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„Märyn, Leon, Pius und Leandra."

Immer wird ihr Name genannt.

Jedes Mal, um nur ein Pflegeelternpaar zu sehen, dass sich doch für ein jüngeres Kind entscheidet, weil die Älteren zu schwierig seien. Nur weil die Älteren meist schon über fünf Pflegefamilien, zu Wutausbrüchen neigen und vielleicht mit der Polizei den ein oder anderen Streit hatten. Die Älteren wären auch ohne die Polizeipräsenz in einer schwierigen Lage, bei der man als Pflegeelternpaar nicht oben von unten unterscheiden kann. Bei der das Kind auf die Regeln im neuen Hause nicht gut zu sprechen ist.

Märyn kann aber nichts dafür, dass sie so "wild" ist, wie der Arzt der therapeutischen Rehabilitationsklinik für strafmündig auffallende Jugendliche sagen würde. Wie sie diesen Arzt am liebsten gegen die nächstbeste Wand gedrückt hätte, ihn zu demütigen, sowie er es mit ihr in der Abschlussvisite getan hätte. Vor versammelter Mannschaft ihn angespuckt, ihm die Hosen herunter gerissen, ihm gar ins Gesicht geschlagen zu haben. Doch sie hat sich gezügelt. Die aufkeimenden, für ihn negativ auffallenden Gefühle in die hinterste Ecke ihres Gehirns verbannt.

Wild.

Was bedeutet eigentlich "wild" für die Erwachsenen?

Ihre Freunde in Jena und München sagen und schreiben ihr jetzt jedes Mal, wenn das Thema anfällt, die Erwachsenen würden sie nur so nennen, weil sie sich wie Tiere benehmen. Wie Wölfe zum Beispiel. Denn Wölfe sind in ihrer Natur wild angelegt, sie reißen Schafe und scheinen anscheinend Spaß daran zu haben. Genau wie bei den Jugendlichen, die Spaß an kriminelle Sachen gefunden zu haben scheinen.

Also Wölfe würden niemals zur Therapie gehen müssen und gesagt bekommen, dass sie die Schule nicht schaffen oder keinen Job kriegen werden, so denkt Märyn jeden Augenblick lang, falls dieses Thema angeschnitten wird. Wölfe würden auch nicht ihre Jungen wie Abschaum behandeln, sondern sie in ihr Rudel integrieren. Später würden sie vielleicht ihr eigenes Rudel anführen, besonders wenn Rivalitäten zwischen Rudeloberhaupt und den jüngeren Männchen auftreten, aber ihr junges Leben hätten sie in einer intakten Familie verbracht.

Der beste Kumpel von ihr hat sich sogar mit Wölfen eine Nacht lang angefreundet, nur um zu zeigen, dass er nicht "wild", sondern eine nette Art und Weise hat. Er machte die Körperverletzung nur, weil er genötigt wurde, sonst ist er nicht schlecht aufgefallen. Er ist so zahm wie ein Lämmchen.

Sie macht sich selber nichts aus dem, was Erwachsene von ihr denken. Sie denkt sich jedes Mal, wenn die ältere Generation sie komisch anblickt:

„Du kannst nicht wissen, warum ich nicht wie ein normaler Jugendlicher bin. Warum ich nicht so sein möchte! Warum ich es nicht kann, ist mein Geheimnis, ist meine Sorge. Es ist meine Welt!"

Doch die Erwachsenen möchten sie am liebsten ändern. Sie möchten das Mädchen am liebsten ändern. Sie möchten es am liebsten einer Gehirnwäsche unterziehen und wie eine Marionette an Seilen hängen sehen. Am liebsten eine 1er-Schülerin mit Medizin-Studium und einer Anstellung an einem renommiertem Uniklinikum.

Ihre Gedanken können sich nur schwer auf die Pflegefamilie konzentrieren, die an einen rundem Tisch sitzt und die Jugendlichen mit Adlersaugen begutachten. An diesem Tisch sitzt Märyn bestimmt schon das siebzehnte Mal, doch jedes Mal ist es ernüchternd. Jedes Pärchen, egal ob jung oder alt, dünn oder stabil gebaut, nehmen ein Kind, das höchstens zwölf Jahre alt und noch nicht strafauffällig geworden ist, bei sich auf. So kann Märyn damit rechnen, dass es diesmal nicht anders enden wird.

Und jetzt sitzen drei unter Vierzehnjährige und eine Siebzehnjährige an dem Tisch. Unter dem Ausschlussverfahren kann man augenblicklich sie zu den Kindern zählen, die nicht genommen werden.

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