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Märyn wacht schweißgebadet in ihrem Bett zuhause bei ihren Pflegeeltern auf. Diese Situation mit Arnim im Versteck kann sie nicht länger ansehen, deshalb ist sie froh, wenn auch mit schweren Herzen, dass sie ein paar Stunden der traumatischen Sache entfliehen kann. Vom Feld, in dem sie eingeschlafen und bis circa vier Uhr in der Früh gewesen ist, ist sie augenblicklich nach Hause in ihr Bett gegangen. Dort ist sie sofort wieder eingeschlafen. Doch der Schlaf gerade eben mit dem Schlaf auf dem Feld ist keineswegs ausreichend gewesen.

Auch wegen ihren Pflegeeltern ist das Mädchen nach Hause zurückgekehrt. Auf keinen Fall will sie hier weg, an diesem Ort ist ihr Zuhause und rein technisch ist Märyn nie weg gewesen. Ihr Herz lebt tagein, tagaus für Hünxe, ferner hat ihr wahres Wesen die ganze Zeit, seit ihrer Geburt an dem Geburtsort gelebt.

Zu ihren jetzigen Eltern verbindet sie mit jedem neuen Tag eine Verbundenheit, die es bei keinem anderen Elternpaar außer ihren wahren, verstorbenen Eltern gegeben hat. Liebe wärmt ihr teils verletztes Herz auf, dazu prägen Lucie, Nikolas und besonders Arnim bei. In den Heimen hat sie sehr, sehr selten Liebe gespürt.

Leise, mit der Weisheit, dass es ein schönes Frühstück wie an jedem Wochenendtag gibt, tippelt Märyn aus ihrem Zimmer den Flur im Obergeschoss durch, die Treppe hinunter zur Küche. Dort riecht es himmlisch nach Bacon, Eier und Toast. Typisches Samstagsfrühstück in diesem Haus.

Lucie findet sie im angrenzenden Esszimmer am Tischdecken. Gut gelaunt wirbelt die Frau, die schon Oma geworden ist, zu einem Lied der Beatles um den Tisch herum, bis sie Märyn bemerkt.

„Guten Morgen meine Liebe. Ich hoffe, du hast wenigstens etwas gut geschlafen und wenn du zwei Minuten noch warten kannst, dann ist das Essen angerichtet und wir können uns den Bauch vollschlagen. Und falls du Bedenken wegen der reichlichen Menge hast, die ich so gut wie jeden Tag mache, keine Sorge, ich habe heute weniger gemacht. Deinen kleinen Magen am Morgen kenne ich schon und respektiere ihn auch. Ich könnte zwar nicht ohne ein ordentliches Essen am Morgen, aber jeder ist da ja anders."

Ein Strahlen stiehlt sich auf das Gesicht des Mädchens, die Herzlichkeit, die Lucie ausstrahlt, ist für Märyn Balsam. Recht wenig ist das Interesse und der Glaube an einer neuen Familie gewesen, doch nun, wo eine Frau es schaffen möchte eine gute Ersatzmutter zu sein, möchte Märyn niemals weggehen. Adoptieren sei nicht nötig, doch eine jahrelange Beziehung wäre das Schönste.

„Danke für all deine Mühe, Lucie, doch du brauchst mich nicht zu verwöhnen. Jeden Tag bereitest du mir die besten Mahlzeiten zu und jedes Mal verlangst du nichts als Gegenleistung. Ich fühle mich dann immer ein wenig an den Kopf gefahren, jedoch weiß ich, dass ihr mich liebt."

Ohne auf eine Antwort von seitens ihres Gegenübers zu warten umarmt Märyn ihre Ersatzmutter und fühlt sich irgendwie heimeliger als zuvor. Die Frau, die umarmt wird, ist zunächst erstaunt über den Akt der Liebe vonseiten ihrer Pflegetochter, doch sofort breitet sich ein Glücksgefühl im Körper aus.

Frei wie ein ausgereifter Vogel und doch so klein wie ein Küken kommt Märyn mit ihrem Charakter rüber, allerdings ist sie jetzt auf einer Art und Weise zuhause angekommen. So interpretiert Lucie die Akzeptanz und das Nicht-Ausreißen ihrer neuen Tochter, wobei Märyn wirklich nie einen Augenblick in dem Monat hatte, in dem sie weg wollte.

„Ich freue mich, dass du uns alte Knacker eine Chance gibt. Wir sind zwar nicht die Jüngsten..."

„Was laberst du da? Ihr seid die tollsten Eltern, die ich mir vorstellen kann. Meine Echten sind bestimmt froh, dass ich endlich eine so tolle Familie gefunden habe."

Die Umarmung wird gelöst und es zeigen sich Tränen. In jedem Augenpaar, jede Wange im Raum ist nass. Freude überschattet die Sorge um Arnim, jedoch bleibt die grausame Erkenntnis über das Koma in ihrem Hinterkopf.

Als alles Wasser versiegt und die Ärmel durchgenässt sind, setzen sich Lucie und Märyn am gedeckten Tisch. Vorher haben sie noch das Essen aus der Küche geholt, woraufhin die Frauen jetzt genüsslich anfangen zu speisen.

Befremdend befinden sich zwei Hände mit Handschuhen am Tisch, die sich einen kleinen Teller mit den Köstlichkeiten vollschlagen.

„Warum trägst du Handschuhe, meine Liebe? Dafür ist es doch noch viel zu früh und zu warm", fragt Lucie zwischen zwei Gabeln Rührei. Die Wahrheit zu erzählen widerstrebt Märyn, da sie das Geheimnis für immer wahren möchte, weshalb sie leider ihre Beziehungsperson anlügt.

„Mit Farbe habe ich gestern Abend noch hantiert, denn meine Freundin und ich mussten ein Projekt für die Schule machen. Blöderweise ist die Spraydose ausgelaufen und die Farbe lässt sich nur schwer entfernen."

„Deshalb die Handschuhe?", unterbricht sie ihr Gegenüber, weswegen Märyn nur nickt. Das Mädchen kriegt leicht Bammel, dass die Lüge durch ihre unsichere Stimme und Nicht-Weiterführen der Problemhandlung auffliegt, weswegen sie schnell einen Anhang hinterher sagt:

„Grüne Hände sind nicht sehr appetitlich."

Witzig wedelt das Mädchen mit ihren Händen, tut so, als würde sie die Handschuhe ausziehen, die eigentlich die Salbenverbände verdecken.

„Nein, nein, ich glaube dir und Grün an den Händen passt wirklich nicht an den Esstisch. Und deshalb..."

Die Frau steht auf und verschwindet für geraume Zeit aus dem Raum. Während sie was holt, guckt Märyn verstohlen unter den Verbänden.

Ihre Haut hat Blasen gebildet, ist blutunterlaufen und schmerzt zum Teil noch. Allerdings haben sich die Hände ein wenig verbessert aufgrund der Seelenblutsblumen, auf denen sie gelegen hat.

Schnell streift sie den dünnen Pullover und die Handschuhe über, als ihre Ersatzmutter den Raum betritt. Zuerst erblickt Märyn keine Veränderung oder einen Ansatz, warum sie das Zimmer verlassen hat, doch dann stechen ihr die pinkfarbenen Handwärmer ins Auge, die Lucie trägt.

„Warum trägst du jetzt auch solche?", fragt das Mädchen, ist jedoch schon gerührt. Sie kann sich gut vorstellen, weshalb die Person auf der anderen Seite des Tisches auch welche angezogen hat, doch vergewissert sich zur Sicherheit.

„Ich habe meine Alten Winterwärmer herausgeholt, damit nicht nur ein Paar hier am Tisch mit isst. Ist zwar nervig, aber wäre auch nervig, die Einzige mit diesen Ungetüme zu sein, hab ich nicht recht?"

Ein Nicken und ein Lächeln läutet die Stille ein, die beim Frühstück nun herrscht, doch in diesem Moment braucht es keine Worte. Worte würden die Harmonie zerstören.

SeelenblüterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt