist Stefan Kraft! Ohne Mikro vorm Gesicht...", griff sie rein aus Reflex nach Daniels Arm, den das nicht weiter zu stören schien. „Entschuldigt mich, aber ein kleines Statement von ihm würde den Verband sicherlich glücklich machen", eilte Silje geschäftig weiter, blieb jedoch auf halbem Wege noch einmal stehen und drehte sich wieder um: „Achja, holst du mich später gegen sieben ab?"

„Sicher!", rief Daniel ihr hinterher.

„Was macht ihr denn heute Abend?", fragte Domen stirnrunzelnd, dem das glückliche Gesicht von Silje und die vertraute Geste von eben nicht entgangen waren.

„Raw-Air-Vorstellung. Alex will die Werbetrommel rühren", brummte Daniel knapp, während er einfach weiterging.

„Aha. Und ihr geht zusammen, weil ihr befreundet seid und Silje sowieso als Vertreter des Verbandes da wäre?", mutmaßte Domen mit unverhohlener Neugier und einem leichten Hauch der Missbilligung in seiner Stimme, während er Daniel hinterhereilte.

„Keine Sorge. Silje soll mich nur durch das Haifischbecken der Presse lotsen", erwiderte Daniel harsch.

Überrascht vom harten Tonfall der Antwort, blieb Domen wie angewurzelt stehen. Daniel dagegen lief einfach weiter. „Wieso bist du so komisch? Ich hab doch nur gefragt", rief Domen dem Norweger nach, während er sich beeilte zu ihm aufzuschließen.

„Ich...", unsicher sah Daniel ihn mal wieder mit seinem Grübelgesicht an. Sie standen in einer ruhigen Ecke, die Container um sie herum lagen bereits verlassen und dunkel vor ihnen. Im Seitenweg nebenan wurden gerade die Türen eines Autos zugeworfen. Die Lampen, die die Wege säumten, verbreiteten durch ihren Schwachen Schein mehr Schatten als Licht.

„Ist es die Nervosität? Ich meine wegen der Erwartungen und allem? Heute Abend noch mehr Presse und alle wollen hören, dass du die Tournee definitiv gewinnen wirst... Ist bestimmt nicht leicht. Sich dann auch noch rechtfertigen müssen, dass für morgen noch Luft nach oben ist", versuchte Domen einen weiteren Vorstoß, als Daniel nichts sagte.

„Ähm...ja, ich entschuldige...das... Ich kann nichts dagegen machen. Es hat sich einfach in meinem Kopf festgesetzt", griff Daniel Domens Erklärung dankbar auf. Er wusste nicht weiter. Anders Worte kreisten in seinem Kopf wie ein verdammtes Karussell. Ständig sah er Silje und Domen vor sich. Wie Geister, die ihn verfolgten.

„Naja, aber dann ist es doch gut, dass Silje dich begleitet", zwang Domen sich zu sagen, obwohl er völlig anderer Meinung war. Er wollte derjenige an Daniels Seite sein. Er wollte derjenige sein, der half. Er war derjenige, mit dem Daniel Händchengehalten hatte. Nicht Blondie. „Aber sie kann nicht immer da sein", rutschte es Domen ungewollt hinterher. Hastig plapperte er weiter, als er sah, wie Daniel irgendwie in sich zusammenzufallen schien. „Weißt du, ich glaube dein Problem ist, dass du lediglich was falsch verstanden hast-"

„Falsch verstanden?!", hob Daniel verwirrt den Kopf. Die schwache Laterne über ihm verlieh seinen Augen einen intensiven hellgrün funkelnden Farbton.

„Sag ich doch. Statt eines überladenen Gehirns brauchst du einfach nur bleischwere Arme und Beine um sorglos leicht zu springen", erklärte Domen als wäre es das selbstverständlichste der Welt, während er sich fragte, ob seine Schaukel damals im Sandkasten zu nah an der Wand gestanden hatte.

„Häh?"

„Scheintotentherap- Ich meine, Mentaltraining, Lahmarsch", berichtigte Domen sich schnell und kramte nach all den sinnlosen Sachen, die Andrej ihm während des Sommers hatte beibringen wollen. Wenn es Daniel half, dann war er zu allem bereit. „Die Quali...das ist eben jetzt so gelaufen. Morgen ist ein neuer Tag. Und was Anders angeht, das bist nicht du."

„Anders?", nervös fuhr Daniel sich durch seine Haare, irgendwo knackten ein paar Zweige.

„Der Sprung. Das bist nicht du. Das passiert dir nicht. Du bist besser", trat Domen näher zu Daniel. Folgte einem inneren Drang, den Abstand zwischen ihnen zu überbrücken, nachdem ein kalter Windstoß ihn erfasst und ihn zurück in seinen Tagalbtraum versetzt hatte.

„Weiß ich", antwortete Daniel gepresst, der bei den Worten des Slowenen leicht zusammengezuckt war. Was sollte er tun? Mit großen Augen beobachtete Daniel, wie Domen langsam näherkam.

„Dann sind wir uns ja einig", grinste Domen den Norweger zuversichtlich an. Er sah deutlich, die Zweifel in dessen Augen, bevor Daniel den Blick abwandte. Bemerkte an der Falte auf seiner Stirn, wie sie sich langsam ausbreiteten. Zweifel, die absolut fehl am Platz waren. Scheiße, Daniel war einer der besten Springer dieser Saison. Sie hatten beide große Namen des Sports hinter sich gelassen. Er merkte, wie der Norweger sich wieder zurückzog. Abstand zwischen sie brachte, der seltsame Leere bei Domen hinterließ.

Kurzerhand ließ er seine Skier auf den Boden krachen und packte Daniel bei den Schultern, zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. Bei ihm zu bleiben. „Und deswegen schließen wir jetzt die Augen, lassen unsere Körperteile zu Zement werden und bilden uns ein, dass wir irgendwo im Wald stehen", verkündete Domen mit tiefer Stimme und schluckte. „Du bist die Ruhe selbst. Ganz ruhig."
„Chrm... Was ähm... wird das?", fragte Daniel leise, Domen spürte, dass er ein paar Mal tief ein- und ausatmete.

„Autogenes Training? Meditation? Eine außersinnliche Erfahrung?", stammelte Domen und versuchte, das ihm vertraute Gefühl des Verbrennens wieder unter Kontrolle zu bringen. Zu ersticken. Sich nicht in den Abgrund reißen zu lassen. Doch je mehr er sich auf Daniel konzentrierte, desto stärker begann er zu fliegen. Dem Abgrund entgegen aus luftiger Höhe, wo alles im Chaos versank. Vom Hurrikan unerbittlich mitgerissen wurde. „Nerveneinschläferung sozusagen. Weg mit der Nervosität. Weg mit den Zweifeln. Her mit den Siegen", brachte Domen mühsam hervor.

„Her mit den Siegen?", fragte Daniel amüsiert nach. Dabei verzogen sich seine Mundwinkel leicht nach oben. Domens Herz hüpfte wild in seiner Brust und passte sich dem wilden Rauschen seines Pulses an. Die Luft um ihn herum begann zu flimmern. Für einen Moment war er verzaubert. Er liebte dieses Gefühl in Daniels Nähe.

„Jetzt konzentrier dich gefälligst!", versetzte er Daniel einen leichten Klaps auf die Schulter. „Das hier ist eine ernsthafte Angelegenheit", tadelte Domen den Norweger, überließ sich ganz seinem Instinkt. Hörte auf zu kämpfen. Dabei zog er Daniel noch ein Stück näher zu sich. „Also... äh... Wald... da sind überall Bäume... ähm... in grün... und schwere Arme...", fuhr Domen stockend fort, hatte nicht die geringste Ahnung, was er da tat oder sagte. Bezweifelte, dass auch nur irgendetwas Sinn ergab. Außer, dass sie beide hier standen.

Versunken standen sie sich gegenüber. Im schwachen Licht der kleinen Straßenlampen zwischen grauen trostlosen Containern und dem düsterem rauschendem Wald im Hintergrund fühlte Domen sich plötzlich wie auf einer wunderschönen Lichtung mitten im Frühling. „Vögel singen, tanzen um die Äste... lassen sich... vom Wind mitreißen...", beschrieb Domen leise, während seine Hand langsam über Daniels Arm höher wanderte, bis er warme Haut unter seinen Fingern spürte, die er so vermisst hatte. Die sanft über seine Wange gestrichen hatte bis-

„Wieso machst du das?", unterbrach Daniel Domen flüsternd, versunken, verzweifelt, gequält.

„Um dir zu helfen", erwiderte Domen unschuldig lächelnd, um Daniel wieder zu beruhigen. Strich dabei weiter mit seinem Daumen beruhigend über dessen Hals. Hielt ihn fest bei sich, bis sein Gehrn langsam wieder einsetzte. „Aber... ich meine ...ähm... außerdem... ist es doch besser, selbstständig zu sein... Silje wird ja auch nicht ewig Zeit für dich-", blubberte Domen zusammenhangslos. Kaum waren die Worte aus seinem Mund, spürte Domen wie Daniels Schultern zu beben begannen. „Ich meine, dafür sind Freunde doch da", schob Domen verständnislos hinterher, als Daniel sich versteifte und von ihm löste. Zurückwich in die Schatten der Nacht.

„Freunde... Sag mal, ist das eigentlich Absicht?", presste Daniel schließlich leise hervor. Er wirkte, als ob er eigentlich lieber geschrien hätte.

„Was meinst du?"

„Dieses ganze Heiß und Kalt-Spiel. Glaubst du, ich bin so hoffnungslos in dich verschossen, dass ich es nicht merke, wenn du vor meinen Augen mit Silje flirtest?" Daniels Fingerknöchel, die seine Skier fest umschlungen hielten, traten weiß hervor. „Oder versuchst, an Informationen über sie heranzukommen?"

„Was?! Nein! Ich steh nicht auf sie", rief Domen verärgert aus. „Cene hat da was in den falschen-"

„Schieb nicht immer die Schuld auf andere. Es ist auch so mehr als offensicht-" –

„Bist du taub?! Ich würde sie nicht mal mit der Kneifzange-" –

„Hör auf, dich rauszureden! Ist dir eigentlich bewusst, was du da mit mir machst?!", platzte Daniel schließlich heraus.

„Naja, bis eben dachte ich, ich würde dir helfen, aber scheinbar ja nicht", fuhr Domen Daniel an und ließ ihm gar nicht erst weiter zu Wort kommen, sondern machte seinem Ärger Luft. „Scheiße, ich hab dich gefragt, oder nicht? Mehrmals! Ob alles okay ist. Wieso erzählst du dann überhaupt so einen Scheiß, wenn nichts okay ist?! Ich kann nun mal - wie die meisten anderen normalen Menschen übrigens auch - nicht hinter deine verdammte Maske gucken! Oder Gedanken lesen! Das ist nicht meine Schuld!"

„Du hast Recht. Ich... Ich kann das nicht", resigniert atmete Daniel aus und sah nach oben in den wolkenverhangenen Himmel.

„Was kannst du nicht?" Dumpf schlug sein Herz in seiner Brust, schickte harte Schläge durch seinen Körper, während eine Krähe in der Ferne krächzte.

„Das hier. Wir beide. Freunde. Ich kann das so nicht", erwiderte Daniel tonlos, aber entschlossen.

„Warte... machst du etwa Schluss mit mir?!", krächzte Domen fassungslos, als er verstand. „Nach all den schlaflosen Nächten, den Zweifeln und dem Ärger, den ich wegen dir hatte?", steigerte Domen sich in seine Wut hinein, weil es einfacher war, als sich mit dem Schlag ins Gesicht zu befassen, den Daniel ihn gerade mit voller Wucht verpasst hatte. „Nach all den Nerven und der Überwindung, die es gekostet hat, wieder mit dir-"

„Überwindung?", zischte Daniel scharf. „Wenn es so schrecklich für dich ist, Zeit mit mir zu verbringen, dann hättest du es bleiben lassen sollen!"

„Nein! Ich meinte doch nur... Konfrontation mit etwas außerhalb der Norm, das ist nicht so einf-", versuchte Domen ungeschickt zu erklären, was er gemeint hatte, während er alles verschlimmerte.

„Das wird ja immer besser. Ich bin also unnormal, ja?" –

„Argh! Machst du das absichtlich? Ich hab doch nicht-"

„Lass gut sein. Bitte. Du willst hinter die Maske blicken? Schön, aber dann akzeptier auch, dass ich keine Lust habe, länger als dein neustes soziales Projekt herzuhalten, nur damit du nachts besser schlafen kannst, Prevc.", spie Daniel aus und pickte Domen bei jedem einzelnen Wort mit seinen Skiern an die Brust. „Ich kann es einfach nicht fassen, dass du so denkst! Aber hey, du baggerst auch Silje an, während ich danebenstehe, obwohl du genau weißt, was ich empfinde. Ich bin nicht dein Werkzeug, um an deine Herzensdame heranzukommen. Scheiße nochmal, Anders hatte von Anfang an Recht. Ich kann nicht glauben, dass ich so blöd war!", schmetterte Daniel dem Slowenen jedes einzelne Wort entgegen, bevor er sich umdrehte und davonlief.

„Bitte! Dann geh doch! Mir doch egal!", schrie Domen dem Norweger verletzt, wütend und völlig überfordert mit allem hinterher.

„Musst du immer so schreien? Was ist überhaupt los?", tönte es plötzlich hinter Domen.

Erschrocken fuhr Domen herum. „Naja, wenigstens kann man dich so leichter finden", stellte Cene ungerührt fest. „Also, was jetzt? Was hast du angestellt?"

„Wieso ich?" -

„Na ohne Grund wird Daniel wahrscheinlich nicht rumgewütet haben", warf Cene ein und hatte dabei auch noch den Nerv ihn anzugrinsen.

„Ich hab überhaupt nichts- Ich meine, was denkt der eigentlich? Das- Dem kann man eh nicht mehr helfen. Mir doch egal", verschränkte Domen trotzig die Arme. Versuchte die Kälte zu ignorieren, die langsam seinen Körper hochkroch. Die Erkenntnis abzuwehren, die langsam drohte, zu ihm durchzudringen.

„Interessante Ausprägung von egal", grinste Cene ihn an, gab Domen die Möglichkeit, sich an seinem Zorn festzuhalten.

„Ach, und wieso sollte es mich interessieren, welche Komplexe heute schon wieder aus Daniel sprechen?", herausfordernd sah Domen seinen Bruder an.

„Nicht dein Ernst, oder?" –

„Was? Hier denkt doch eh jeder, was er will!", grollte Domen und warf dabei seinem Bruder einen finsteren Blick zu. „Ich meine: Silje. Ernsthaft?!"

„Naja, wieso nicht? Ihr habt euch doch auch gleich so gut-", setzte Cene an, wurde aber im nächsten Moment von Domen wieder unterbrochen.

„Ich bin aber nicht verknallt in Silje", schrie Domen frustriert heraus. „Kapierst du das jetzt endlich mal?!"

„Weiß ich."

„Das ist ja schön, dass du- Warte was?", verwirrt hielt Domen inne. Das war nicht die Antwort gewesen, die er erwartet hatte.

„Ist mir schon klar, dass wir nicht von der hübschen Blondine sprechen" –

„Aber... Was? Ich meine... Du hast doch... Äh... Wieso hast du dann...?", stammelte Domen, fühlte sich, als wäre er gegen eine Wand gelaufen, als er Cenes mitleidigem Blick begegnete, der etwas aus seinem tiefsten Innern an die Oberfläche zerrte, dass einfach nicht sein konnte.

„Na, weil... du... Dir ist schon klar, dass du total in Daniel verschossen bist, oder? ...

Oder?

...

Domen?"

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Quelle des Artikels, den Domen am Anfang liest: http://www.bild.de/sport/wintersport/vierschanzentournee/ich-sterbe-vor-jedem-sprung-49574206.bild.html 

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