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Nur drei Stunden braucht es, damit Arnims Ehrgeiz geweckt ist. Bei anderen Dingen, die der Junge niemals machen will, dauert der Ehrgeiz länger, um den Jungen dazu zu bringen, was zu machen.

Er sitzt an seinen Schreibtisch, Papier und Stift vor sich liegen und malt. Zunächst wird versucht, keine Kindergartenzeichnungen aufs Blatt zu bekommen, welches eindeutig bis tief in die Nacht geht. Seine Augen picken schon vor Erschöpfung, tapfer und willig hält er aber durch. Etliche Bilder später, die Zusammengeknüllt den Boden verschönern, bedenkt er, dass Märyn erwähnt hätte, dass man seiner Fähigkeit Glauben schenken muss. Daher setzt der Stift erst an, als der Junge die Augen schließt und sich an eine Szene aus seiner Vergangenheit erinnert.

Während er über einen Augenblick aus der Vergangenheit nachdenkt, zeichnet die Hand mit dem Bleistift in ihr wie von selbst, aus einem Impuls heraus. Plötzlich verschwimmt alles um ihn herum, und als er die Augen öffnet, sitzt er mit keiner Faser seines Körpers mehr an dem Tisch in seinem Zimmer. Sitzen tut er sonderlicherweise im Krankenhaus, besser beschrieben in einem Gang, der etwas Farbe an den Wänden hat. Die Augen fliegen zu seinem Vater, der in einer Tür gegenüber der Sitzbank steht und sich anscheinend mit jemanden im Raum unterhaltet. Die Person, die der Junge nicht erblicken kann, übergibt dem Mann ein Bündel, das sich bewegt.

Der Mann, den Arnim sehr vertraut, schreitet mit dem bewegenden Ballen, welches Arme und Beine kurz aufblitzen lässt, somit preisgibt, es handelt sich um einen neugeborenen Menschen, auf ihn zu.

„Arnim, kleiner Mann. Nun bist du großer Beschützer."

Sein Vater übergibt dem Dreikäsehoch, der er in diesem Augenblick zu sein scheint, das Baby in seine Armen, kniet sich zu ihm herunter.

„Arnim, dass ist Carolin. Carolin, dass ist dein großer Bruder Arnim. Sag hallo zu unserem Familienzuwachs."

Carolin öffnet müde ihre kleinen Augen, lächelt den Jungen entgegen. Er streicht dem Baby über Wange und Hand, deren Finger seinen Finger in Beschlag nehmen.

Die Szene, wie seine kleine Schwester als Baby in zum ersten Mal anlächelt, er sie zum allerersten Mal in den Händen halten durfte, diese Szene bringt seine künstlerische, versteckte Ader detailgetreu aufs Papier. Einen Wimpernschlag später kann er für ein paar Sekunden sein Werk begutachten.

Märyn hatte Recht mit dem Zeichnen. Er kann es, allerdings setzt sie einen ungeheuren Druck an ihn aus, sodass er stur an seinen Glauben festhält, dass er dies nicht hinbekommt. Bevor er den Gedanken bekommt, sie anzurufen oder gar ins Bett zum schlafen zu gehen, wird er am Schreibtisch ohnmächtig. Der Oberkörper fällt flach auf die Arbeitsfläche vor ihm, sein Atem setzt kurz aus. Jedoch bleibt er atmend bis zum nächsten Morgen bewusstlos auf dem Schreibtisch liegen.

*

„Du bist fünf Minuten zu spät. Fünf ganze Minuten."

Mit so einer Begrüßung empfängt Jan seinen Kumpel bei sich zuhause. Jans Augen stechen dem Jungen ab, der nach wie vor ausgelaugt von der Ohnmacht von vorgestern Nacht ist.

„Ist doch erst fünf nach zehn."

„Ja, du sagst es. Vereinbart ist zehn, nicht fünf nach."

Der Tag hat gerade einmal angefangen, doch schon ist Arnim bei seinen Freunden unten durch. Was er die Woche über tut, seine Freunde zu ignorieren, um mit Märyn abzuhängen, dafür rechtfertigt sich die Laune von ihnen. Aber bei der abstrusen Geschichte, die er hier und jetzt erlebt, einen geringen Teil schon erlebt hat, wäre jeder von ihnen komisch. Jeder würde die Freunde links liegen lassen, um die Wahrheit herauszufinden.

Beim Betreten des Wohnzimmers am Ende des Flurs wird Arnim noch ein klein wenig herzlicher begrüßt. Mit sarkastisches Hintergrund.

„Na, endlich. Bist du etwa schon am Morgen bei ihr gewesen? Hast 'gelernt', wie du uns zu gerne weismachst?"

SeelenblüterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt