28. Daniel - Innsbruck - Tag des Wettkapfes

291 19 2
                                    

   Abwesend starrte er auf die Gebirgskette direkt vor ihm. Wolken hatten sich in den Bergspitzen verfangen. Atmete noch einmal tief durch und ignorierte die eiskalte Luft, die durch ihn hindurchfuhr. Ein letztes Mal überprüfte Daniel, ob sein Helm saß und die Bindung richtig eingeharkt war. Er rückte seine Skibrille zurecht, starrte zu Alex auf dem Trainerturm und wartete. Ein kurzes Grinsen huschte ihm übers Gesicht. Dann sah er wie die norwegische Fahne sich senkte und er stieß sich ab. Ließ sich mitreißen von der Geschwindigkeit, vom Adrenalin, dass durch seine Adern floss. Jeden seiner Sinne schärfte. Und obwohl seine Lippen längst taub vom Fahrtwind waren, konnte er das Kribbeln immer noch spüren.

Unsicher fuhren Hände durch seine Haare. Verhakten sich in ihnen. Schickten Schauer seinen Rücken hinunter. Erstarrt ließ Daniel sich hinabziehen, bis Domens Lippen sich ungeschickt gegen die seinen pressten. Ihm die Luft zum Atmen nahmen. Schmetterlingsschwärme zum Fliegen brachten. Behutsam öffnete Daniel die Lippen, vertiefte ihren Kuss. Wagte es zögerlich, seine Hände auf Wanderschaft gehen zu lassen, um den Slowenen noch ein Stück näher an seinen Körper zu pressen, während der eisige Wind erfolglos an ihren Körpern zerrte.

Weit aufgerissen starrten seine Augen auf den Schanzentisch, der innerhalb von Zehntelsekunden näherkam. Er musste sich zurückhalten, den richtigen Moment abwarten. Dann spürte er den stärker werdenden Druck. Spürte, wie sein gesamter Körper in den Radius hineingedrückt wurde, während es ihm gleichzeitig so vorkam, als würde er berghoch fahren. Das war das Zeichen. Die Kante fest im Blick. Endlich konnte er es seinem Körper erlauben, sich abzustoßen. Sich in die Luft zu katapultieren. Zu fliegen. Den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Ein Ast landete krachend auf dem Boden. Erschrocken fuhren Domen und Daniel auseinander. Starrten sich schwer atmend an, während die Realität auf sie einprasselte. Panik lag in Domens Blick. Überrumpelt starrte Daniel zurück. „Du... hast mich geküsst", stieß er ungläubig aus. Berührte mit seinen Händen seine Lippen, als müsste er überprüfen, ob das was gerade geschehen war, nicht nur irgendeine verrückte Fantasie von ihm gewesen war.

„Ich muss weg." -

„Was? Domen! Hey! Nein! Warte!", schrie er Domen hinterher, wollte den Slowenen zurückhalten, musste wissen, was das bedeutete. „Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen und mich stehenlassen!", rannte er los. Seiner in neongrün gekleideten Hoffnung hinterher. Vollgepumpt mit Adrenalin. Wie ein Feuerwerk, das mitten in der Explosion ausgebremst worden war.

Windböen peitschten ihm ins Gesicht. Fluchend versuchte Daniel seine Beine anzutreiben, während er vor lauter Gegenwind, einfach nicht von der Stelle zu kommen. Dabei ging es hier um... alles.

Und gerade als Daniel erneut durch den Wald schreien wollte, sah er eine rote Jacke zwischen den Baumstämmen aufblitzen. Erinnerte ihn daran, dass jeder sie hören konnte. Dass jeder sie hätte sehen können. Frustriert ließ Daniel Domen ziehen, der mit einem einzigen Kuss seine inzwischen mehrfach unter Beton begrabene Hoffnung wieder rausgesprengt hatte. Ohne Daniel zu fragen, ob er das überhaupt wollte. Unsicher sah Daniel sich um. Sein Herz rannte Marathon. Erst, als er nach fünf Minuten immer noch niemanden entdecken konnte, rannte er zurück ins Springerdorf.

Volles Risiko lehnte Daniel sich nach vorn. Öffnete seine Skier. Lehnte sich gegen den Wind, der ihm Flügel verleihen sollte. Streckte seine Arme leicht nach hinten aus, um die Balance zu halten. Nicht nach vorn zu kippen und eine Bruchlandung hinzulegen. In seinen Ohren toste es. Sein Puls, der Wind, das dumpfe Tosen der Menge verschmolzen miteinander. Unnachgiebig hielt er sein System geschlossen. Entschlossen, sich nicht aus dem Rhythmus bringen zu lassen.

„Wie kommt man bitte auf die Idee, das hier allen ernstes in Angriff zu nehmen?!", schleuderte Anders missmutig seine Skier in die Ecke. Die Kameras um sie herum, waren ihm egal. Sein Probedurchgang war alles andere als gut gelaufen. Die Kombination aus Rückenwind und Innsbruck machte Anders einfach immer zu schaffen.

Hello HurricaneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt