31 (Lückenfüller)

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Die nächsten Tagen ziehen sich wie Kaugummi. Wie frisch angefangen, zähes Kautschukmaterial, dass man hin und wieder aus Langeweile platzen lässt.

In der Schule wird gefühlt eine Klausur nach der anderen geschrieben, Arnim und Märyn verhalten sich merkwürdig still. Gegenüber sich und auch zu anderen Mitmenschen. Manche fragen sich schon, ob es einen Vorfall gegeben hat, der beide umgepolt und zu stillen Stubenhockern gemacht hat. Doch die zwei Jugendlichen hängen mit ihren eigenen Gedanken für sich allein, selbst die Nachmittage im Versteck verlaufen nicht wie sonst, sondern still und ruhig.

Kein Training setzt das Mädchen an, der Junge verlangt nach keinem. Es ist so, als seien die vergangenen Wochen an ihnen vorbeigegangen ohne eine Auswirkung zu haben. Als würde es zwar Seelenblüter geben, doch niemand schert sich um sie.

„Was hast du bei 3? Ich verstehe die Aufgabenstellung kein Stück."

Arnim schaut von seinem Blatt hoch, auf dem er ein Porträt von Carolin anfängt. Märyn kann gerade so einen Blick auf das Kunstwerk erhaschen.

„Was malst du da? Ich dachte, du machst Mathe und kannst nicht so etwas tolles", hinterfragt sie spitz. Zum ersten Mal an diesem Tag zeigt sie ihre sonst so freche, teils nervige Seite.

„Ist nur eine Kritzelei. Nichts besonderes."

Ihm ist es bisschen unangenehm, dass sie die Zeichnung gesehen hat, da sie vor kurzem ihn drängen wollte irgendetwas zu malen. Und nun zeichnet er in seinen Augen ansehnliche Kleinigkeiten.

Von Porträts bis hin zu Landschaften. Die Landschaften sind meist vom Wald, jedoch malt er sie freiwillig. Das Mädchen stützt sich nun auf ihre Hände, schaut ihn eindringlich an.

„Seit wann machst du das?"

„Was?", der Junge runzelt die Stirn, aber schnallt kurz darauf selber, was sie meint.

„Das Zeichnen? Ähm...", er redet mit nicht gesagten Worten sich um Kopf und Kragen. Märyn verdreht ihre Augen.

„Ich schnauze dich schon nicht an für das Malen. Auch verschone ich dich mit dem Drängen, dein Vergangenheitssehen mit dem aufs Papier bringen zu kombinieren, weil du sowieso Nein sagen würdest."

„Also was das angeht, irgendwie habe ich das schon probiert."

Ihr klappt der Mund auf, weil sie es nicht glauben kann.

„Wann?", ist das einzige Wort, welches sie mit Mühe und Not herausbringen kann.

„Vor wenigen Wochen. Nie hätte ich mir erträumen können, dass dies etwas für mich ist, aber manchmal kann ich gute Bilder machen, die mehr als Strichmännchen und Lutscherbäume sind", sagt er fröhlich. Nun ist er derjenige, der das gewisse Funkeln in den Augen hat.

Um sein neues Hobby zu zeigen, holt er ein kleines Büchlein heraus, in dem kleine Abbildungen vom Wald oder seiner Familie sind. Nur hin und wieder befinden sich Fotos bei den Zeichnungen, die offensichtlich Vorlagen sind, doch sein Talent braucht keine. Egal ob Mensch oder Landschaft, er macht es wie ein Profi.

Doch etwas wundert Märyn.

„Wieso sind manche Bilder unvollständig?", fragt sie, nachdem beide ans Ende angelangt sind.

„Das ist wegen den Kopfschmerzen, die dann kommen und weiter kann ich nicht zeichnen. Später habe ich kein Lust mehr auf das, in dem Fall fange ich ein neues an."

Die halbe Erklärung reicht Märyn, obwohl Arnim mit sich hadert, ihr die ganze Wahrheit zu erzählen. Dass er ohnmächtig wird, wenn er die kleinen Meisterwerke anfertigt und danach kommen die Kopfschmerzen, die einen auch umhauen können.

Irgendwie fällt ihm die Wahrheit schwer.

„Stört es dich, wenn du mal was malst, was du früher einmal gesehen hast?"

Ihre Frage klingt kleinlaut, sie möchte ihn nicht zu nahe treten. Vorher hat sie ihm versprochen, keinen Mucks über die Kombination von seiner speziellen Fähigkeiten mit seinem neuen Hobby, allerdings ist sie neugierig wie er etwas aufs Papier bringt.

Arnim überlegt kurz, denn in letzter Zeit sind keine Ohnmachtsanfälle aufgetreten, er konnte ohne Probleme im Unterricht heimlich malen. Allenfalls leichte Schmerzen in der Schläfenregion.

„Von mir aus. Aber das ist das erste und letzte Mal, dass ich vor Publikum etwas mache."

Den schlechten Witz muss für ihn sein, um etwas ruhiger zu werden, die Nervosität abschalten. Papier und einen Bleistift nimmt er zur Hand, fängt einmal mit zarten Strichen an, die mit der Zeit dichter und dicker werden. Zunächst wirkt das Blatt ein wenig chaotisch mit den Strichen, jedoch als er seine Augen schließt und die Szene sich konkret vorm inneren Auge vorstellt, entsteht aus dem Chaos ein beachtliches Bild.

Von Minute zu Minute zeigt sich eine Lichtung im Wald, womöglich nachts, möglicherweise sogar in der einen Nacht. Alles wirkt düster und eine Frau liegt auf den Boden, die halb mit Laub bedeckt. Sofort begreift das Mädchen, dass die Person keine Lebende darstellen soll, die kleinen Flecke um dem Körper stellen Blut dar.

Unheimlichkeit dominiert das Bild, doch mit einer weiteren Person kommt auch Traurigkeit und die Gewissheit, dass es Die Nacht illustriert. Ein kleines Mädchen wird zum Schluss von ihm ihn die Mitte gesetzt, direkt neben der liegenden Frau, die ihre Hand hält und weint. Die zwei gezeichneten Menschen stehen sich wohl sehr nahe, die Trauer um die Tote berührt Märyn.

Emotionen, kleinste Details wie einzelne lose Haarsträhnen und auch die leichte Bewegung der Blätter an den Bäumen lässt er auf dem Blatt Papier, das normale Maße besitzt erkennen.

Keine ganze Stunde dauert es, bis das Blatt gefüllt und Arnim erledigt ist. Vor seinen Augen dreht sich jeder Zentimeter, wobei er mit festhalten des Tisches versucht, den Drehwurm unter Kontrolle zu bringen. Der Stift fällt dabei auf den Boden.

„Arnim, alles gut bei dir?"

Märyn möchte in dem Augenblick, wo der Junge scheinbar erschöpft mit dem Oberkörper auf die Tischplatte sackt, aufstehen und sich neben ihm setzen. Regungslos bleibt er liegen.

„Arnim!"

Schnell bewegt sie sich die paar Mäuschenschritte zu ihm hin, doch dem Jungen fallen die Augen ganz zu. Aufgeregt schüttelt sie an seine Schultern, nichts passiert.

 „Arnim? Bitte schlag die Augen wieder auf. Bitte! Komm zurück zu mir."

SeelenblüterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt