26. Daniel - Innsbruck - Tag der Qualifikation

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Den ganzen Abend über hatte Daniel brav, wie man es von ihm erwartete, Fragen beantwortet, geduldig zugehört, an den richtigen Stellen gelächelt. Kurz: Er hatte all das getan, was von ihm als Sportler auf einer Werbeveranstaltung erwartet wurde. Und eigentlich stach er aus der Menge auch nicht heraus. Er war weder überdurchschnittlich groß oder klein, noch hatte er eine unangenehm laute Stimme oder extreme Positionen, die er vertrat. Die Klamotten, die er trug, waren dieselben wie die, die seine Teamkameraden anhatten. Trotzdem gehörte er nicht dazu. War anders. Fühlte sich wie ein Aussätziger.

Abwesend stand Daniel im Raum. Klassische Musik spielte leise im Hintergrund. Dumpfes Murmeln rauschte teilnahmslos an ihm vorbei, ebenso wie zahlreiche Gesichter, die bedächtig um ihn herumschlichen. Fotos schossen, Stimmen einfingen, Spaß hatten.

Nach all den schlaflosen Nächten, den Zweifeln und dem Ärger, den ich wegen dir hatte? Nach all den Nerven und der Überwindung, die es gekostet hat? Konfrontation mit etwas außerhalb der Norm.

Es war egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Das Stigma des Anormalen klebte an seinen Sohlen so hartnäckig wie Teer. Hinterließ verräterische Spuren egal wohin, egal wie weit er lief. Machte all seine Versuche zu Nichte. Führte ihm vor Augen, dass er nicht entfliehen konnte. Und wenn er doch versuchte, die Rolle des Ola Nordmanns einzunehmen, wurde alles nur schlimmer. Domen hätte sich nie mit ihm eingelassen, wenn er von Anfang an die Maske hätte fallen lassen. Dann wäre Daniels größte Sorge jetzt die Tournee. Dann wäre Silje vielleicht schon längst mit Anders auf dem Weg in den Sonnenuntergang und sein bester Freund würde noch mit ihm sprechen.

Domen hatte ihn wieder aus seiner Traumwelt zurückgeholt. Endgültig. Mit Faustschlägen direkt ins Herz. Nach all den schlaflosen Nächten, den Zweifeln und dem Ärger, den ich wegen dir hatte? Nach all den Nerven und der Überwindung, die es gekostet hat? Hatte San wieder zurückgeholt. Dann werd normal. Mach ne Therapie, denn das, Danny, ist krank. Hatte ihn daran erinnert, dass er anders war.

Daniel wandte sich von der Raummitte ab, weg zum Buffet, das am Rand stand. Gab vor, ein Ziel vor Augen zu haben, weil er Angst hatte, verloren auszusehen. Teilnahmslos ließ er seinen Blick über die hübsch angerichteten Häppchen in weihnachtlicher Aufmachung schweifen. Weihnachten. Da hatte er noch mit seiner Mutter gelacht, ab und an von einem Domen geträumt, der zu schön gewesen war, um wahr-

„Das nenne ich Schicksal! Endlich lernen wir uns persönlich kennen!", schob sich eine Hand enthusiastisch in sein Blickfeld, die in einem dunklen türkisgrünen Stoff mit Silberrandverzierung gekleidet war.

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite", erwiderte Daniel der Schokomousse vor ihm ohne aufzusehen und ergriff die ihm dargebotene Hand, die einem der zahlreichen Journalisten gehören musste. Er hoffte wirklich, dass diese Veranstaltung bald zu Ende war. Er wollte sich verkriechen. Er hatte alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte.

„Das ist nicht zu übersehen", sagte der Unbekannte in einem für Daniel nicht zu identifizierendem Tonfall und brachte den Norweger dazu aufzusehen. Aufmerksame graublaue Augen blickten ihm vertrauensvoll aus einer Streberbrille entgegen.

„Andrej Kos. Freut mich wirklich! Nachdem ich schon so viel von deiner Mutter über dich gehört habe", schüttelte der Slowene ihm weiter überschwänglich die Hand, als Daniels Blick von einem übergewichtigen Mann im Hintergrund abgelenkt wurde. Genauer gesagt von desen Mundwinkeln, die der Journalist, wie Daniel an seinem Presseausweis erkennen konnte, missbilligend- hart an der Grenze zu angewidert- nach oben zog, während er Andrej betrachtete. Zugegeben, dass der dunkelgrüne Stoff, den Daniel vorhin nur ausschnittsweise wahrgenommen hatte, zu einer Art Tunika gehörte, die auf jedem orientalischen Basar bestens reingepasst hätte und dem Mentaltrainer in Kombination mit dem weinroten Schal mittelalterliches Flair verlieh, etwas... exotisch bei einer Veranstaltung wie dieser wirkte, dem konnte auch Daniel nicht widersprechen. Trotzdem war es für den Norweger unbegreiflich, wie man einem Menschen mit so viel Verachtung begegnen konnte.

Andrej, der Daniels abgelenktem Blick gefolgt war, ließ sich von der ihm entgegenwabernden Missbilligung jedoch wenig beeindrucken. „Sehr lecker diese Törtchen, was?"
Entgeistert und offensichtlich mehr als überrascht, überhaupt angesprochen worden zu sein, öffnete und schloss sich der Mund des Pressemenschen ohne Laute zu fabrizieren und erinnerte Daniel dabei stark an einen Fisch auf dem Trockenen.

„Sicher", ertönte es schließlich abweisend. Dabei zeigte er Andrej nicht nur sprichwörtlich die kalte Schulter. Demonstrativ beugte der Reporter sich über das Buffet, weg von Andrej und wollte begierig nach einem der letzten zwei verbliebenem Törtchen auf dem Tablett vor ihm greifen. Doch die Hand des Slowenen war schneller. Unter den ungläubigen Blicken von Daniel und den per Starren übertragenen Morddrohungen des Schreiberlings schnappte Andrej dem laufenden Feinkostgewölbe eiskalt die letzten zwei Törtchen vor der Nase weg und stopfte sie sich in den Mund.

„Ich sag es ihnen, wenn sie die nicht probiert haben, haben sie wirklich was verpasst!", leckte der Slowene sich schmatzend die Finger ab, als wäre nichts gewesen.
Wütend schnaubend zog der Reporter ab und das ehemals freundliche Grinsen auf Andrejs Gesicht wandelte sich zu einem höchst schadenfreudigem. „Also, gelungener Abend, findest du nicht?"

Verdattert angesichts des plötzlichen Themenwechsels, wusste Daniel gar nicht, was er sagen oder tun sollte. „Ähm... ja, doch. Ich meine, scheint gut gelaufen zu sein", stammelte er sprachlos und versuchte immer noch, das gerade Erlebte zu verarbeiten. „Was... ähm... Wieso? Ich meine..."

Gelassen zuckte Andrej mit den Schultern, als hätte sich nicht gerade ein Aasgeier an seinen Eingeweiden zu schaffen gemacht. Daniel jedenfalls hatte sich immer so gefühlt. Er hatte den abfälligen Blick des Reporters nur zu gut gekannt. Blicke, die fragten, mit welcher Berechtigung er eigentlich auf der Welt war. Blicke, die verrieten, dass er auf der Beliebtheitsskala noch unter lästigen Insekten stand. Wachsam sah Andrej ihn aus seinen graublauen Augen an. Verlegen wich Daniel ihm aus, kratzte sich am Kopf, weil er nicht wusste, was er sonst als Ausrede tun sollte, um zu entkommen und sah sich im Raum um. Weitere verstohlene Blicke. Heute schien Vergangenheit lebendig zu werden. Um sich zu beruhigen, schnappte er sich einen von diesen Cupcakes, die direkt vor ihm standen und widmete diesem seine gesamte Aufmerksamkeit. Es war alles okay. Nichts Ungewöhnliches.

„Ich scheine ein wenig für Gesprächsstoff zu sorgen, was?", gluckste Andrej, der den Blicken des Norwegers gefolgt war. „Angriff ist immer noch die beste Verteidigung. Und bei weitem die amüsanteste. Man darf ihnen das Spiel nur nicht überlassen", entgegnete er, als wüsste er genau, was Daniel umhertrieb.

„Aber sie machen doch das Spiel. Das wird nichts ändern. Er wird heimgehen und allen erzählen, was für ein schräger Typ sie sind", blubberte Daniel überrascht seinem Cupcake entgegen, während er das Papier langsam abzog. Das war es, weshalb er sich so ohnmächtig fühlte. Dieses Gefühl gegen Windmühlen zu kämpfen. Er verstand nicht, wieso das bei Andrej anders war. Warum er immer noch lachte. Vielleicht, weil Andrej es sich ausgesucht hatte? Er liebte ganz offensichtlich die Rolle des bunten Paradiesvogels, der den kompletten schwarz-weiß Film sprengte. Andrej konnte es sich aussuchen. Andrej hatte es sich ausgesucht. Daniel konnte das nicht. Hatte nie die Wahl gehabt. Man entschied sich nicht dafür schwul zu sein. Man war es einfach. Hatte keine Chance zu entkommen. Oder?

„Du findest mich also schräg, ja?", schmunzelte Andrej.

„Nein! Ich meine, das war... ähm-", stotterte Daniel verlegen. Schön, dass er mit seinen Gedanken ausnahmsweise mal nicht hinterm Berg hielt. So machte man doch gleich einen viel besseren Eindruck.

„Ach, das ist nicht schlimm. Im Gegenteil. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Das kannst du nicht beeinflussen. Was sie erzählen oder von dir halten. Aber du kannst entscheiden, ob du mitspielst oder dich nur herumschubsen lässt. Und ganz ehrlich: Wenn ich mir die Anzugträger so anschaue... Wer will schon ein Teelichtleben?"

„Teelichtleben?" -

„Naja, immer in seiner Komfortzone bleiben. Nie über den hübsch silberglänzenden Napf hinausschauen. Jede Minute dieselbe öde gelbe Flamme, solange bis der Wachs heruntergebrannt ist. Das ist doch langweilig", sagte Andrej und pustete demonstrativ die Kerzen am Tisch vor ihnen aus. Eine nach der anderen. Die nicht gerade erfreuten Blicke des Hotelpersonals lächelte Andrej einfach weg, während Daniel dem Drang wiederstehen musste, nicht ein paar Meter Abstand zwischen sie zu bringen.

„Dann doch lieber Feuerwerk", fuhr Andrej fort. „Bunt, laut, unverwechselbar und gehen mit einem Knall. Nur eben die XXL-Long-Life-Variante. Normal ist langweilig. Normal ist... ein Konstrukt. Ein Ideal. Nicht existent. Gemacht für Teelichtmenschen, die nicht aus ihrem Metallnapf herauskommen, weil sie Angst vorm richtigen Leben haben und etwas brauchen, woran sie sich klammern können. Also: Wie sieht es aus? Hast du Angst vorm richtigen Leben, Daniel?", fragte Andrej mit beunruhigender Eindringlichkeit, bevor er sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund stopfte.

Nachdenklich starrte Daniel den slowenischen Mentaltrainer an, der sich urplötzlich abwandte und großes Interesse für die Anordnung der Gestecke und Kerzen auf dem Buffet entwickelte. Dabei brummelte er etwas von schlechtem Chi im Raum, was Daniel zu der Frage führte, ob Andrejs Gehirn nicht doch schon einmal zu oft dem Qualm von Räucherstäbchen ausgesetzt gewesen war. Feuerwerk... so ein Blödsinn!

„Da bist du- Oh, Daniel! Hab dich gar nicht gesehen", begrüßte seine Mutter erst Andrej, einen Tick zu überschwänglich für Daniels Geschmack, bevor sie ihren Sohn bemerkte und ihm mit leicht erröteten Wangen einen Kuss aufdrückte. Fragend sah sie im Angesicht des Schweigens hin und her. „Worüber unterhaltet ihr euch denn so angeregt?"

„Ähm-"–

„Die Top Ten unserer Lieblingsbuchstaben", entgegnete Andrej ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich kann einfach nicht glauben, dass dein Sohn den Buchstaben Y nicht einmal in Betracht zieht! Dabei ist er doch so anmutig mit seinen Ecken und Kanten. Ich meine O ist so... langweilig", schüttelte der Slowene bedauernd den Kopf, während Daniel sich beinahe an ein paar Krümeln seines Cupcakes verschluckt hätte.

„Ja, es... ich mag Vokale eben lieber", verteidigte Daniel sich schwach. Normal war nicht langweilig. Normal konnte wunderschön sein.

„Mmmhh... ich weiß nicht... ich habe noch nie drüber nachgedacht, aber ich glaube, ich würde D oder B... vielleicht noch P bevorzugen. Schöne Rundungen und weich... Dann wohl B", beteiligte sich seine Mutter an dem Gespräch und hatte dabei nicht einmal den Anstand, verwundert zu klingen. Daniel kam schnell zu dem Schluss, dass er lieber gar nicht wissen wollte, worüber sie sonst sprachen.

Außerdem hatte er keine Angst vorm Leben. Er war nur vorsichtig. Für ihn hing nun einmal viel von einer blütenreinen Weste ab, dachte er, als lautes Lachen zu ihm herüberschallte. Finster starrte er zu der kleinen Gruppe Journalisten, die ganz in seiner Nähe standen. Silje unterhielt die Männer, die um sie herumstanden, gerade mit irgendeiner ihrer amüsanten Geschichte. Dann begegnete er Anders übellaunigem Blick, der direkt hinter der fröhlichen Gruppe stand. Den ganzen Abend über war der ältere Norweger ihm aus dem Weg gegangen. Hatte nicht ein Wort gesprochen, obwohl er schon mehrere Versuche unternommen hatte, mit Anders zu sprechen. Selbst das Team hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte.

„Hervorragende Wahl, findest du nicht auch, Daniel?", unterbrach Andrej seine Gedanken und lächelte seine Mum liebevoll an.

„Ganz toll", antwortete Daniel abwesend und nahm sich einen weiteren Cupcake. Er müsste wieder nach vorn schauen. Er hatte so lange gebraucht, zu akzeptieren, wer er war. Und er war so nah dran, diesen Teil von sich wieder zu verlieren.

„Wenn du nicht kauen willst, dann nimm dir doch lieber was von der Schokomousse, statt den armen kleinen Cupcake zu massakrieren", stand Silje plötzlich vor ihm und starrte auf seine Hand. Seine Mutter und Andrej waren verschwunden. „Jetzt mal ehrlich, kann von euch Jungs keiner mehr anständig Essen? Tom hat sich gerade von Halvor Weintrauben in den Mund werfen lassen."

Unwillkürlich musste Daniel grinsen. „Tischmanieren werden total überbewertet."

„Traurigerweise hast du damit sogar Recht. Die Pressemeute hat begeistert alles für die Ewigkeit dokumentiert. Wenn Alex das morgen sieht, wird mein Dad ihm wieder stark dosierte Baldriantabletten einflössen müssen", schüttelte die Blonde amüsiert den Kopf und starrte zu den beiden hinüber, die tatsächlich gerade mit mehreren Journalisten um einen Tisch herumstanden. „Aber ehrlich, ich glaube nicht, dass dein klebrig-ekliges Gematsche da großes Entzücken hervorrufen wird", nahm sie ganz selbstverständlich seine Hand, in der er die Serviette mit dem Cupcake hielt und von dem die kleine Cremehaube bereits langsam über seinen Handrücken lief, weil er den kleinen Kuchen unbemerkt zerquetscht hatte.

„Ja, vielleicht", antwortete Daniel, während sein Blick fast automatisch wieder zu Anders glitt. Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da tust? Du spielst, Daniel. Und das nicht gerade fair. Dabei weißt du genau, was sie für dich empfindet! Hastig entzog er ihr seine Hand und senkte den Blick. „Ich mach das schon."

„Oh...ja... ist ja deine Hand", scherzte die Blonde und Daniel sah sie seit langem wieder einmal richtig an. Bemerkte, wie glücklich und arglos sie ihn ansah. Wie verliebt. Scheiße.
„Daniel! Schön, dass ich dich mal allein erwische! Naja... zumindest fast", platzte Dieter Thoma, der deutsche Sportexperte in den Moment von Daniels Erkenntnis, und lächelte Silje verschmitzt an, bevor er sich erneut dem norwegischen Sportler zuwandte. „Gratulation zum Sieg in Garmisch! Das war wirklich ein großartiger Wettkampf!", klopfte er ihm anerkennend auf die Schulter.

Die eingetretene Stille am Tisch zog sich ungewöhnlich in die Länge. „Ich störe hoffentlich nicht?"

„Aber nicht doch, oder Daniel? Wir waren gerade am Überlegen, wer noch nicht überzeugt vom neuen Konzept der Raw-Air scheint", erwiderte sie frech und warf sich die Haare zurück. Sie war wieder ganz in ihrem Element. Der verliebte Blick verschwunden.

„Und da seid ihr ausgerechnet bei mir stehengeblieben?", fragte Thoma belustigt. Der TV-Experte mochte Siljes Art, wie die meisten anderen auch, dachte Daniel und konnte den kleinen Stich der Verbitterung nicht unterdrücken. Sah Domen vor sich. Und San. Beide hielten ihn mit ihren unsichtbaren Fängen gefangen.

„Ist eben schwer bei dem Licht zwischen Sorgen- und Altersfalten zu unterscheiden, oder Daniel?", stieß sie ihm ihren Ellenbogen in die Seite, forderte ihn auf, etwas Sinnvolles zum Gespräch beizutragen. Seinen Job zu machen. Sich nicht nur mit sich selbst zu beschäftigen. Aber was brachte es schon? Was hatte es ihm bisher gebracht?

Lachend bog Dieter Thoma sich zurück. „Da hast du dir aber ne echte Herausforderung geangelt", nickte er ihm anerkennend zu. Automatisch nickte Daniel zurück.

Anders, der plötzlich am Nebentisch stand, richtete sich angespannt auf. Daniel wusste, dass er es richtigstellen musste. Sollte. Trotzdem zögerte er, rutschte ein Stück weiter in die Tiefe und Silje übernahm das Antworten: „Nanana, nur kein falsches Mitleid bitte. Wenn, dann wäre ja wohl ich die Geschädigte. Ich meine, seien wir doch mal ehrlich: Wer sich auf so etwas wie die Raw-Air einlässt und sich auch noch drauf freut, hat sie doch eindeutig nicht mehr alle, oder seh ich da was falsch?"

„Gutes Argument", wandte Dieter Thoma ein und beide Köpfe wandten sich erwartungsvoll Daniel zu.

Nach all den schlaflosen Nächten, den Zweifeln und dem Ärger, den ich wegen dir hatte? Nach all den Nerven und der Überwindung, die es gekostet hat? Für mich ist das echt okay. Das ändert doch nichts. „Ähm... ich...", stammelte Daniel hin und her gerissen. Ich werd schon nicht gleich den Exorzisten rufen. Ist doch okay, auf äh- ... neongrün zu stehen. Du hast genauso ein Recht zu lieben, wen du willst wie alle anderen. Wenigstens einer, der erkennt, dass ich nicht so einer bin. Dann werd normal. Mach ne Therapie, denn das, Danny, ist krank. Das macht dir Spaß, oder? Auf dem Boden rumzukriechen. Mir deinen Arsch hinzuhalten?

„Da hat es ihm wohl glatt die Sprache verschlagen", gluckste Silje unbeschwert, während sie unterm Tisch gegen Daniels Bein trat.

Wenigstens einer, der erkennt, dass ich nicht so einer bin. Naja, seh ich aus, als wäre ich schwul?! Du bist so erbärmlich! Nach all den Nerven und der Überwindung, die es gekostet hat? Nach all den schlaflosen Nächten, den Zweifeln und dem Ärger, den ich wegen dir hatte?

„Ich bin normal", stieß Daniel gehetzt aus, der wusste, dass die beiden vor ihm immer noch auf eine Antwort warteten. Er wollte, dass es okay war. Für sich. Kämpfte darum, wieder er selbst zu werden. Die Version vor Domen.

„Was?", kam es im Gleichklang von Dieter Toma und Silje verwundert. Silje legte ihm besorgt ihre Hand auf den Unterarm. Fragte stumm, was mit ihm los war und entlockte Anders ein verärgertes Schnauben, dass er mehr schlecht als recht als Husten tarnte.

Stumm stierten Daniel und Anders sich über die Köpfe der anderen hinweg an. Jetzt mach dir doch nichts draus. Ist doch okay, auf grün zu stehen. Für mich ist das echt okay. Das ändert doch nichts. Nicht für mich. Jetzt starr mich schon nicht so an! Ich werd schon nicht gleich den Exorzisten rufen. Ist doch okay, auf äh- ... neongrün zu stehen. Und nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe keine Angst, dass große mysteriöse unheimliche S-Wort auszusprechen und mich damit zu infizieren, oder was es da sonst alles so für kranken Scheiß gibt, der da durchs Netz schwirrt.

Grimmig verzog sich Anders Mund. Er schrie. Schrie Daniel stumm an: Fair? Natürlich ist es nicht fair! Die Welt ist nicht fair! Weder zu dir, noch zu sonst jemandem. Das kannst du nicht beeinflussen. Was sie erzählen oder von dir halten. Aber du kannst entscheiden, ob du mitspielst oder dich nur herumschubsen lässt. Er konnte entscheiden. Aber was?

„Naja, ich weiß nicht. Sich mit Anlauf in einen Abgrund zu stürzen und Vögeln Konkurrenz machen zu wollen, ist schon irgendwie... äh... naja, jedenfalls nicht normal", drangen Siljes Worte in Daniels Bewusstsein. Normal.

Hilflos sah er sich um. Blieb ausgerechnet an den Teelichtern im Weihnachtsgesteck vor ihm hängen.

Normal ist... ein Konstrukt. Ein Ideal. Nicht existent. Gemacht für Teelichtmenschen, die nicht aus ihrem Metallnapf herauskommen, weil sie Angst vorm richtigen Leben haben. Hast du Angst vorm richtigen Leben, Daniel? Das kannst du nicht beeinflussen. Was sie erzählen oder von dir halten. Aber du kannst entscheiden, ob du mitspielst oder dich nur herumschubsen lässt.

Andrej spukte durch seine Gedanken. Er konnte es nicht beeinflussen. Hatte er San nicht beeinflussen können, weil er zu schwach gewesen war? Weil er es nicht hartnäckig oder oft genug versucht hatte? Und was war mit Domen? Das kannst du nicht beeinflussen. Aber was konnte er dann beeinflussen?

Teelichtmensch. Vielleicht war er ja ein Teelichtmensch. Silje legte besorgt ihren Arm auf seinen. Aber er hatte zumindest immer gewusst, was richtig und was falsch war. Er war so ein in Selbstmitleid versinkender Idiot.

„Aber genau darum geht es doch", platze Daniel heraus. Löste sich aus Anders anklagenden Blicken und entzog Silje seinen Arm. Kein Herumschubsen mehr, denn darüber konnte er selbst entscheiden. Er konnte entscheiden, ob er sich herumschubsen ließ oder nicht. Darauf hatte er Einfluss. „Grenzen austesten. Normen neu setzen. Vor zweihundert Jahren hätte man Springer wahrscheinlich eingewiesen, wenn sie Weiten über 50 Meter für realistisch gehalten hätten. Man kann nie wissen, wo die Grenzen liegen, wenn man es nicht austestet. Bereit ist, über gesetzte Normen hinaus zu gehen. Das ist der Reiz. Herauszufinden, was wir in der Lage sind zu leisten. Sechs Wettkämpfe in zehn Tagen. Für die Einen Wahnsinn, für Andere die Möglichkeit Grenzen zu verschieben", erklärte Daniel und fühlte sich das erste Mal seit Tagen wieder ein bisschen mehr wie er selbst.

„Gut gesprochen", anerkennend nickte Thoma ihm zu und ihr Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Selbstsicher beantwortete Daniel Fragen zu seiner derartigen Form und seinen Erwartungen bezüglich der weiteren Saison im allgemeinen und der Tournee im Besonderen.

Währenddessen war Daniel die ganze Zeit damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie er die Sache mit Silje und Anders angehen sollte. Als Dieter Thoma sich schließlich bedankte und sich der Abend dem Ende entgegen neigte, sah er seine Chance.

„Mir reichts für heute. Dir auch?", verkündete er und als Silje zustimmend nickte, liefen sie gemeinsam aus dem Conference-Center des Hotels durch verlassenen Flure.

Hello HurricaneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt