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Der Junge hat seine Augen beim Sprung geschlossen gehabt, weswegen er bei der Landung auf den Boden die Augen öffnet. Er kann nicht glauben, dass er eben mit einem Mädchen aus dem ersten Stockwerk der Schule gesprungen ist, und das ohne einen winzigen Kratzer oder eine Beule. Irritiert schaut er sich um, in der Annahme, dass ungebetene Gäste den Sprung gesehen haben, aber sein Blick bleibt hauptsächlich an dem Mädchen kleben, die direkt neben ihm sich befindet. Sie hat ohne Vorwarnung beide in Gefahr begeben, der Sprung hätte auch anders enden können, besonders da er ohne Wissen gesprungen ist.

Sie nickt geheimnisvoll zu ihm, wobei er diese Geste nicht versteht, sich aber denken kann, dass sie etwas macht. Tatsächlich umschlingt sie wieder seinen Arm, den sie gerade eben bei der Landung losgelassen hat, geht wenige Schritte mit ihm nach links, bevor sie losläuft. Ihr Laufen geht fix in ein Rennen über, bei dem Arnim leichte Probleme bekommt. Er ist in seinem Leben noch nie so schnell zu Fuß unterwegs gewesen, dabei möchte er sich eher vor Angst verstecken. So eine Heidenangst spürt er zum ersten Mal.

Märyn läuft ihm in Richtung Wald, dort, wo sich das Versteck von ihr befindet. Beide überqueren in Windeseile Gärten und deren Umzäunung zahlreicher Einwohner der Kleinstadt, rennen über Straßen, als ob ihre Kleidung in Flammen stehen würde. Kurz bevor sie den Wald erreichen, stoppt der Junge abrupt, sodass sie beinahe über ihre Füße stolpert. Da sie den Arm des Jungen nach wie vor im Griff hat, wäre er mit ihr auf den Boden gelandet.

„Musste das sein?"

„Ja."

„Was hast du für ein Problem? Warum gehst du keinen Schritt weiter?"

Arnim antwortet ihr nicht.

„Warum gehst du nicht weiter? Nur noch diese Lichtung, dann können die Wölfe wirklich keine Witterung von uns aufnehmen."

Die junge Frau sieht seine Augen, die Angst ausstrahlen. Keine reine Angst allein, die durch die Tiere in der Schule ausgelöst wurde, sondern die Angst wegen vorhin gemischt mit einer anderen Art Angst. Durch die Intensität dieser Angst tritt sie einen Schritt nach hinten.

„Wovor hast du Angst?"

Der Satz verlässt die Lippen des Mädchens so leise, dass man ihn kaum verstehen kann.

„Ich...ich bin lange nicht mehr im Wald gewesen und..."

Seine Augen fixieren den Boden und die schuhbedeckten Füße auf ihn. Sein rechter Fuß zieht Kreise auf die laubbedeckte Oberfläche.

„Du...du hast Angst vorm Wald? Lächerlich. Das ist lächerlich, wenn man bedenkt, dass du hier aufgewachsen bist. Du hast hier deine ersten zwei Jahre verbracht.", sie untermauert ihre Erklärung durch das Ausbreiten der Arme, „Du bist hier unter diesen Laubdächern geboren worden!"

„Woher möchtest du wissen, wo ich geboren worden bin?"

„Ich weiß es einfach!"

„Das ist jetzt lächerlich! Niemand der klar im Kopf ist, würde sein Kind im Wald gebären! Hier gibt es keine Ärzte, Hygiene oder wenigstens eine Hebamme. Kein normaler Mensch könnte dies tun!"

Der Blick des Jungen entwickelt sich von ängstlich zu empörend, während er spricht. Er kann es nicht glauben, dass jemand freiwillig im Wald gebären will. Und vor allem dass er zwischen Bäumen geboren sein soll.

„Du bist nicht normal, deine Eltern waren es auch nicht. Du bist wie ich und deswegen jagen uns die Wölfe. Sie riechen, dass du einer von denen bist! Einer wie ich, besser gesagt wie das Blut, welches in mir fließt!"

„Was meinst du damit schon wieder? Ich und kein normaler Mensch? Ich verstehe überhaupt kein Wort."

Ohne auf seine Fragen einzugehen läuft sie in die Richtung, in der ihr Versteck liegen soll. Wo die Wölfe angeblich keine Witterung aufnehmen können.

SeelenblüterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt